Nachdem Leander Lost ihren neuen Gast fünfmal in Folge beim Memory-Spielen besiegt hatte, gab Soraia ihm zu verstehen, dass es für jemanden, der sein Gedächtnis verloren hatte, niederschmetternd sein konnte, ausgerechnet bei diesem Spiel ständig zu verlieren.
Sie hatte ihn unter einem Vorwand ins Haus gebeten – ein paar Petiscos aus der Küche mit nach draußen zu nehmen –, um ihm das zu sagen.
»Ja, das verstehe ich«, entgegnete Leander.
»Du könntest absichtlich verlieren.«
»Aber das wäre gegen die Regeln.«
Leander liebte Regeln.
»Außerdem bin ich zu ehrgeizig«, fügte er hinzu.
Soraia musste unwillkürlich lächeln. Ein Mann, der nicht lügen konnte!
Seine schonungslose Ehrlichkeit, die vor ihm selbst nie haltmachte, wärmte Soraia auf jene spezielle Weise, die man empfand, wenn man in einem Augenblick wusste, dass der andere der Richtige für dieses Leben war. Beschwingt und gerührt gleichzeitig gab sie ihm einen Kuss auf den Mund.
»Ah, Pimientos del Padrón «, analysierte er den herben, salzigen Geschmack ihrer Lippen. Sie hatte tatsächlich eben von den kleinen, grünen Paprika probiert, kaum größer als ein Zeigefinger, angebraten in Olivenöl und mit Meersalz bestreut.
Sie schauten hinaus und sahen, wie Duarte heimlich unter ein paar verdeckte Karten sah.
»Das ist gegen die Regeln.«
»Vielleicht kann er sie sich nicht merken.«
»Doch«, widersprach Leander, »sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert. Er erinnert sich an die Karten, die wir angehoben haben. Eben nur nicht so gut wie ich.«
»Du bist Eidetiker, du bist im Vorteil.«
»Ja, deswegen spiele ich das so gerne.«
Nach der siebten Niederlage hatte Miguel die Lust verloren. Sein Blick fiel auf die beiden Werke von Dan B. Tucker.
»Das Buch, das Sie da lesen … ›Das Kompendium der sinnlosen Sätze‹. Wozu lesen Sie es, wenn die Sätze sinnlos sind?«
»Um für Small Talk gewappnet zu sein.«
»Zum Beispiel?«
»Schön, Sie zu sehen.«
»Das ist Small Talk?«
»Ja. Man sagt es auch dann, wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Was unsinnig ist, denn es vergeudet Zeit. Zeit ist das wichtigste Gut, über das ein Mensch verfügt, und dieses Gut verliert jede Sekunde an Substanz. Sie für Small Talk zu verwenden, ist streng genommen ein Höchstmaß an Verschwendung. Small Talk soll eine angenehme Gesprächssituation schaffen, aber – um eine Redewendung zu benutzen – wer A sagt, muss auch B sagen, kurz: Small Talk ufert gerne aus. Es kann dazu führen, dass ein Gespräch nicht zu einem Austausch von Information führt – was der Sinn von Kommunikation ist –, sondern zu einem Austausch von Phrasen, sodass das Gespräch am Ende einen semantischen Nährwert von null hat.
Nichtsdestotrotz«, räumte Leander ein, um Dan B. Tucker zu zitieren: »Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Eine angenehme Gesprächssituation für das Gegenüber kann dazu führen, dass es einen eher an einer Information teilhaben lässt als nicht. Für Polizisten gilt das eben in besonderem Maße. Sonst ist die Information, die man erhält, vielleicht nicht das Gelbe vom Ei. Ohne Small Talk bekommt man sonst den Eindruck, das mit einem nicht gut Kirschen essen ist. Auf der anderen Seite führt Small Talk nicht immer geradewegs zum Ziel. Man sollte also den Tag nicht vor dem Abend loben.«
Duarte hörte gebannt zu.
»Schauen Sie mal, Dan B. Tucker hat sogar einen weiteren Band verfasst, mit dem man das Arsenal von Worthülsen um Redewendungen und Metaphern erweitern kann. Ein Appendix: Alte Schweden und blinde Hühner. «
»Darf ich mir das mal ausleihen?«
»Aber gerne.«
Er schob ihm die beiden Bände zu. Alles, worauf Duarte von sich aus ansprang, erschien Leander Lost wenn nicht richtig, so doch wenigstens nicht verkehrt. Denn dort im Gehirn, wo der Impuls geboren wurde, solche Fragen zu stellen, befand sich vielleicht auch das Zentrum für Verknüpfungen und Assoziationen, und Assoziationen ohne Erinnerungen waren unmöglich.
