31.

Sie hatten den RS 6 einem jungen Engländer abgenommen, der sich seinen Lebensunterhalt mit Drogenschmuggel finanzierte und bei einer Flucht ums Leben gekommen war. Der Audi stand die meiste Zeit in der Tiefgarage der Kripo und wartete auf Ansprüche, die Opfer an den toten Briten stellen würden. In dem Fall würde der Wagen versteigert und von dem Erlös die anstehenden Entschädigungen beglichen, Aber bis jetzt hatte sich noch niemand gemeldet.

Nachdem Gracianas Mustang zerschossen worden war, hatte sie sich für diesen Wolf im Schafspelz entschieden: In 3,6 Sekunden war er auf hundert. Sie hatten die Typenbezeichnungen und den auffälligen Lack auf den Bremssätteln entfernt. Da es sich noch dazu um einen Kombi handelte, wirkte er auf den ersten Blick wie ein Familienauto, aber unter seiner Haube schlummerte eine Urgewalt, die Graciana jetzt konzentriert durch diese Kurven der N 2 zirkelte, einer Landstraße, die bisweilen einen unübersichtlichen Verlauf hatte.

Sie hatte die Sirene nicht angeschaltet, nur das Blaulicht. Mehrmals überholte sie einige Autos am Stück. Carlos saß neben ihr, Leander hinten.

Carlos fühlte sich wie in Abrahams Schoß. Graciana verfügte über eine sehr gute Intuition. Präzise. Wie ein Seismograf nahm sie die allerkleinsten Schwingungen ihrer Mitmenschen wahr. Beim Autofahren verschmolz sie mit dem jeweiligen Fahrzeug in einer Art Symbiose. Sie wusste ganz genau den Punkt abzupassen, an dem das Heck ausbrechen würde, sie nahm beinahe jede Kurve auf der Ideallinie. Es war, als würde ihre Intuition auch den Wagen erfassen, die Technik, die Bestandteile, das ganze System. Sie konnte fühlen, wann der Wagen ausbrach. Sie spürte, wie weit sie den Fuß vom Gaspedal lupfen musste, damit es nicht zu einem Unfall kam und damit sie gleichzeitig nicht mehr Tempo einbüßte als unbedingt notwendig.

Darauf vertraute er blind.

Lost hingegen wusste, dass ein Unfall bei diesen Geschwindigkeiten einen schnellen Tod bedeuten würde. Das war nicht jedem vergönnt, und an irgendwas musste man schließlich sterben. Warum also nicht so? Ganz unvermittelt, von einem Wimpernschlag zum nächsten?

Sie zogen durch eine lange Linkskurve, der sich eine Gerade anschloss. Graciana drückte das Gaspedal runter bis zum Bodenblech. Der Kombi machte bei 120 einen Satz nach vorne, die Tachonadel kletterte blitzschnell hoch und … ein Esel!

In dem Sekundenbruchteil, in dem Carlos ihn aus den Augenwinkeln sah, riss die brutale Verzögerung sie alle massiv nach vorne. Die Gurte klackten und strafften sich durch Gracianas geistesgegenwärtige Vollbremsung, das ABS griff und der RS 6 verewigte sich trotzdem mit einem massiven Reifenabrieb auf dem Asphalt.

Nach verbranntem Gummi riechender Qualm stieg auf.

Mit 60 Sachen wäre die Kollision erfolgt, aber sie nahm den Fuß von der Bremse und wich dem Esel aus, um dann zu stoppen. Ihre flache Hand flog auf den Warnblinker.

Carlos sah sie fragend an. Aber da war sie auch schon aus dem Auto gesprungen und zu dem Tier gelaufen. Einige Meter weiter befand sich ein Gatter mit zwei weiteren Eseln. Das Tor war offen und schwang sanft im Wind. Graciana nahm den Esel am Halsband und führte ihn zurück zu den anderen Artgenossen, bevor sie das Tor wieder schloss und zum Audi zurücklief.

 

Bargeld in rauen Mengen. Euros, Dollars, Pfund und Yen. Mit jedem weiteren Schließfach meißelte sich ein breites, ungläubiges Grinsen tiefer in ihre Gesichter.

»Unfassbar«, sagte Cabral, »davon ist doch praktisch nichts versteuert.«

»Wir bestehlen nicht die Falschen«, bestätigte ihn eine Stimme hinter ihnen.

Die drei im Schließfachraum erschraken. Aber es war nur Ulisses, der den Raum nahezu lautlos betreten hatte. Er steckte wie sie ebenfalls in einem Anzug. Mit einem kurzen Blick überprüfte er die Vorrichtung aus Styropor an der Decke, mit einem zweiten die Lichtsensoren. Dann erst erfasste er den Fortgang ihrer Bemühungen.

