21.

Miguel Duarte setzte den Fuß auf den neuen, alten Grund seines Gedächtnisses am 27. September in Bias do Sul. Und zwar in dem Augenblick, in dem er das ihm zugedachte Besucherhaus betrat. Sie hatten es noch in der Nacht davor mangels einer zündenden Idee Esquerda getauft, was ganz schön klang, aber nichts weiter als links bedeutete. Es war das linke der beiden Besucherhäuschen.

Ein Bett, ein Tisch mit Stühlen und einem Fernseher. Eine Küchenzeile und davon abzweigend ein Badezimmer, über dem Bett ein Stück verglastes Dach, über das man nachts im Bett liegend in den Sternenhimmel blicken konnte. Miguel blieb nach zwei Schritten mitten im Raum stehen. Auch Soraia und Leander verharrten hinter ihm auf der Türschwelle. Duarte öffnete den Mund und die Augen.

Staunen, dechiffrierte Lost den Gesichtsausdruck des Kollegen. Und die Reaktion war durchaus berechtigt. Die Wände waren bis auf den letzten Quadratzentimeter mit Fotos gepflastert. Mit Augenblicken aus Miguel Duartes Leben.

Der kleine Miguel mit Schultüte in Sevilla. An der Hand der Mutter beim Entenfüttern, beim Segeln, mit seinem Bruder auf einer Parkbank, auf einem offiziellen Foto bei einem Abschluss, Arm in Arm, mit der ersten Freundin auf einer Party. Ein Kaleidoskop persönlicher Momente, Dutzende an Erinnerungsauslösern, die Duarte nun bestaunte, als sehe er sich in einem Museum um.

Toninho und Zara hatten die ganze Nacht hindurch geklebt.

»Das bin ich, ja?«, fragte er und schaute auf das Foto, das ihn mit seiner ersten Freundin zeigte.

»Ja.«

Interessiert sah er sich die anderen Fotos an. Das mit der Frau und ihm als Kind.

»Wer ist das?«

»Ihre Mutter.«

Duarte löste seinen Blick von den Fotos und sah Leander an. »Woher haben Sie die Fotos?«

»Von Ihrem Vater.«

Er hatte ihn gestern in Sevilla angerufen und gebeten, ihn mit allen Fotos zu versorgen, die potenziell in der Lage waren, bei Miguel Duarte einen Flash auszulösen.

Miguel ging weiter die Wand entlang, betrachtete nun ein Bild genauer: Ein Mann in einer hautengen Tracht mit prächtiger Schmuckjacke, dessen Haltung enorme Körperkontrolle verriet. Wie eine Studie von da Vinci. Jede Faser gespannt.

Ein rotes Tuch in der Hand.

Ein Torero.

Lost wusste, dass die Stiere die rote Farbe gar nicht sahen, sondern lediglich auf die Bewegung des Tuches reagierten.

»Ist das mein Vater?«

»Ja«, antwortete Soraia und trat neben ihn, »er war Torero.«

»War er gut?«

»Er sagt, er war der Beste.«

»Das klingt so, als sei er ziemlich von sich eingenommen.«

Miguel beugte sich weiter vor. Als wollte er hineinkriechen durch dieses Fenster in seine eigene Vergangenheit.

Plötzlich ein merkwürdiges Rauschen in seinen Ohren.

Dann kam ein bildhafter Splitter im Kopf; Splitter deshalb, weil er schmerzte, weil er durch den Kopf fuhr wie ein kaltes Stück Metall. Das Rauschen schwoll an, es war Jubel. Er brandete auf, und dann war es vorbei.

Duarte starrte auf den Mann auf dem Foto, seinen Vater. Dann wandte er sich um zu Lost und Soraia.

»Ich hab mich an was erinnert«, sagte er dann.

»Das ist gut!«, sagte Soraia mit aufmunterndem Ton.

»Hm«, antwortete Duarte, und es schien, als sei er sich da weniger sicher als sie.

»Torero«, sagte er dann, »in Spanien?«

»Ja.«

Er suchte weiter. Weiter nach einem anderen Foto an der Wand, das vielleicht auch einen Splitter bereithielt.

Aber er war zu erschöpft, um sich so intensiv auf weitere Personen oder Details einzulassen. Ihm brannten die Augen. »Können wir eine Pause machen?«, fragte er.