Von den beiden Ladenhütern verlagerte sich Duartes Aufmerksamkeit nun auf Losts Espadrilles und den schwarzen Anzug, von dem Leander das Jackett abgelegt hatte.
»Ich hätte auch gerne solche Schuhe.«
»Espadrilles.«
»Genau.«
Das O Tradição lag in Quelfes, was hier wie »Kellfsch« ausgesprochen wurde. Ein Gebiet, das eine versprengte Ansammlung von Häusern und Farmen umfasste, das hier begann und dort endete, keiner wusste wo genau. Manche sagten, sie wohnten in Kellfsch und waren schon nördlicher in Pechão oder südlicher in Bias do Sul.
Das Restaurant war ein flacher, gelber Bau mit roten Tonziegeln und einem breiten Parkplatz aus Sand und Kiesel und ein paar Sagres-Sonnenschirmen. Es sah aus wie eines jener typischen kleinen Lokale, in denen man Erfrischungen kaufen konnte und Snacks, um dann den Weg zum eigentlichen Ziel fortzusetzen. Die Enkelin der Besitzer, Josephine, todhübsch und smart, die mal Architektin werden wollte, trainierte bei Gelegenheit ihr Englisch bei den Gästen. Ihr Vater sah das nicht gerne: »Du musst aufpassen! Das lockt nur Touristen an.«
Man blieb hier jedenfalls gerne unter sich. Carlos und Graciana hatten beschlossen, es sich ein bisschen gut gehen zu lassen und auf dem Weg hierher Leander angerufen, um zu fragen, wie es Duarte ging. Die beiden befanden sich gerade in einem Bekleidungsgeschäft, das keine fünf Kilometer entfernt war, weshalb sie sie kurzerhand einluden, mit ihnen zusammen zu essen.
Carlos und Graciana hatten sich gerade gesetzt und zwei eiskalte Sagres bei Josephine bestellt, da rauschte die dunkelgelbe Ducati Scrambler durch die Kurve. Zwei Männer darauf, beide in schwarzen Anzügen mit weißen Hemden, beide Krawatten, die im Fahrtwind flatterten und die die Blicke der Gäste auf sich zogen.
»Das ist doch nicht …«
»Doch: Miguel.«
Und tatsächlich stiegen Leander Lost und Miguel Duarte zeitgleich von der Maschine und kamen zu Carlos und Graciana an den Tisch.
»Boa noite «, begrüßten sie einander.
Carlos und Graciana starrten synchron auf Duartes Füße: Er trug nun ebenfalls Espadrilles.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Miguel zu Graciana und blickte zu Carlos, »und dich auch. Wie war euer Tag?«
»Ähm, ganz gut.«
»Ja, wir haben vielleicht eine Spur. Aber genauso wichtig: was macht dein Gedächtnis?«
»Ich erinnere mich an einen Tag in einem Stadion. Ich erinnere mich an meinen Vater. Ich meine: Ich weiß, es ist mein Vater, aber … ich empfinde nichts, nichts Gutes, nichts Schlechtes, einfach nichts. Ich kann ihn nicht einordnen. Als würde ich ihn zum ersten Mal treffen.«
Graciana und Carlos nickten automatisch, aber ihre Vorstellungskraft kam hier an ihre Grenzen: den Vater zu erkennen, aber nichts zu empfinden.
»Eine Spur?«, fragte Leander.
»Vielleicht sollten wir erst mal was zu essen bestellen«, fand Esteves, »es gibt hier einen wunderbaren Lammtopf.«
»Habe ich da Lammtopf gehört?«, kam Josephine an ihren Tisch.
»Ganz genau«, bestätigte Carlos, »für mich bitte eine ordentliche Portion, por favor. «
»Da bin ich dabei«, sagte Graciana.
Carlos’ Blick wanderte zu Miguel, dessen Aufmerksamkeit aber Leander galt, der gerade die sechs Gerichte auf der Schiefertafel analysierte.
»Das Pica Pau, ist das mit E 620 oder 621?«
»Nein. Bei uns gibt es keine Geschmacksverstärker«, sagte die Kellnerin.
»Und Farbstoffe?«
»Kann sein, den Überblick über alle Zutaten habe ich leider nicht.«
»Aha. Und der Oktopussalat, enthält der Süßungsmittel?«
»Ganz bestimmt, ja.«
Leander war mit der Liste auf der Tafel am Ende, aber dann entdeckte er den Außengrill, an dem Josephines Vater hantierte.
