20.

Senhor Pontes von der Banco de Portugal lächelte sie alle freundlich an – so schien es. In Wirklichkeit war das Lächeln aber an Sol gerichtet: »Einmal umdrehen, bitte.«

Sol hielt die Wiedergabe ihres heimlich gefilmten Videos an und ging auf Split-Screen, sodass sie jetzt nicht nur sehen konnten, was sich vor ihr ereignet hatte sondern gleichzeitig auch, was in ihrem Rücken passiert war. Und dort machte Pontes sich gerade an der Code-Eingabe zu schaffen.

»Vier Nummern«, kommentierte der Bote Ricardo Cabral, »zoom rein, Sol.«

Der Bildausschnitt wurde schnell größer, das Bild wurde zugleich unschärfer und körniger.

Pontes macht sich an die Eingabe der Kombination. Die Ausgangsposition war 2112.

Pontes verstellte das erste Zahnrad:

»Drei hoch«, sagte Nuno, der Monteur.

»Ja. Und dann drei wieder runter«, sagte Cabral.

»Stimmt. Der tut vor Sol nur so, als würde er die Zahl verändern, aber er kehrt zur ursprünglichen zurück.«

»Und jetzt das zweite: vier runter«, zählte Sol.

Nuno Vieira beugte sich weit vor und kniff die Augen zusammen.

»Und vier wieder hoch. Leute, der verarscht uns.«

»Nein«, mischte Ulisses sich mit ruhiger, tiefer Stimme ein, »die sind zu faul, um das zu ändern, weil sie sowieso den Schlüssel brauchen.«

Schräg gegenüber von ihrer offiziellen Mietwohnung in Faro hatten sich der Monteur Nuno Vieira mit dem lockigen Haar und der Bote Ricardo Cabral eine Airbnb-Wohnung genommen, die alleine über vier Schlafzimmer plus Dachterrasse verfügte.

Nun waren sie zu fünft in der offenen Wohnküche versammelt. Der große Fernseher zeigte das Video, das Sol mit ihrer Brillenkamera aufgenommen hatte. Die rückwärtige Aufnahme stammte von einer zweiten Minikamera, die in einer Haarspange versteckt war.

Sie hatten sich auf der Couch und den Sesseln verteilt.

César stand an der Küchentheke und mixte ihnen gut gekühlten Tomatensaft mit einem Schuss Tabasco. Und sah sich Sol an, die vorne am Bildschirm saß, die Fernbedienung in der Hand. Er würde sie heute Nacht nicht besuchen. Und wenn es ihn all seine Beherrschung kostete. Nicht wegen seines Bruders, mit dem er sich die gemietete Jacht in der Marina als Schlafplatz vor dem Coup teilte, sondern um in ihren Augen interessant zu bleiben. Um nicht das zu tun, womit Sol rechnete.

Ulisses hatte in einem Sessel rechts zum Balkon Platz genommen.

Er war wie immer still. Nicht abwesend, sondern konzentriert.

»Und wenn der Code an unserem Tag doch ein anderer ist?«, fragte Cabral.

»Dann holen wir ihn zu Hause ab und lassen ihn das selbst einstellen«, sagte César mit einem Grinsen, das verriet, dass er das tatsächlich tun würde.

»Und wie soll das unauffällig gehen?«

»Sol wickelt ihn um den Finger«, sagte Nuno breit lächelnd, »das macht die mit links.«

Er und Cabral blickten sich feixend über die Schulter und sahen Césars grimmigen Blick. Sie schauten umgehend wieder nach vorne, grinsten in ihre Gläser und stupsten sich mit dem Ellbogen gegenseitig an.

»So wird das nicht laufen«, sagte Ulisses harsch und warf seinem Bruder einen seiner gefürchteten verständnislosen Blicke zu, bei dem sein Gegenüber den Eindruck gewinnen musste, minderbemittelt zu sein.

»Und wie dann?«, fragte César, der ausgerechnet vor Sol nicht wie ein dummer Junge dastehen wollte und dem – darüber ärgerte er sich außerdem – keine kluge Replik einfiel. Seine Frage entblößte seine Hilflosigkeit nur, statt sie wie gewünscht zu verschleiern.