 

Sie setzten sich an den Pool.

Ein junger Mann mit lockigem Haar und Lederarmband trat in Begleitung einer jungen Frau zu ihnen an den Tisch, Duarte musterte sie konzentriert, konnte sie aber ganz offensichtlich nicht einordnen.

»Ich bin Toninho, das ist Zara, wir kennen uns«, stellte der junge Mann sie vor. Ihn schien etwas zu belasten, er wich Duartes Blicken aus, dann suchte er sie wieder.

»Hallo. Sie müssen verzeihen – ich erkenne Sie nicht wieder.«

»Die beiden haben das Casinha mit all den Fotos ausgestattet, Miguel«, erklärte Soraia.

»Oh, das war sicher viel Arbeit. Herzlichen Dank.«

»Keine Ursache. Wir freuen uns, wenn wir irgendwie helfen können.«

Stille trat zwischen sie. Und während Leander das recht angenehm fand, weil die meisten Gespräche ohnehin zu nicht viel mehr gut waren, als die Ruhe zu stören, erfasste Miguel Duarte, dass es sich um keine natürliche Stille handelte. Er spürte, was Leander entging: Es lag etwas in der Luft.

»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte der junge Mann schließlich. Seine Worte kamen so, als müssten sie durch tiefen Morast gehen. Jedes einzelne kostete Mühe und Kraft.

»Weshalb?«

»Sie sind getroffen worden, als Sie mich in Deckung gezerrt haben.«

Er erklärte, dass es sein erster Tag bei der GNR gewesen war, als Praktikant. Es fiel ihm dabei sichtlich schwer, die Fassung zu bewahren. »Die hatten automatische Waffen und Sie alle nur Pistolen und deshalb wollte ich Ihnen Maschinenpistolen bringen und habe sie bergauf geschleppt …« Er stockte, schaute Duarte an. »Ihnen helfen. Und dann gab es diesen Feuerstoß …« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Es tut mir so leid.«

Zara drückte seine Hand.

Miguel Duarte stand auf und nahm ihn in die Arme. Zara und Soraia stutzten.

»Sie haben Ihr Leben für uns riskiert. Ich bin froh, dass ich Ihres schützen konnte. Machen Sie sich keinen Vorwurf, bitte.«

Die Anwesenden wechselten erstaunte und auch etwas beschämte Blicke: Niemals hätten sie mit so einer Reaktion durch Miguel Duarte gerechnet. Dass er sich in seinem Leben noch einmal anders verhalten könnte, als sie es so gut und häufig unangenehm kennengelernt hatten – arrogant, unempathisch, egoistisch –, hatte niemand für möglich gehalten. Nicht einmal Leander. Aber vielleicht … war es ja gar nicht mehr der Duarte, den sie gekannt hatten.

»Die Espadrilles zu Ihrem Anzug«, sagte er plötzlich. »Warum tragen Sie die, Senhor Lost?«

»Weil sie bequem sind.«

»Ich verstehe. Und der schwarze Anzug?«

»Man hat mir gesagt, dass er mir steht.«

Das war vor rund 20 Jahren gewesen, zur Beerdigung von Herrn Winterberg, dem Heimleiter. Heike hatte es gesagt, nein, ihm ins Ohr geflüstert und ihm dabei ihren mächtigen Busen ins Kreuz gedrückt. An dem Tag, an dem Herr Winterberg von dieser Welt verabschiedet wurde, hatte Leander seine Unschuld verloren. Unschuld war so ein dummer Begriff, schon damals, er implizierte, dass man sich bei den ersten Intimitäten schuldig machte. Wessen? Vor wem?

»Senhor Duarte«, sagte Soraia, »Sie können frei wählen, wo Sie heute Nacht und auch die folgenden Tage verbringen möchten. Wir können Sie gerne in Ihre Wohnung nach Faro bringen. Sie könnten uns jederzeit anrufen, wenn Sie etwas brauchen. Oder Sie können hier im Casinha Esquerda bleiben, solange Sie möchten.«

»Ich möchte gerne hierbleiben«, entschied Duarte ohne zu zögern. »Die Einrichtung ist gemütlicher.«

 

So intensiv sich Graciana, Carlos und Isadora auch die Fotos von Karen Riemann vornahmen, sie fanden keinen Anhaltspunkt.

