24.

»Damit wir einen gemeinsamen Stand haben, die Fakten«, begann Graciana ihre Aufzählung.

Sie hatte alle in den Innenhof der PJ gebeten, wo sie an dem Holztisch mit seinen unzähligen Einkerbungen Platz genommen hatten: Isadora, Carlos, Leander Lost und Miguel. Inwieweit Miguel von Nutzen für die Ermittlungen war, mochte sie nicht beurteilen. Aber es integrierte ihn in die Gruppe, und schaden würde es kaum.

Inzwischen stand die Hitze über der Stadt, die Sonne hatte die Pflastersteine, Mauern und Dächer aufgeheizt, alles strahlte Wärme ab. Schutz boten zu dieser Stunde nur die engen Gassen, in die kaum ein Lichtstrahl drang – oder eben dieser schattige Innenhof.

»Gonçalves Amado hat bei einem Überfall auf einen Zug, in dem sich eine halbe Million Euro befand, seine Mittäter verpfiffen, um selbst straffrei auszugehen«, begann Graciana. »Wir wissen nicht, wer die Mittäter waren, die sich absetzen konnten. Amado selbst war nachweislich in drei Verbrechen involviert: den Überfall auf den Werttransporter, den Schusswechsel mit uns und den Mord an Karen Riemann. Wir wissen nicht, wer Senhora Riemann mit glühenden Zigaretten traktiert hat, um das Passwort zu ihrem Cloud-Speicher zu erpressen und drei Fotos zu löschen, aber sicher ist: Amado hat mit falschen Papieren das Ferienhaus Villa Ria auf dem Resort Monte Rainha angemietet.«

»Er hat den falschen Pass benutzt, um seine Spuren in dieser Sache zu verwischen«, fuhr Carlos fort, »aber er war vermutlich nicht mit dem Plan da, Karen Riemann zu ermorden. Dagegen spricht auch, dass er sie allem Anschein nach in der Villa Ria erschlagen und dann im Golfteich versenkt hat.«

»Das heißt, sie ist im Grunde ein Zufallsopfer«, meinte Isadora.

Graciana nickte. »So sieht es jedenfalls im Augenblick aus, ja. Wenn Amado vorgehabt hätte, sie zu ermorden, wäre es unnötig riskant gewesen, das ausgerechnet mitten auf einer Golfanlage zu tun. Er hätte sich in aller Ruhe einen besseren Ort und eine günstigere Situation aussuchen können. Carlos und ich glauben, dass er nach der Entdeckung der Frau in dem Ferienhaus improvisieren musste. Vermutlich hat er auch gesehen, wie sie im Haus fotografiert hat. Der Mord an Karen Riemann jedenfalls ist neben dem Überfall auf den Bilt-Transporter das zweite Verbrechen mit seiner Beteiligung. Und dann gibt es noch ein drittes, das uns im Augenblick Rätsel aufgibt: Er hat am Tag des Mordes an Senhora Riemann einen Einbruch in ein Ferienhaus auf der Anlage begangen. Verbrechen Nummer drei.

Und zwar in das Haus, das zu dem Zeitpunkt von einer gewissen Nadine Deveraux gemietet war.«

»Wir haben die Frau inzwischen überprüft«, schaltete Carlos Esteves sich ein, »ihre Papiere stimmen. Bislang hat sie übrigens keine Probleme wegen eines möglichen Datendiebstahls gemeldet.«

»Wie lange war Senhora Deveraux im Monte Rainha? «, fragte Leander.

»Eine Nacht.«

»Dann wäre es wichtig zu erfahren, woher Gonçalves Amado von ihrer Übernachtung auf dem Resort wusste.«

»Das ist der nächste Punkt – sie hat einen Senhor João Coelho getroffen, seines Zeichens Kunstexperte. Wir haben seine Kontaktdaten vor zwei Stunden von ihrer Sekretärin bekommen: Es stimmt nichts an diesem Mann, seine Handynummer nicht, sein Adresse, seine Mail. Eine falsche Identität.«

»Ein bisschen viele Männer mit falschen Pässen am gleichen Abend im Monte Rainha «, fand Isadora.

»Genau«, pflichtete Graciana ihr bei, »dieser Mann war vermutlich ausschließlich dazu da, um sicherzustellen, dass sie an diesem Abend tatsächlich im Monte Rainha übernachtet und sich eine Unterkunft nimmt. Laut der Aussage der Sekretärin von Nadine Deveraux hat ihr Gesprächspartner Coelho den Treffpunkt und die Uhrzeit vorgeschlagen. Und sie ist darauf eingegangen. Möglicherweise stecken Amado und dieser Senhor Coelho, mit dem sie im O Céu zu Abend gegessen hat, unter einer Decke.«

»Wissen Sie, was Madame Deveraux beruflich macht?«, hakte Leander Lost nach.