»Dann nehme ich die Sardinen vom Grill. Und einen Salat mit Olivenöl und etwas Zitrone, Salz, Pfeffer.«
»Für mich dasselbe«, sagte Miguel.
»Gut. Was machen die Esel?«
»Bitte?«
»Die vier Esel.«
»Ich verstehe nicht.«
Josephine warf ihm einen irritierten Blick zu.
»Sie sind doch Miguel. Leiter der Kripo von Faro.«
Carlos zog eine Augenbraue hoch.
»Nein, ich bin Sub-Inspektor«, antwortete Duarte und sah zu Leander: »Oder?«
»Das ist korrekt«, bestätigte Leander.
Duarte nickte: »Und das dort ist meine Vorgesetzte, Senhora Graciana. Die Leiterin der PJ ist gerade in Neuseeland.«
»Gut, war wohl ein Missverständnis. Ich hatte Ihnen erzählt, dass ich eine Schwäche für Esel habe, wissen Sie nicht mehr?«
»Nein. Warum mögen Sie Esel?«
»Weil sie so hübsche Gesichter haben. Und flauschiges Fell – und einen eigenen Kopf.«
»Und was habe ich mit vier Eseln erzählt?«
Josephine schaute ihn ungläubig an. Hatte sie das vielleicht nur geträumt?
»Der Kollege hatte gerade einen Unfall«, erklärte Carlos, der ihre Irritation bemerkte, »einige Dinge aus der jüngeren Vergangenheit sind dabei wohl verloren gegangen.«
»Das erklärt auch den Verband«, sagte die Kellnerin, nun wieder selbstsicher. »Ich hoffe, es tut nicht so weh.«
»Schmerzen habe ich keine«, sagte Duarte. »Aber Sie müssen mir bitte auf die Sprünge helfen: Was habe ich Ihnen erzählt?«
»Dass es gebrannt hat, oben in Sinagoga und Sie vier Esel aus einem Stall gerettet haben. Das war so großartig von Ihnen!«
»Ich nehm noch so ein Sagres«, überbrückte Carlos die betretene Stille.
»Sofort«, sagte die Kellnerin.
»Wieder was über mich gelernt«, sagte Duarte, als sie verschwunden war. »Ich mag Tiere.«
»Gut durchgebraten vielleicht«, merkte Carlos an, »und …«
Graciana stupste ihn mit dem Ellbogen an, und er verschluckte den Rest seines Satzes.
Duarte schaute ihn fragend an.
»Reden wir ein anderes Mal darüber, es ist schon spät«, wich Esteves aus.
Duarte wandte sich an Leander: »Waren Sie dabei? Bei der Sache mit den Eseln?«
»Ja.«
»Wie habe ich sie denn gerettet?«
»Gar nicht«, gab Leander zurück, »Senhora Graciana hat das getan.«
Die Verblüffung stand Miguel Duarte so unverfälscht ins Gesicht geschrieben, dass er auf sie nackt wirkte.
»Aber die Kellnerin hat gesagt, ich wäre das gewesen.«
»Sie hat wiederholt, was Sie ihr gesagt haben«, korrigierte Leander beiläufig, »genauer gesagt, was Ihr Alter Ego ihr gesagt hat.«
Miguel Duarte sah von einem zum anderen.
»Ich habe also gelogen.«
Leander atmete ein, um darauf zu antworten, vermutlich mit einer Bestätigung, aber Graciana empfand Mitleid. Offensichtlich war Miguel über diesen Umstand tatsächlich beschämt. Der Miguel Duarte aus der Zeit vor der Verletzung wäre das nicht gewesen. »Nennen wir es flunkern«, sagte sie rasch.
»Ja«, bestätigte Carlos, »du hast eben die Chance ergriffen, etwas besser dazustehen, als sie dir erzählt hat, dass sie Esel mag. Kann man schon mal machen.«
Aber Duarte schien das nicht zu beruhigen.
»Habe ich so was oft gemacht?«, fragte er. »Mich mit fremden Federn schmücken?«
»So absolut kann man das nicht sagen, oder Carlos?«
»Kann man doch«, sagte Leander. »Statistisch betrachtet haben Sie das ganz ohne Zweifel. Eigene Defizite haben Sie sehr selten eingeräumt. Genau genommen: Seit ich Sie kenne, nie. Sehr wohl aber die eigene Leistung überhöht.«
Schweigen senkte sich über den Tisch.
»Ähm, worüber haben Sie sich denn heute Nachmittag so unterhalten?«, fragte Carlos.