»Vielleicht hat sie was gesehen, was nicht auf den Fotos zu sehen ist«, vermutete Isadora.

Carlos und Graciana hatten sie am Nachmittag in ihrem Arbeitsbereich aufgesucht, um mit ihr die Fotos zu analysieren.

»Dagegen spricht, dass genau diese Bilder gelöscht wurden«, entgegnete Carlos und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Es muss etwas geben, das wir übersehen.«

»Oder aber«, sagte Isadora Jordão, »der Täter will, dass wir genau das denken. Um uns in eine Sackgasse zu schicken. Und zu vertuschen, worum es eigentlich ging.«

»Von so vielen Eventualitäten krieg ich Hunger«, sagte Carlos.

»Karen Riemann muss etwas gesehen haben, was den unbekannten Mann belastet«, sagte Graciana. »Sonst hätte er sie bestimmt nicht mit Zigaretten traktiert und anschließend ermordet.«

Isadora nickte: »Sicher, ja. Aber wenn ich meine Spuren verwischen wollte, würde ich genau das tun: drei völlig harmlose Bilder aus der Cloud und von dem Handy löschen und damit die Ermittler in den Wahnsinn treiben.«

»Dann sind wir also wieder da, wo wir angefangen haben. Bei null«, sagte Carlos und rieb sich die Augen.

»Was wäre«, begann Graciana, »wenn der Mann doch etwas aus dem Haus von Madame Deveraux gestohlen hat. Und Karen Riemann hat es gesehen.«

»Oder«, sagte Carlos, »sie hat etwas gesehen oder belauscht, was mit dem Überfall auf den Werttransporter am nächsten Tag zusammenhing. Die Route oder so was. Oder die Information, dass sich der Schmuck in dem Fahrzeug befindet.«

Carlos schüttelte den Kopf: »Die Sendung war jedenfalls seit einer Woche angemeldet. Allerdings scheint mir das alles ganz schön aufwendig für die am Ende doch eher überschaubare Beute.«

»So kommen wir nicht weiter.«

Als sei das das Stichwort, klingelte ihr Handy. Eine unbekannte Nummer aus Faro. Sie nahm ab. Es war der Gefängnisdirektor: »Senhor da Silva lässt ausrichten, dass es sich bei dem gesuchten Mann um Gonçalves Amado handelt. Gemeldet in der Rua Misericordia No. 4 in Santo Tirso.«

»Ich würde sagen: Das ging schnell«, sagte Graciana und wiederholte noch einmal laut Name und Meldeadresse. Wie erhofft jagten Isadoras Finger über die Tastatur.

»Obrigada«, sagte Graciana. »War das alles, was er hat ausrichten lassen?«

»Nein. Den Rest würde er Ihnen aber gerne persönlich erzählen.«

»Im Besucherraum? Heute?«

»Nein. Er würde Ihnen das gerne draußen sagen.«

Graciana merkte auf.

»Verstehe ich Sie richtig?«

»Ja. Wenn Sie die Verantwortung übernehmen, hat das meinen Segen. Eine Stunde, nicht mehr.«

»Hat er einen Ort vorgeschlagen?«

»Nein. Ihre Wahl. Was sagen Sie?«

 

Sie wählte das O Castelo, ein etwas in die Jahre gekommenes Restaurant mit dunklem Holzboden und schweren Stühlen. Eigentlich nur eine schmale überdachte Terrasse, direkt am Meer.

Um die Marina herum gab es neuerdings diverse Rooftop-Bars, gerne als oberer Abschluss der mehrstöckigen 5-Sterne-Hotels. Mit Pools und Musik und Cocktails. Das Castelo war gewissermaßen das Gegenteil davon. Man erreichte es nur über ein paar verwinkelte Gassen, niemand, der es nicht kannte, verirrte sich hierher. Die meisten Gäste waren daher Einheimische.