»Nicht mit Gewalt. Mit Köpfchen«, sagte Ulisses trocken. »Sol geht zwei Minuten vor Schluss rein. Als letzte Kundin. Und dann«, sprach er sie nun direkt an, »checkst du die letzte Zahl. Und ich wette, es wird immer noch die 2 sein. Nur wenn das nicht so ist, brauchen wir einen. Plan B.«

Sie nickte.

Plötzlich lag es für alle auf der Hand, und sie fragten sich, warum sie nicht selbst darauf gekommen waren.

Ulisses war nicht der gewiefte Schachspieler, seine Züge hatten immer eine gewissen Bodennähe, lieber der schnelle Pragmatismus als der bis in die allerletzte Möglichkeit durchdachte Plan, der ein Jahr lang ausgetüftelt werden musste. Entscheidend aber war: Ihm fiel so etwas immer im richtigen Augenblick ein. Wenn Ulisses Cruz es brauchte.

Er konnte es nicht beeinflussen. Es geschah einfach. Wie eine Fee, die ihn mit einem freien Wunsch versorgte. Und nichts fürchtete Ulisses so sehr wie die Möglichkeit, dass dieses Talent ihm beim nächsten Job einfach abhandenkommen könnte. Denn es unterlag nicht seiner Kontrolle.

Sol startete die Wiedergabe, und alle sahen Pontes dabei zu, wie er die Tür mit dem Schlüssel öffnete, sie aufwuchtete und dann ins Herz der Bank eintrat – in den Raum mit den Schließfächern.

»Stopp mal, was ist das?«

»Was meinst du?«

»Die Tür«, präzisierte Cabral.

Sol stoppte.

César gab einen Schuss, wirklich nur eine hauchdünne Idee, Wodka zum Tomatensaft hinzu, um ihm eine Note Bloody Mary zu geben, bevor er ihn an die anderen verteilte. Dann setzte er sich auf den Sessel, der am weitesten von Ulisses entfernt war und am nächsten bei Sol. Perfekt.

»Danke, Cé«, meinte Nuno.

»Ja, danke, César«, sagte auch Ulisses, bevor er sich an Ricardo Cabral wandte: »Was meinst du genau?«

»Na, wie dick die ist. Bestimmt 30 Zentimeter. Denkst du, die kann man sprengen?«

Nuno schüttelte den Kopf: »Man würde so viel Sprengstoff brauchen, dass das komplette Gebäude gleich mit hochgeht. Unmöglich.«

»Weiter?«, fragte Sol.

Alle vier Männer nickten.

Praktisch zusammen mit Pontes betraten sie den Raum und sahen sich mithilfe der Schwenks, die Sol aufgenommen hatte, nach den Sicherheitssystemen um.

»Stopp!«

Sol stoppte.

Ein schwarzer Punkt an der Decke.

»Zoom, bitte.«

Wieder kam ihnen der Bildausschnitt entgegen.

»Das ist ein Baader-Infrarotsensor an der Decke«, sagte Nuno Vieira, »den müssen wir zuerst ausschalten.«

»Und wie?«, fragte Sol.

Nuno verzog das Gesicht. »Ich überleg mir was.«

»Ein Wärmesensor?«, fragte César.

Nuno nickte: »Reagiert auf Körperwärme. Hochspezielles Teil.«

»Können wir nicht ein Kühlinstrument mitnehmen und die Temperatur auf einem bestimmten Level halten?«, fragte Cabral.

»Darum geht’s nicht«, sagte Nuno. »Das Ding ist kein einfaches Thermometer. Funktioniert wie eine Wärmebildkamera. Der Sensor erkennt Objekte an ihrer Wärmesignatur. Dann müssten wir den Raum nicht runterregeln, sondern rauf, auf komplett 36 oder 37 Grad, sprich Körpertemperatur. Das geht nicht in ein paar Sekunden. Es muss was sein, das in ein paar Sekunden funktioniert.«

»Gut. Du überlegst dir was«, entschied Ulisses mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, dem Widerspruch fremd war, »weiter, bitte, Sol.«

Sol startete die Wiedergabe, zwei Schwenks später hob Ulisses die Hand: »Stopp. Was ist das in den Ecken, Nuno? Bewegungsmelder?«

»Geh mal näher ran, Sol.«

Nuno Vieira stand auf und ging ganz nah an den Fernseher ran. Er zückte sein Smartphone und benutzte die Lupenfunktion, um aus dem Zoom auf dem Schirm noch mehr rauszuholen.