»Sie arbeitet für Saint Rivage. Die helfen Unternehmen, die in wirtschaftliche Schieflage geraten sind. Und Daten von denen sind auf ihrem Laptop.«

Lost deutete ein Nicken an: »Wäre es wohl möglich, von Senhora Deveraux eine Liste der Firmen zu bekommen, von denen sie Material auf ihrem Laptop hatte?«

»Die haben wir vor 15 Minuten bekommen«, erklärte Graciana Rosado und hielt einen USB -Stick hoch. »Ein Terabyte Datenmaterial, und wir wissen nicht, wonach wir suchen sollen.«

»Darf ich das kopieren, bitte?«

»Claro.«

Sie reichte ihm das kleine Speichermedium.

»Haben Sie einen Ansatz, Senhor Lost?«, fragt Carlos interessiert. Alle Blicke richteten sich auf Leander Lost.

»Ja.«

Stille. 21, 22, 23 …

»Und welchen?«, lieferte Graciana nach, weil sie keine offene, sondern eine geschlossene Frage gestellt hatten, mit deren Beantwortung der Alemão keinerlei Anzeichen sah, dass eine Äußerung darüber hinaus erwünscht war.

»Das Hologramm mit dem Kopf von Europa ist das von der 50-Euro-Banknote der Europa-Serie des Euros. Die erste Serie erstreckt sich auf den Zeitraum 2003 bis 2013. Ab 2013 sind neue Sicherheitsmerkmale in die Banknoten eingearbeitet worden, um sich gegen Falsifikate zu schützen. Der 50-Euro-Schein der Europa-Serie ist 2017 in den Markt eingeführt worden.

Das, was wir heute Morgen auf der Kommode in der Villa Ria auf dem Foto entdeckt haben, sind vermutlich Tausende oder sogar Zehntausende von Hologrammen. Ganz offensichtlich gibt es ein Verbrechen Nummer 4, in das Gonçalves Amado ebenfalls verwickelt war und zu dessen Ausführung es noch nicht gekommen ist: der Fälschung von 50-Euro-Banknoten. Vielleicht ist eines der Unternehmen, das Saint Rivage übernommen hat, in die Herstellung einer weiteren Komponente für den Druck involviert.«

»Und am nächsten Tag überfallen die dann zusammen einen Werttransporter, um Schmuck für 60.000 Euro zu erbeuten?«, fragte Carlos. »Macht das Sinn? Ich meine: Dafür lassen die sich auch noch auf eine Schießerei ein und verlieren einen ihrer Leute. Und das, obwohl sie Millionen an Falschgeld herstellen könnten? Die sind ja nicht dumm, das passt doch nicht.«

Leander lächelte plötzlich: »Da liegt der Hase im Pfeffer. Warum sollten Kriminelle, die Millionen an Euros drucken könnten, so ein großes Risiko für einen überschaubaren Wert an Schmuck eingehen?«

Graciana deutete ein Achselzucken an: »Weil es gar nicht um den Schmuck ging?«

Die Gesichter der anderen gerieten in Bewegung, ihre Blicke streiften durch den Innenhof, über die Wände, die Bäume, deren Blätter, ohne etwas davon wahrzunehmen, weil sie so hoch konzentriert waren, die Dinge durch diesen Filter neu zu bewerten: es ging nie um den Schmuck.

»Dann war was anderes in dem Transporter«, stellte Miguel Duarte fest und warf Leander einen unsicheren Blick zu.

»Ja. Ihnen hat für die Fälschung ein Bestandteil gefehlt. Ein Bestandteil, der sich auf seinem Transport von einem sicheren Ort zum nächsten befunden hat. Und der Werttransporter war zwischen A und B das leichteste Ziel für die Täter.«

»Aber es fehlt außer Schmuck nichts«, wandte Carlos ein und fragte sich gerade nebenbei, ob man sich Hunger auch einbilden konnte.

»Natürlich nicht«, sagte Isadora, »so, wie auch bei Senhora Deveraux nichts gefehlt hat. Die zuständigen Stellen oder wir sollen nicht merken, was fehlt. Der Schmuck ist nur eine Nebelkerze.

Und Madame Deveraux hätte von dem Einbruch auch nicht erfahren. Wüssten wir das alles nicht, würden wir immer noch von Tätern ausgehen, die hinter dem Schmuck her waren.«

»Aber der Schmuck war nur die Tarnung für das, um was es wirklich geht«, fasste Graciana zusammen.

»Das ist meine These«, bestätigte Leander, »im Fall Deveraux ging es vermutlich um die Erstellung einer Kopie, die sie nicht bemerken sollte. Und beim Werttransporter ist erneut etwas entwendet worden, ohne dass der Empfänger den Verlust bemerkt haben kann. Wir müssen die Liste noch mal durchgehen, Senhor Esteves. Es gab etwas in dem Transporter, was nicht fehlt, aber was für die Fälschung von Banknoten absolut unverzichtbar ist.«