Das Meer war ruhig, als sie an einem der Tische Platz nahmen. Da Silva schaute aufs Wasser und lächelte. In seinen Augen lag diese Prise Schwermut, die aus dem Wissen um die Endlichkeit dieses Besuchs resultierte. Aber es war nur ein Schuss Melancholie, mehr nicht. Viel mehr überwog der Genuss, sich für eine Stunde wie ein freier Mann zu fühlen. Er trug die Kleidung, die er am Tag seiner Einweisung getragen hatte: Jeans, ein bordeauxrotes Hemd, ein dunkelbraunes, leichtes Jackett, alles etwas zu weit geworden. Er sah gut aus, wenn auch etwas aus der Zeit gefallen. Die Mode hatte sich weiterentwickelt.

Carlos hatte über Eck Platz genommen, während Raul und Graciana sich gegenübersaßen. Carlos’ Glock hing an seinem Gürtel, aber Graciana und er wussten, dass sie ihre Dienstwaffen nicht brauchen würden. Ein Fluchtversuch wäre unter da Silvas Würde. Und außerdem würde er ihr Vertrauen nicht missbrauchen.

 

»Was kann ich Ihnen bringen?«, fragte die Kellnerin.

Raul da Silva wies – ganz Gentleman – auf Graciana.

»Ein Wasser.«

»Für mich ein Bier«, sagte da Silva. »Wenn das in Ordnung ist.« Er schaute Graciana an, und sie nickte.

Alkohol war ihm in der Haftanstalt natürlich verboten. Und bei diesem kleinen Ausflug sowieso, aber wer hatte schon Anlass oder gar Absicht, dem Direktor später davon zu berichten?

»Para mim também «, schloss Carlos sich an. Der Wind spielte in seinen Locken. Er zündete sich eine an, bemerkte dann Rauls Blick und trat die Zigarette wortlos an ihn ab. Dann steckte er sich eine zweite an. Mit einem Lächeln sah er dabei zu, wie da Silva den Rauch inhalierte und dann übers Meer blickte und wegen der Sonne die Augen zusammenkniff. Blass war er geworden.

Ein paar Segelschiffe durchquerten die Lagune – zum Atlantik hin oder von dort kommend. Da Silva betrachtete sie kurz, nahm noch einen Zug, dann kam er ohne weitere Umschweife zur Sache. »Der Tote«, sagte er, »Gonçalves Amado, ist aus dem Norden. Ich habe gehört, er ist an mehreren Raubüberfällen beteiligt gewesen. Kannte sich mit Explosivstoffen aus. Gut möglich, dass er es war, der die Hintertür des Transporters aufgesprengt hat. Was wurde verwendet?«

»C4«, sagte Graciana.

»Darauf hätte ich gewettet.« Er ließ den Blick über das Meer schweifen. Atmete die salzige Luft ein, wie um sich all das einzuprägen. »Ich habe gehört«, fuhr er fort, »er ist nicht der Kopf hinter den Jobs. Er wird hinzugezogen, engagiert. Nun ja, er ist tot. Gestorben durch eine Polizeikugel, korrekt?«

»Die Kollegin aus Portimão. Rafaela Romão.«

Da Silva nickte. Die Kellnerin stellte die Getränke ab.

»A nossa saúde «, sagte ihr früherer Chef und hob das Glas. Sie stießen auf ihrer aller Gesundheit an. Raul da Silva trank in langen Zügen. Man hätte nur, dachte Carlos, ein Handyvideo aufnehmen müssen, und es wäre die perfekte Bierwerbung gewesen. Da Silva, der jetzt das Glas absetzte, stand der Genuss ins Gesicht geschrieben.

»Es gibt da jemanden, den ich gerne dazuholen würde«, sagte er dann. »Er weiß mehr über Amado.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Wie lange braucht er?«

»Keine Minute. Er sitzt da drüben, am letzten Tisch.«

Graciana und Carlos blickten hinüber. Ein Mann hob freundlich lächelnd die Hand.

»Wer ist das, Raul?«, fragte Graciana.

»Eusébio. Er ist einer von uns.«

Von uns. Graciana sah, wie Carlos dabei aufmerkte. Von uns. In seinem Innersten empfand Raul da Silva sich also noch immer als einer von ihnen. Als Polizist.

»Und der kennt Amado?«

»Er weiß was über ihn, das euch interessieren wird.«

Graciana sah zu Carlos, der kaum merklich nickte und damit sein Einverständnis erklärte.

»Gut, lass ihn kommen«, sagte Graciana.