»Ja. Ein Trichy 400. Die sind brandneu.«

»Ist das ein Problem?«

»Jein. Wenn sie einmal laufen, können wir sie nicht ausschalten. Die sind schneller als wir«, erklärte Nuno. »Während der Geschäftszeiten sind die natürlich ausgeschaltet. Aber wenn dein Verehrer, Sol, als Letzter den Tresor dichtmacht und alle die Bank verlassen haben, werden die aktiviert. Dann sind die scharf. Wenn wir die Tür dann nur einen Zentimeter öffnen, schlagen die Alarm. Ist also dein Job, Sol.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»In dem Raum sind aus Diskretionsgründen doch keine Kameras.«

»Behauptet Pontes.«

»Nun, ich seh tatsächlich keine. Ich glaube, die sind echt so blöd. Also: Du gehst ja sowieso noch mal zu deinem Schließfach. Da musst du doch auch einen persönlichen Code extra für dein Fach eingeben, oder?«

Sol nickte: »Drei Ziffern, dann der Schlüssel«, sagte sie und hielt den Schlüssel hoch.

»In einem unbeobachteten Moment sprühst du Haarspray auf die Bewegungssensoren. Geruchloses, klar.« Und als sie ihn fragend anschaute, sagte er: »Vertrau mir. Gibt nichts Besseres für den Zweck. Ist transparent, dichtet aber alles ab. Niemand wird erkennen, dass die Sensoren blind sind. So kommen wir auf jeden Fall schon mal in den Raum, ohne dass die Dinger anschlagen.«

Nuno erntete anerkennende Blicke. Er wirkte immer etwas schlicht, aber das täuschte. Er war ein begnadeter Hacker, und seine technischen Kenntnisse machten ihn zu einem unersetzbaren Teil des Teams, das Ulisses zusammengestellt hatte.

Nuno setzte sich wieder auf die Couch neben Ricardo Cabral und nahm einen Schluck von seinem Drink, prostete César zu: »Perfekte Mischung, Mann.«

»Weiter?«, fragte Sol.

»Dein Job, Ricardo«, sagte Ulisses.

Aus der Perspektive von Sol konnten die Männer nun das Öffnen des Schließfaches und die Beschaffenheit der kleinen Tür und des Innenraums dahinter begutachten, in den Sol den Schmuck ablegte.

»Halt mal an«, sagte Cabral. Wieder fror das Bild ein. Er betrachtete die kleine Tür des Schließfaches.

»Kann ich mal den Schlüssel haben?«

Sie reichte ihn ihm. Cabral hielt das Ende zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte den Bart vor seinen Augen, warf dann wieder der Tür auf dem Display einen nachdenklichen Blick zu, um sich schließlich an Sol zu wenden: »Die Oberfläche des Faches, ist die aus Metall oder aus Kunststoff?«

Sol senkte den Blick, um sich zu konzentrieren. Sie hatte es berührt, mit den Fingerspitzen der linken Hand über die Oberfläche gestrichen. Und sie war … nicht kalt gewesen.

»Kunststoff.«

»Gut so«, sagte Cabral. »Wenn du erlaubst, würde ich mir den Schlüssel gerne für einen Abdruck ausleihen.« Er grinste breit.

Sol drückte wieder auf Play. Sie verfolgten ihren und Pontes Weg bis zu dem Moment, als sie den Raum verließen und der Bankangestellte die Tresortür schloss.

»Noch irgendwelche Anmerkungen?«, fragte Ulisses.

»Von mir keine«, sagte Cabral.

»Von mir auch nicht«, schloss Sol sich an.

»Nein«, sagte Ulisses knapp. »Nuno?«

»Ich auch nicht, aber …«

»Ja?«

Alle blickten auf ihn. Er strich sich nachdenklich die Locken aus der Stirn.