Duartes Miene hellte sich sofort auf: »Über die Kolonialisierung des Mars. Weißt du, wie wichtig das für unsere Spezies ist?«
»Oh, Senhor Lost war schon mehrmals so freundlich, uns ausführlich darüber aufzuklären«, blockte Graciana ab.
Die Kolonialisierung des Mars war eines von seinen Lieblingsthemen. Graciana fand das nach wie vor faszinierend, diese Eigenschaft vieler Asperger-Autisten, sich mit absoluter Hingabe in Spezialthemen einzuarbeiten und hineinzudenken. Es konnte alles Mögliche sein, Spektralanalysen von »Roten Zwergen«, Kommunikationssignale der Gemeinen Feldwespe, Zahlungsbilanzen von Stahlwerken in Minnesota oder das Vorkommen von Blaugelb in der Heraldik zwischen 1824 und 1901. Bei Leander war es die Kolonisierung des Mars. Neben Revolverhelden und Abfüllanlagen versteht sich.
Allen war gemeinsam, dass sie sehr ausdauernd über ihr Spezialgebiet zu referieren neigten. Und Leander bildete diesbezüglich keine Ausnahme.
Die Sardinen vom Grill wurden auf frischem Weißbrot serviert. Die Fische waren exakt auf den Punkt gegrillt. Die Haut goldgelb, das Fleisch saftig. Ein einfacher Luxus, der Miguel beim ersten Bissen einen genussvollen Seufzer entlockte.
Das Fleisch im Lammtopf war zwölf Stunden mariniert worden und hatte die Aromen wunderbar aufgesogen. Anschließend war es mit Tomaten und Zwiebeln mit reichlich Öl scharf angebraten und danach bei mittlerer Temperatur lange gegart worden, mindestens drei Stunden. Das Fleisch zerging nahezu auf der Zunge. Es gab Köche, die schworen auf Oregano als Gewürznote, aber hier war es Thymian. Und die sonnengereiften Tomaten waren unvergleichlich geschmacksintensiv in dieser Gegend.
»Desculpe «, sagte Miguel und wandte sich an Josephine, bevor die den Tisch wieder verließ, »die Sache mit den Eseln.«
»Ja?«
»Das war gelogen«, sagte er ruhig, »ich habe die Tiere gar nicht gerettet. Ich wünschte, ich hätte, aber ich bin es nicht gewesen. Ich, ähm … wollte mich Ihnen gegenüber wohl nur aufspielen. Das ist mir sehr unangenehm, trotzdem möchte ich mich nicht mit fremden Federn schmücken.«
Tucker, S. 67, Römische Fabeln, dachte Lost. Seit er einmal verstanden hatte, wofür diese Redewendung benutzt wurde, liebte er sie.
Carlos und Graciana sahen Miguel verblüfft an, als hätte er plötzlich Klingonisch gesprochen. So etwas wäre dem alten Duarte niemals über die Lippen gekommen. War der Mann, der dort im schwarzen Anzug und Espadrilles wie ein Abbild von Lost saß, noch Miguel Duarte oder schon ein anderer?
Josephine, die Duarte genau beobachtet hatte, war sichtlich beeindruckt. Sie bedachte ihn mit einem zauberhaften Lächeln, bevor sie sich umwandte und an einen anderen Tisch verschwand.
»Sie ist sehr hübsch«, stellte Leander Lost fest.
»Sie heiratet bald«, erinnerte Carlos ihn.
»Aber diese Tatsache und die andere schließen sich doch nicht gegenseitig aus«, sagte Lost. »Ich heirate demnächst Soraia, und die Kellnerin ist trotzdem faktisch sehr hübsch.«
»Sie heiraten bald?«, fragte Duarte.
»Ja.«
»Das freut mich. Glückwunsch. Ich habe den Eindruck, Sie passen gut zueinander.«
»Aus welchen Beobachtungen oder Überlegungen schließen Sie das?«, fragte Leander interessiert.
»Weil Sie sich wie zwei Teile so passgenau ergänzen, dass es etwas Ganzes ergibt«, antwortete Duarte. Graciana und Carlos wechselten einen Blick, um sich zu vergewissern, dass seine Worte dasselbe Gefühl bei dem jeweils anderen auslösten: so etwas Schönes hatten sie von dem Pfau noch nie gehört.
Nachdem er mit großem Appetit seine Sardinen verzehrt hatte, tat er etwas, was Carlos Esteves und Graciana Rosado zum Lächeln brachte, obwohl ihm ein Rätsel war, wieso. Schließlich hatte er sich nur den Scheitel mit einem Plastikkamm nachgezogen.