 

Der Mann war extrem rundlich, trug eine Nickelbrille und ein weites Hawaiihemd. In der Buchhaltung einer Firma wäre er nicht aufgefallen (abgesehen vom Hemd).

»Ich bin Eusébio«, sagte er. »Darf ich mich setzen?«

Carlos grinste. Er würde ein Monatsgehalt darauf wetten, dass sein Vater Fußballfan war. Eusébio war ein Nationalheiligtum. Alleine 478 Tore in seinen Spielen für Benfica Lissabon. Unerreicht. Cristiano Ronaldo strampelte sich gerade dabei ab, bei den »erzielten Toren während einer WM « mit Eusébio gleichzuziehen.

»Bitte«, sagte er und schob den Stuhl zwischen Graciana und sich zurück, damit er Platz nehmen konnte.

»Möchten Sie auch was trinken?«, fragte die Kellnerin.

»Nein, danke. Obwohl … einen Medronho.«

»Raul?«, fragte Carlos.

Da Silva lächelte und nickte.

»Noch zwei dazu«, sagte Carlos.

»Das sind die Sub-Inspektoren Rosado und Esteves«, stellte da Silva sie vor.

»Erfreut«, sagte Eusébio und lächelte freundlich, deutete auf die Lagune. »Was für ein schöner Ausblick, ich sollte öfter herkommen. Aber … oh.«

Schon standen drei volle Schnapsgläser auf dem Tisch.

»A nossa. «

Die drei Männer tranken, und da Silva lächelte in sich hinein, während ihm vom Rachen bis tief hinab in den Magen die Speiseröhre brannte.

»Gonçalves Amado«, erinnerte Graciana ihn an den Grund seiner Anwesenheit, »was können Sie uns über den erzählen?«

Eusébio nickte und holte tief Luft, denn die brauchte er: »Sagen wir mal so: Ich weiß ein bisschen was über ihn. Er konnte gut mit Sprengstoff, mit Elektrik. War in der Armee. Da hat er das alles gelernt. Auch den Umgang mit Waffen. Soll ein netter Kerl gewesen sein, aber nervös, ein bisschen ängstlich. Typ Mitläufer.«

»Ängstlich inwiefern?«

»Schwache Nerven. Aber man hat ihn nie gekriegt, er war eben immer nur dabei. Nie der Kopf. Wahrscheinlich hat er deswegen auch nie viel verdient bei den Sachen, aber er ist auch immer unterm Radar geblieben, nicht wahr? Kein einziges Mal hat man ihn festgenommen.«

»Und deshalb ist er auch nicht in der Datenbank«, sagte Raul da Silva.

»Wie hast du ihn gefunden?«, wollte Carlos Esteves wissen und zündete seinem ehemaligen Chef und sich selbst zwei weitere Zigaretten an.

»Über die Wäscherei«, sagte da Silva. »Da gab es einen, der meinte, er kennt ihn. Der hat einen Cousin, der in Lissabon einsitzt, und der kannte jemanden, der jemanden kennt – letztlich hat ihn einer aus Porto identifiziert. Die sind zusammen zur Schule gegangen und so. Eindeutig identifiziert, jedenfalls.«

»Und was haben Sie damit zu tun?«, fragte Graciana an Eusébio gewandt.

»Unser Freund hier war verdeckter Ermittler«, sagte Raul, und Eusébio deutete grinsend einen militärischen Gruß an.

Mit einem Schlag war Carlos und Graciana alles klar – der Mann hier war aufgrund seines Erscheinungsbildes für den Job prädestiniert. Verdeckte Ermittler setzten die Polizeibehörden gerne ein, wenn sie es mit kriminellen Netzwerken zu tun hatten, denen sie mit den üblichen Methoden nicht beikamen. Entweder, weil es sich um Familienclans handelte oder um spezialisierte Gruppen aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, die per se das Misstrauen für sich gepachtet hatten.