»Bewegung, Wärme, Licht, Kontakt. Das sind die vier Klassiker. Bewegung und Wärme haben wir. Der Kontakt ist ein Magnet in der Halterung der Tresortür. Kriegen wir über ein Tape neutralisiert, man muss nur schnell sein. Noch einmal genau anschauen sollten wir uns allerdings …«

»Den Faktor Licht«, beendete Ulisses seinen Satz.

»Ja.«

»Dann also von vorne.«

 

Mit höchster Aufmerksamkeit sichteten sie erneut das Band, und César, der sich besonders anstrengte, weil er als Einziger noch nichts Wertvolles beigetragen hatte, wurde tatsächlich fündig. Mitten in einem Schwenk – nur ganz kurz zu sehen, weil Pontes den Sensor dann verdeckte –, beim Hinausgehen.

Kurz vor der Tür. Oder genauer gesagt: darüber.

»Natürlich«, sagte Nuno, »über der Tür, im Rücken sozusagen angebracht, wenn man den Raum betritt.«

Es dauerte keine Minute, dann war auch dieses Sensormodell mithilfe von Zoom und Smartphone-Lupe identifiziert.

»Eine Valk-Gleba 4.0. Die ist extrem empfindsam. Da reicht schon ein diffuses, indirektes Licht, und die dreht auf.«

»Du überlegst dir was?«, vermutete Ulisses.

Zum ersten Mal zögerte Nuno. Das war ungewöhnlich. »Ich glaube nicht, dass mir was einfällt, Ulisses«, sagte er schließlich.

Der ältere Cruz-Bruder nickte bedächtig. Kurz blickte er hinaus auf die Stadt, die Straße, die Menschen. Alles floss vorbei.

»Vielleicht fällt mir was ein«, sagte er dann, als spreche er zu einer unsichtbaren Person dort draußen.

Cabral warf erst Sol, dann César einen fragenden Blick zu. Stimmte was nicht mit ihrem Leitwolf?

César hatte Grund, verärgert über seinen Bruder zu sein, aber letztlich war Blut eben doch dicker als Wasser. Das Übliche. Das, was ihr Vater ihnen schon gesagt hatte. Aber auch nur, bis Ulisses zurückgeschlagen hatte. Gerade mal sechzehn, begehrte er gegen die körperliche Züchtigung, die in einer kräftigen Ohrfeige bestand, auf. An diesem Tag hatte der Vater ihn noch besiegt. Aber anderthalb Jahre später hatte das anders ausgesehen. Da war Ulisses doch drahtiger, wendiger, wich aus und griff an wie ein Puma, und es bestand keinerlei Zweifel, dass es dieses Mal entschieden werden wollte, dass Ulisses siegen oder halb tot geprügelt werden musste. Und Ulisses siegte und ging.

Vater und Sohn sahen sich erst viel später wieder, als es dem Alten mies ging, als die Leberzirrhose ihn dahinraffte.

Es war das einzige Mal, dass César seinen Bruder als erwachsenen Mann weinen sah. Er weinte, als der Vater ihm vergab. Oder vergab er seinem Vater?

Ja, er war verärgert, aber erhob nicht das Wort gegen Ulisses – nicht vor den anderen.

Im Gegensatz zu Sol.

»Und darauf sollen wir uns verlassen?«

Ulisses schien aus tiefen Gedanken gerissen, doch dann richtete er seine Augen auf sie, er war völlig klar und nickte: »Genau«, sagte er.

Nichts weiter. Und wieder der Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Aber so wollte Sol sich nicht abspeisen lassen. Nuno und Ricardo, die zwar nichts sagten, machten auch keine besonders glücklichen Mienen.

»Und wie sollen wir überhaupt da reinkommen? Das Haupttor ist zu. Der Eingang über das Parkhaus geht nur mit Karten der Mitarbeiter. Stehlen?«

»Drucken«, sagte Ulisses und hielt einen Funkscanner hoch. Ein nur handtellergroßes Gerät mit einer Antenne, über das alle Frequenzen in einem bestimmten Umkreis abgehört werden konnten. Eigentlich ideal für das Abhören von Polizeifunk.

»Ich hab die modulierten Signale des Zugangs beim Betreten von drei Mitarbeitern aufgezeichnet und die entsprechenden Karten im Darknet geordert. Sesam, öffne dich.«

Nuno und Ricardo mussten grinsen – das war eben Ulisses. Immer für eine Überraschung gut.

