TAG SECHS

23.

Die Flamingos staksten durch die Saline, die man von der Terrasse der Canto do Baleia sehen konnte. Hin und wieder tauchten sie ihre Schnäbel hinab in das Wasser, um nach Krebsen und Wasserschnecken zu stochern. Die Sonne hatte sich erst im flachen Winkel über den Atlantik erhoben, aber ihre Strahlen legten bereits auf alles eine warme Schicht wie eine sanfte und vertraute Berührung. Der Tag würde warm werden.

Eine trockene, klare Hitze.

Leander fischte mit dem Kescher die ersten Insekten aus dem Pool, die dort beim Trinken havariert waren und hilflos in dem Becken ihrem Ende entgegenpaddelten.

Die Zikaden gaben ein vielstimmiges Morgenkonzert, die Blüten der weißen Oleander öffneten sich.

Soraia und Miguel waren auch schon auf den Beinen. Sie standen in seiner Casinha vor der Bilderwand, und Miguel nahm gerade das Foto seines Vaters ab.

»Und nun?«, fragte er Soraia.

»Legst du es dort ab«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf einen Schuhkarton, den sie auf einen Tisch neben dem Eingang abgestellt hatte. Miguel ging zu ihr und legte das Foto hinein.

»Alle, an die du dich erinnerst, kommen dahin.«

»Gut.«

Er trat zurück und studierte erneut die Wand, die mit den Bildern aus seinem Leben tapeziert war. Momente, die wie die Augenblicke eines Fremden anmuteten, fast zu privat, um daraufzuschauen. Es waren seine Momente und doch hatten sie sich aller Bezüge und Kontexte entwunden und waren, ja: frei.

Er ließ den Blick über sie schweifen, aber keines entfaltete eine Wirkung. Bis auf das, das Harrison Ford zeigte. Harrison Ford als Rick Deckard vor seinem Monitor im verregneten Los Angeles. Duarte hatte das Foto selbst geschossen, es war ein Handyfoto von seinem Fernseher, in dem der Streifen gerade gelaufen war.

»Ich kenne den Film«, sagte Duarte gerade, als Leander hinter ihnen das Casinha betrat, »das ist Blade Runner. «

Leander nickte und sagte: »Ein Meilenstein der Filmgeschichte, der den Kritikern und dem Publikum aus dem Jahr 1982 intellektuell weit voraus war. Sie lieben diesen Film.«

»Das ist die Szene mit dem Spiegel«, sagte Miguel und nahm das Foto ab, um es zu dem anderen in den Karton zu legen.

Dass es gerade diese Szene war, die das Foto zeigte, war ein Zufall. Ebenso, dass Leander gerade in dem Moment hereingekommen war, als Miguels Blick auf die Aufnahme fiel. Und doch setzte es eine Assoziationskette in Bewegung, die dazu führte, dass die beiden kurz darauf auf der Ducati Scrambler saßen und in nur 20 Minuten bei der Kripo in Faro waren.

 

Sie marschierten schnurstracks ins Labor von Isadora Jordão, die gerade eine doppelte Bica trank und eine sehr lange selbstgedrehte Zigarette rauchte, die komisch roch.

Doc, ihr Dobermann, begrüßte Duarte wedelnd.

»Sie können doch mithilfe von Mãe Fotos interpolieren«, sagte Lost ohne Umschweife.

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, aber Isadora nickte trotzdem.

»Wie fein?«

»Das hängt vom Ausgangsmaterial ab. Ein Pixel ist ein Pixel. Ich kann einen Algorithmus darauf ansetzen, der neue Pixel generiert und sich an den Farbwerten der existierenden Pixel orientiert. Aber auch das hat seine Grenzen. Physik.«

»Ich erinnere mich an einen Spiegel auf einem der drei Fotos von Senhora Karen Riemann, die der Mörder löschen wollte.«

»Stimmt«, bestätigte Isadora, die sofort erfasste, worauf der Alemão hinauswollte, und federte vor, um die Maus ihres Rechners zu bedienen. »Also: fahren wir in den Spiegel.«

Stück für Stück zoomte sie in das zweite Foto (das einzige der insgesamt drei, das den Spiegel zeigte) hinein und damit – Eintrittswinkel gleich Austrittswinkel – in den Bereich abseits der Fotografin. In das, was der Spiegel über ihren Hintergrund offenbarte.