Um diesen Leuten etwas nachzuweisen, mussten Zeugen, die später die Straftaten vor Gericht bestätigen konnten, in diese Zirkel eingeschleust werden. Mit denselben Methoden, mit denen die Kriminellen arbeiteten: also mit gefälschten Lebensläufen, Pässen. Sozialversicherungsnummern und vielerlei mehr. Einen verdeckten Ermittler irgendwo einzuschleusen, war eine sehr komplexe, kostenintensive und zeitaufwendige Sache. Und ihr Job hochriskant. Sie mussten Stück für Stück das Vertrauen der Kriminellen gewinnen, damit ihre Einschleusung in solch kriminelle Netzwerke gelang. So ein Einsatz konnte sich über Monate ziehen – manchmal über Jahre. Verdeckte Ermittler waren charakterlich daher aus einem ganz besonderen Holz. Und sie waren – wenn möglich – die Unscheinbarkeit in Person.

»Gonçalves Amado war ein Tippgeber «, sagte Eusébio und wirkte auf einen Schlag deutlich seriöser. »Bei einer Nummer im Sommer 2015 in Braga. War nicht landesweit in den Zeitungen, aber für Braga war das schon ein Ereignis. Die haben ein Stellwerk lahmgelegt, deswegen musste ein Zug bremsen und stoppen. Er sollte eine halbe Million Bargeldbestand überführen. Hat er aber nicht.«

»Weil?«, fragte Carlos.

»Weil Gonçalves Amado kalte Füße bekommen hat. Die PJ in Porto hatte ihn wegen Sprengstoffbesitzes festgenommen. Dann hatte er in seiner Wohnung auch noch den Koran rumliegen. Zu der Zeit hat der IS auch seine Anschläge in Europa verübt. Also sind Spezialisten vom Innenministerium gekommen, die haben gedacht, der führt sie zu IS -Anhängern, und sie können dann IS -Zellen hoppnehmen. Dabei war der Koran von seinem Onkel, und Gonçalves hatte ihn unter den Kühlschrank geschoben, weil die Schubfächer immer nach vorne aufgegangen sind. Mit dem Buch hat Amado den Kühlschrank stabilisiert. Und das haben die vom Innenministerium nur so lange geglaubt, bis sie den Sprengstoff gefunden hatten. Also keine IS -Zellen, die vom Innenministerium waren natürlich stinksauer«, Eusébios Augen glänzten vor Vergnügen, »die dachten, sie hätten den großen Fisch an der Angel, dabei hat der Fisch mit dem Koran nur den Kühlschrank abgestützt.«

Er gab ein raues Lachen von sich, und auch Raul da Silva grinste jetzt breit.

»Und weiter?«, fragte Graciana, was die allgemeine Belustigung dämpfte. Ihr stand offensichtlich nicht der Sinn nach solchen Anekdoten. Während Eusébio weitersprach, musterte da Silva sie immer wieder behutsam. Graciana, »sein Mädchen«, die ihr Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, erst in der GNR in Moncarapacho, bis die Sache mit ihrem Vater passierte. Die private Katastrophe der familia Rosado.

 

»Ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern gehen.«

Das war alles, was Raquel Rosado jemals wegen Elias’ Tod über die Lippen kam. Und damit blieb nichts ungesagt, und jedes weitere Wort war überflüssig.

In der Tat gab es in Fuseta niemanden, der Raquel oder Antonio nach der Beisetzung auf Elias angesprochen hatte. Es war eine Wunde, die nie ganz verheilen würde und an deren Vorhandensein sich die Rosados irgendwann gewöhnt hatten.

Nach der Sache war Graciana Rosado zur Kripo gewechselt, zur Polícia Judiciária, und Carlos Esteves folgte ihr binnen Jahresfrist.

Wegen dieses zeitlichen Vorsprungs war sie bis heute seine Vorgesetzte.

Da Silva war immer ein Rätsel gewesen, wie Esteves, der ständig Hunger hatte und Bier trank, verhältnismäßig schlank hatte bleiben können. Vielleicht waren seine undurchsichtigen Frauengeschichten der Grund, denn uneitel war er natürlich nicht. Rauls Blick auf ihn war sanft, er hatte ihn immer gemocht und geschätzt. Vor allem, wie lange er trotz seiner leidenschaftlichen Art ruhig bleiben konnte. Man musste ihn lange provozieren, bevor er aus der Deckung kam, aber wenn jemand Carlos Esteves bis an diesen Punkt getriezt hatte, wuchs danach ganz gewiss kein Gras mehr.

»Und weiter?«, fragte Graciana.