 

Auf dem Weg zurück zur Marina gingen die beiden Brüder einträchtig nebeneinander her. Sie rauchten und trugen Sonnenbrillen wegen der Helligkeit und weil das für sie und ihre Pläne ohnehin nie eine schlechte Idee war. Sie atmeten den Geruch von Algen ein und von Salz. Es gab Leute, die das störte. Sie mochten das. Sie waren weiter oben im Norden aufgewachsen, im Bairro do Mouraria, dem Maurenviertel von Lissabon. An die fünfzig Nationen hockten da dicht aufeinander. Heute strömten Touristen da hin. Damals wagte sich die Polizei nur ungern hinein in die engen Gassen, zu den Menschen, die so bitterarm waren, dass sie wenig fürchteten, und vor der Polizei hatten sie ganz gewiss keine Angst.

Das Viertel hatte Ulisses gelehrt, dem Kampf wenn möglich auszuweichen. Und wenn das nicht ging, kein Zögern an den Tag zu legen. Erst lernte er diese Lektion, dann César. Der hatte aber das Ausweichen nicht begriffen, der mochte die Konfrontation. Ab einem gewissen Alter (und einem gewissen Ruf) machte man ihnen Platz, wenn sie zusammen durch die Gassen des Bairros gingen.

Als César nach ihrer Videosichtung mit Sol auf dem Balkon gestanden und eine geraucht hatte, hatte sie wie beiläufig gesagt: »Er behandelt dich wie einen kleinen Jungen.«

Sie sagte es ohne jede Aufregung, sie hob dabei nicht mal die Stimme. Sie ließ es beiläufig fallen wie eine Bemerkung über etwas Nebensächliches. Aber doch nicht so nebensächlich, dass sie nicht doch eine Spur Spott hineinlegte und lächelte – über ihn. Kokett zwar und neckend, aber sie lächelte.

»Wann wird der kleine César denn groß genug sein, hm?«, fragte sie und kam näher, strich ihm grinsend über die Brust und gab ihm einen sittsamen Kuss auf die Wange. Und obwohl Sol es auf diese Art verpackte, stand doch klar im Raum: zu Ulisses war sie gewohnt aufzuschauen und zu ihm … eben nicht.

Das Gift dieser kleinen Demütigung entfaltete seine Wirkung in langsamen Dosen. Das spürte er jetzt, als er neben seinem Bruder ging und sie beide schwiegen. Denn es war etwas dran. Sols Spott und seine Ohnmacht vermischten sich zu einem unheilvollen Gebräu.

Als sie den ersten Steg betraten, sagte er deshalb: »Du musst ein bisschen aufpassen, Ulisses.«

»Aufpassen? Inwiefern?«

»Was du sagst.«

Sein Bruder schaute ihn fragend an.

»Als ich das mit Pontes gesagt hab vorhin. Dass ich ihn abhole, damit er die Tür aufmacht, wenn der Code nicht stimmt.«

»Und was hab ich gesagt?«

»Du hast gesagt, wir machen das lieber mit Köpfchen. Ich steh dann nicht besonders gut da, wenn du so was sagst.«

Ulisses blieb stehen und César notgedrungen auch. Und erst da – wie immer im Nachhinein – wurde ihm bewusst, wie Ulisses alleine durch diese Geste schon wieder das Kommando übernommen hatte.

»Weißt du«, sagte er, nahm die Sonnenbrille ab und schob sie ins Haar. »Ich möchte, dass nicht immer alles auf meinen Schultern liegt. Du musst mich ersetzen können, wenn mir was passiert. Das ist wichtig.«

»Wenn was passiert?« César schaute ihn an. Die Vorstellung daran war so unwirklich. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen. Verletzt, ja, das konnte passieren. Aber … Niemals.