»Eine Kommode und eine Jacke an der Garderobe«, stellte Duarte fest. Er und Leander hatten sich dicht an den Monitor gebeugt.

»Hm. Vermutlich eher nichts, was einen Mord begründet«, sagte Isadora.

Sie änderte die Richtung im Spiegel und fuhr schräg hoch, während ihr hochgezüchteter Rechner Mãe sämtliche Rechenkerne anwarf, um die Unschärfe zu minimieren, die sich bei fortschreitendem Zoom ins Bild hinein ergab.

»Das ist nur der Kühlschrank.«

Sie suchte den Bereich nun weiter unten ab.

»Da glitzert was.«

»Wo?«

»Auf der Kommode.«

Sie zoomte hinein, und tatsächlich: eine Kommode, schräg davon rechts ein Fenster, durch das das Sonnenlicht einfiel und eine blaue Vase von rechts erfasste. Es war die Oberfläche der Vase, die das Licht reflektierte.

»Eine Vase. Wenn die nicht zufällig extrem wertvoll ist …«

Isadora ließ es unausgesprochen.

»Und das daneben?«

Sie vergrößerte weiter den rückwärtigen Raum.

Im ersten Moment wirkte es wie ein großer Untersetzer oder eine Scheibe mit einer Höhe von nicht mal einem Zentimeter. Etwas von dieser Scheibe spreizte sich als gebogene Linie ab – in der gleichen Höhe wie die Scheibe.

»Könnte eine Rolle sein. Aufgerolltes Material«, identifizierte Duarte den Gegenstand.

»Ja«, bestätigte Isadora, »aufgerolltes Klebeband oder so. Wirkt transparent. Mal sehen, ob wir noch näher rankommen. Ich lasse auf höchster Stufe interpolieren. Wird ein bisschen dauern.« Sie startete den komplexen Rechenvorgang, und kurz darauf startete Mãe die Lüfter. Sie konnten verfolgen, wie die groben, eckigen Pixel sich weiter verfeinerten und Zentimeter um Zentimeter mehr von der Struktur dessen preisgaben, was dort lag.

Nach gut sieben Minuten hatte der Rechner seine Arbeit beendet und den Bildschirmausschnitt in einer Bilddatei abgelegt, die Isadora öffnete.

»Sieht aus wie durchsichtiger Kunststoff«, stellte Lost fest.

»Eine aufgerollte Folie«, sagte Duarte, »und da sind regelmäßige, vertikale Linien.«

Isadora nickte: »Stimmt, gut erkannt, Senhor Duarte. Eine Rolle mit gestanzten Streifen oder Sollbruchstellen.«

»Und da ist etwas in der Folie drin«, erkannte Leander. »Schmutz oder eine Anomalie kann es nicht sein, weil es in den gleichen Abständen auftritt wie die vertikalen Linien. Erkennen Sie, was das ist?«

Die Kriminaltechnikerin schüttelte den Kopf. »Aber ich habe hier noch einen kleinen digitalen Helfer«, sagte sie. »Gestatten: Twin 4.01.«

Sie speicherte das neu errechnete Foto und lud es in das besagte Programm. »Das ist eine Spezialsoftware«, erläuterte sie, »die nach Mustern und Strukturen in Bilddateien suchen kann und sie mit Vergleichsbildern abgleicht, die sie im Netz findet.«

In der Frequenz eines eilig durchgeblätterten Daumenkinos tauchten Vergleichsfotos auf, die ähnliche Formen und ähnliches Material aufwiesen. Klebefolien, Schweißfolien, Etikettenfolien und einige Varianten mehr. Recht zügig ähnelten die neuen Fundstücke immer mehr dem Original. Um schließlich auf einem kristallklaren Foto zu enden.

Es zeigte die auf Folie aufgebrachte Schwarz-Weiß-Zeichnung eines weiblichen Kopfes, der nach rechts blickte.

»Das ist Europa aus der griechischen Mythologie«, erkannte Leander Lost als Erster, »das Motiv stammt aus einer antiken Vase aus Süditalien, es ist über 2.000 Jahre alt.«

»Wow – und wo findet man es?«, fragte Miguel Duarte.

»Auf Eurobanknoten. Als Hologramm.«