»Die Kollegen haben seine Angst gerochen«, sprang Raul da Silva ein. Und Graciana begriff sofort. Es gab Lügner, die taten den lieben, langen Tag nichts anderes. Sie waren so versiert im Behaupten anderer Wahrheiten, so abgekoppelt von der Wirklichkeit, dass sie beim Lügen nicht ins Schwitzen kamen. Und es gab die, die schwitzten. Offenbar gehörte Amado zur zweiten Gruppe. Und hatte schlecht geblufft. »Wir hatten ja den Sprengstoff«, erklärte Eusébio, und dann haben wir ihm erzählt, wie das Leben so ist in einem überfüllten Gefängnis, und dass man mit den Neuen seine derben Späße treibt. Na ja, alles eben, damit er eingeknickt ist. Und dann hat er vier Leute verpfiffen. Die haben wie geplant den Zug überfallen und sind in eine Falle getappt.«

»Vier Festnahmen«, vermutete Carlos.

Eusébio deutete ein Kopfschütteln an: »Nein, nein. Die waren aus anderem Holz, die haben sich auf einen Schusswechsel eingelassen. Einer starb, einer ist verwundet worden, zwei konnten fliehen.«

»Unerkannt?«, fragte Graciana.

Eusébio nickte.

»Und der Verletzte?«, fragte Raul da Silva. Er wirkte hellwach und fokussiert, war mittendrin, seine Zelle im Gefängnis schien in diesem Moment vergessen zu sein. Das war fast wie früher, wenn er mit Graciana und Carlos im Team gearbeitet hatte.

»Der hat bis zuletzt dichtgehalten. Hatte keine Vorstrafen und ist nach fünf Jahren rausgekommen.«

»Wie heißt er?«

»Hieß. Er ist bei einem Überfall in Salamanca erschossen worden.«

Drei Tote, drei Sackgassen, dachte Graciana Rosado. Gonçalves Amado, der oben am São Miguel sein Leben gelassen hatte. Der am Zug und der in Salamanca. Recht günstig für die beiden Täter vom Zugüberfall, die geflohen waren, denn niemand konnte sie mehr verpfeifen oder belasten.

»Die zwei, die abhauen konnten …«, begann Carlos, aber Graciana grätschte ihm dazwischen: »Sind ja nicht bekannt, oder?«

»Nein«, bestätigte Eusébio.

»Eine Sache interessiert mich doch«, sagte sie und beugte sich vor. »Wenn Sie und Ihre Kollegen damals Gonçalves Amado hochgenommen haben, dann müsste er doch deswegen in der Datenbank hinterlegt sein. Erkennungsdienstlich behandelt wegen Terrorverdachts mit DNA -Probe und allem Drum und Dran – er ist da aber nirgendwo gelistet.«

Eusébio nickte. »Guter Punkt. Des Rätsels Lösung ist, dass die Staatsanwaltschaft in Porto ihm einen Deal angeboten hat. Er sollte über den bevorstehenden Überfall auspacken. Im Gegenzug würde er straffrei davonkommen. Und ohne jeden Eintrag. Juristisch gesehen, hatte er danach wieder eine reine Weste.«

 

Nach einem weiteren Medronho verabschiedete sich Eusébio und fuhr auf einem knatternden Roller davon.

Der Freigang war bereits seit einer guten Viertelstunde überschritten. Carlos und Graciana wechselten einen kurzen Blick. Es fiel ihnen sichtlich schwer, den Schritt zu tun und das Treffen zu beenden, also nahm da Silva es ihnen ab. »Ich glaube, wir sollten jetzt aufbrechen.«

Ihnen allen war klar: ein Hinauszögern würde nichts bringen. Da Silva musste ja doch zurück, so oder so. Und bei aller Vertrautheit und auch echter Sympathie durfte nicht vergessen werden, dass er ein rechtmäßig verurteilter Doppelmörder war.

Carlos stand auf und meinte: »Ich geh mal bezahlen und noch mal austreten. Genießt ihr noch kurz die Aussicht.«

Den kurzen Moment, in dem Graciana mit Raul allein war, nutzte sie, um eine weitere Bitte an ihn zu formulieren. »Die zwei, denen bei dem Überfall mit dem Zug die Flucht gelungen ist«, sagte sie.

»Ja?«

»Ich muss wissen, wer die sind.«