Und jetzt war der Moment gekommen: Cabral führte den nachgemachten Schlüssel ein und drehte ihn ganz langsam. Klack. Er erstarrte und die Körper von César und Nuno neben ihm ebenfalls. Aber kein Alarm ertönte, kein grelles Scheinwerferlicht erfasste sie.
Cabral zog jetzt an dem Bügel der Tür, und weil sie so schwer war, unterstützte César ihn dabei.
Die Tür schwang auf, fast meinte man dabei den Sog von Luft zu hören. Nuno fixierte die Magnete der Türsicherung mit den Klebebändern. Der Raum mit den Schließfächern lag vor ihnen. Durch ihre Nachtsichtgeräte wirkte alles grau und grün und wie ein grobkörniger Kinofilm in einem Provinzkino. Kurz waren sie alle drei von dem Anblick ergriffen, von dem Moment.
»Wärmesensor«, sagte César dann leise, während er seinem Rucksack eine Teleskopangel entnahm.
Vieira und Cabral steuerten jeweils zwei Styroporquadrate bei, die sie jetzt mit Gaffertape zu einem großen Quadrat verklebten und mit dem Ende der Teleskopangel verbanden.
Dort stand das Viereck nun im rechten Winkel ab. César entnahm seinem Rucksack einen Betonsockel mit einem schmalen Betonrohr, das aus seiner Mitte aufragte wie ein Ständer für einen Sonnenschirm.
Das reichte er an Cabral.
»Dicht bei mir«, wies César ihn an und ging langsam in den Raum hinein. Die Styroporfläche hielt er hoch bis fast an die Decke – das war ihr Schutzschild gegen den Wärmesensor, der nicht erfassen sollte, dass nur anderthalb Meter unter ihm zwei Wärmequellen eindrangen. Das Styropor ließ die Körperwärme zur Seite driften und schirmte den Sensor ab.
»So ist gut.«
Cabral setzte den kleinen Betonsockel ab und führte das untere Ende der Stange in das dafür vorgesehene Loch.
Vorsichtig ließ César nun die Angel los, die mithilfe der Halterung alleine im Raum stand.
Für einige endlose Sekunden verharrten sie alle drei.
»Es funktioniert«, flüsterte Ricardo Cabral schließlich, und alle atmeten auf.
»Tape.«
Sie machten sich nun alle drei daran, die Lichtsensoren in der absoluten Dunkelheit, die hier unten herrschte, mit Klebestreifen zu umwickeln.
»Da darf kein Millimeter unbedeckt sein«, ermahnte Nuno Vieira sie, »macht sicherheitshalber mehrere Lagen drauf.«
Nachdem sie das getan hatten, ging Cabral zurück zu dem Sicherungskasten und überbrückte die elektrische Leitung wieder, die er zuvor unterbrochen hatte, worauf das Licht anging und sie die Nachtsichtgeräte absetzen und sich an die Arbeit machen konnten. Immerhin warteten gut dreihundert Schließfächer auf sie.
Sol Pinho hätte Lust auf einen zweiten Cocktail gehabt, aber sie musste konzentriert bleiben. Also bestellte sie eine Bica und ein Wasser. Als sie wieder nach vorne blickte, stand dort eine Gestalt an ihrem Tisch. Ein Mann, der sie anlächelte.
»Darf ich mich setzen?«
Maximilian Pontes. Wie konnte das sein?
»Oh, Senhor Pontes«, sagte sie und versuchte, erfreut und nicht zu überrascht zu wirken. »Aber natürlich, bitte.«
»Ich war gerade in der Gegend«, sagte er. »Und da habe ich Sie entdeckt. Und da dachte ich …«
»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Sie kam gar nicht auf die Idee, ihn abzuweisen. Lieber lenkte sie ihn ab und würde sich kurz zur Toilette entschuldigen, falls sie mit Ulisses oder César Kontakt aufnehmen musste. Die ganze Aktion lief auch ohne sie, sie war bloß die Sicherung der drei Männer, zu denen Ulisses bald dazustoßen würde.
Der Kellner übersah zweimal Pontes erhobene Hand, aber das schien ihn nicht weiter zu verunsichern, es war einfach Teil seines Lebens als jener Niemand, als der er sich empfand. Sol Pinho dagegen musste nur den Kopf anheben, einen Blick auf den Kellner werfen, und schon stand er am Tisch.
»Mein Banker möchte etwas trinken«, sagte sie.
Mein Banker.
Das ging ihm runter wie Öl.
Er bestellte ein Bier und einen Medronho.
»Sie tragen gar keine Brille«, sagte er.
Und das war das erste Mal, dass auch sie ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilte, einem ältlichen, etwas ungeschickten und völlig unscheinbaren Bankmitarbeiter. Er sah regelrecht, wie ihre Antennen ausfuhren und sich ganz fein auf kleinste Wellen ausrichteten.
»Manchmal setze ich sie aus Eitelkeit nicht auf, manchmal vergesse ich sie – heute hab ich sie vergessen.«
Sie wusste um ihren Charme. Noch dazu, wenn er mit Selbstironie garniert war. Dann entfaltete er seine größte Wirkung.
Pontes nickte mit einem Lächeln, während der Kellner ihm das Bier und den Medronho servierte. Er betrachtete die Senhora und gab sich dabei größte Mühe, nicht zu starren. Sie faszinierte ihn. Wobei der Begriff streng genommen zu schwach war. Wenn er ehrlich war, hatte er eine waschechte Obsession für Senhora Sol entwickelt. Schon bei ihrem ersten Treffen am Bankschalter war es um ihn geschehen. Und auf gewisse Weise gefiel ihm das auch noch. Es hatte etwas von einer schicksalshaften Unabwendbarkeit.
Wie in einer griechischen Tragödie.
Maximilian Pontes hatte etwas getan, was den Mitarbeitern der Banco de Portugal schwerstens verboten war: Überwachungsvideos zu kopieren oder sogar mit nach Hause zu nehmen. Er hatte beides getan. Einfach, weil er sich an Sol Pinho nicht sattsehen konnte. Wenn er schon nicht an ihrer Seite sein konnte, dann wollte er sie wenigstens anschauen dürfen.
Außerdem hatte er ihre Adresse.
Heute Abend, vor knapp einer Stunde etwa, hatte er sich den neuesten Mitschnitt angesehen. Denjenigen, auf dem sie hinter seinem Rücken etwas auf die Bewegungssensoren sprühte.
Und das hatte ihn sehr nachdenklich gemacht.