»Wenn es mich erwischt. Dann musst du die Nummer zu Ende bringen«, fuhr Ulisses fort, »und alle heil rausbringen. Du musst Pläne machen, César, die Sachen überdenken, ein Auge auf die Jungs haben. Schauen, ob einer nicht bei der Sache ist. Ob einer abspringen will. Ob einer gerade andere Sorgen hat und deshalb nicht voll dabei ist. Du musst zusehen, dass keiner Scheiße baut, wenn’s soweit ist.«

Ulisses legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du musst die richtigen Leute zusammenstellen, die müssen miteinander können. Wie ein Orchester, verstehst du? Du kannst die beiden besten Spezialisten haben, wenn die sich nicht leiden können, geht’s in die Hose. Dann nimm lieber die beiden aus der zweiten Reihe, die miteinander können. Du musst ein offenes Ohr für sie haben. Du musst aber auch sagen, wo’s langgeht. Wenn wir eine Nummer wie oben am Berg haben, dann kannst du keinen an deiner Seite gebrauchen, der wegläuft oder so was. Das Instrument muss am Tag X so fein gestimmt sein, dass jeder Ton sitzt. Danach … ja, danach kann jeder seiner Wege gehen.

Und damit jeder Ton sitzt, muss einer das Kommando haben. Das bin ich. Und das wirst du mal sein. Die Jungs gehen mit dir nur durch dick und dünn, wenn sie Respekt vor dir haben und dir vertrauen. Und wenn du dann sagst, dann hol ich den Pontes selbst ab und der soll das dann machen, dann haben die keinen Respekt vor dir, weil das ein plumper Haudrauf-Vorschlag ist. Sei nicht immer die Axt im Walde, Cé. Denk nach, bevor du den Mund aufmachst.«

Und bevor César darauf etwas erwidern konnte, ging Ulisses einfach weiter. Schon wieder bestimmte er den Zeitpunkt, an dem das Gespräch endete. Aber da fasste César ihn am Handgelenk.

Ulisses blieb stehen, wandte sich zu ihm um. Schaute auf die Hand. Aber César dachte nicht daran, sie wegzunehmen.

»Das ist alles ganz toll, wie du das machst, Ul, aber du sollst mich ab jetzt nicht mehr vor den Jungs so behandeln. Hast du’s?«

Ulisses musterte seinen Bruder, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, bis er glaubte zu verstehen, was los war.

»Kann es sein, dass es hier gar nicht so sehr um die Jungs geht, César?«

Er schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln.

»Lenk nicht ab – du sollst mich vor den anderen nicht dumm dastehen lassen.«

»Das mach ich nicht, das machst du selbst. Du hast einen Trottel-Vorschlag gemacht. Das begreifen die anderen ganz von alleine. Du selbst lässt dich dumm dastehen.«

Der letzte Satz saß. César spürte einen Stich. Er ließ den Arm seines Bruders los.

»Ich bin also dumm? Willst du das sagen?«

Ulisses musterte ihn, seine Körperhaltung. Ganz starr. Wie ein Hund, der plötzlich wie eingefroren steht in der Sekunde, bevor er zubeißt.

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Lass es uns austragen. Jetzt gleich.«

In seinem Blick lag bodenlose Wut.

»Ich schlag mich nicht mit dir, César.«

»Hast du Angst?«, fragte César, aber er kannte die Antwort schon.

Ulisses Cruz schüttelte den Kopf. Nein, es gab eigentlich nichts, wovor er sich fürchtete. Man starb nur einmal – das war beschissen genug. Man musste nicht Dutzende unsinnige Tode davor durchleiden.

»Dann lass es uns austragen.«

»Nein.«

César lauerte, was jetzt passieren würde. Ulisses trat ganz dicht an ihn heran, ihre Nasen trennten nur wenige Zentimeter. Dann nahm er ihn in die Arme.

Und das entwaffnete César von einer Sekunde auf die andere, die ganze Körperspannung wich.

»Wir sind unsere Familie, César, die einzige, die wir haben.«

César schwieg. Schaute seinen Bruder an. Der lächelte.

»Wir sind unsere Familie«, sagte César schließlich.

»So ist es. Wir teilen alles.«

»Alles.«

»Keine Geheimnisse.«

»Keine Geheimnisse.«

Er log.

Sein älterer Bruder log. Sol hatte ihm prophezeit, dass das die Antwort sein würde, und César hatte es nicht geglaubt und Ulisses vor ihr in Schutz genommen.

Aber sie hatte recht behalten. Ulisses wollte ihn ausbooten.