Von den dreihundert Schließfächern war bald die Hälfte geöffnet. Deren Inhalte: Geld, Schmuck, Dokumente, externe Festplatten – häufte sich bereits in zwei Sporttaschen. Das Geld würden sie durch irgendwelche Käufe waschen. Wohnungen, Autos, Uhren, Luxusartikel. Den Schmuck über ihre Hehlerin verkaufen. Und die Dokumente – was mochte wohl so wichtig sein und trotzdem nicht zu Hause aufbewahrt werden? Also ideale Unterlagen für gezielte Erpressungen. Das galt selbstverständlich auch für die Festplatten.

Mit etwas Glück konnten sie sich allein schon dadurch zur Ruhe setzen.

»Hab ich zu viel versprochen?«

»Du bist der Beste, Ul«, sagte Cabral. Seine Stimme war frei von Ironie.

Ulisses Cruz warf einen Blick auf seine Rotonde.

»Noch fünf Minuten, dann ist Abflug.«

Die drei sahen ihn überrascht und enttäuscht an.

»Dann schaffen wir den Rest nicht.«

»Ich weiß, aber so ist es. Wir sind aufgeflogen – fünf Minuten.«

Cabral und Vieira nickten sich entschlossen zu und arbeiteten jetzt noch schneller.

Nur Anfänger, die ihre Gier nicht unter Kontrolle hatten, würden es drauf ankommen lassen.

Ricardo Cabral hatte aus dem offiziellen Schlüssel, über den Sol Pinho als legitime Besitzerin eines Schließfaches verfügte, eine Art Universalschlüssel hergestellt. Die Reite, also den Griff, hatte er massiv verstärkt. Denn der wurde in ein Zugsystem eingehakt, das mit Muskelkraft funktionierte.

Mittels eines herkömmlichen Radschlüssels wurde eine archimedische Schraube in Gang gesetzt, die den Schlüssel, den sie ins jeweilige Schließfachschloss gesteckt und gedreht hatten, Zentimeter um Zentimeter nach hinten zog. Dadurch bogen sie die Schließfachtüren auf, bis deren Kontakt zu den Scharnieren brach. Im Grunde ein großer, individueller Dosenöffner. Damit umgingen sie die zeitraubenden 999 Möglichkeiten für die Eingabe des jeweiligen Zahlencodes.

Es war eine schweißtreibende Schwerstarbeit. Aber obwohl ihnen die Muskeln schmerzten, legten sie sich unermüdlich ins Zeug. Nach jetzigem Stand sah es ganz so aus als seien sie ein Quartett aus Millionären.

»Komm«, wandte Ulisses sich an seinen Bruder, »wir bringen die Taschen ins Auto.«

Sie schnappten sich die Sporttaschen und legten damit den Weg ins Parkhaus zurück, wo sie sie im Kofferraum des Vans verstauten.

»Die sind schon auf dem Weg«, sagt Ulisses, »ich möchte, dass du jetzt aufs Boot gehst. Jetzt gleich.«

César sah ihn erstaunt an: »Wieso?«

»Vertrau mir, Cé. Vielleicht sind nicht alle oben in Alportel. Vielleicht gibt es hier noch ein paar Leute in der Gegend. Mit Sicherheit wenigstens ein Security-Team. Wenn ich verhaftet werde, brauche ich einen draußen, auf den ich mich blind verlassen kann, Ricardo und Nuno sind das nicht. Blut ist dicker als Wasser, hm?«

»Wir schießen uns den Weg frei.«

Ulisses lächelte traurig. Traurig und voller Zuneigung.

»Das machen wir, wenn nichts mehr geht. Aber jetzt haben wir die Initiative noch auf unserer Seite. Ich brauch dich als Sicherheit, César. Geh. Und nimm Sol mit.«

Er hielt seinen Arm mit der Cartier-Uhr hoch: »Wenn ich um Punkt halb nicht da bin, legt ab.«

César musterte seinen älteren Bruder, um ihn zu verstehen. Oder das, was er da tat, mit dem in Einklang zu bringen, was Sol über ihn erzählte. Dass er seinen ganz eigenen Plan verfolgte, in dem César keinen Platz hatte. Aber was für einer sollte das sein? Was sollte Ulisses jetzt ohne ihn in der Bank anfangen? Nuno und Ricardo waren noch da.

»Wie sieht das denn aus vor den anderen?«

»Ich brauche eine Sicherheit draußen, César. Ist das so schwer zu verstehen? Wir alle brauchen das. Auch die anderen.«

»Warum hast du mir das nicht eher gesagt?«

»Weil ich geglaubt habe, wir hätten mehr Zeit. Haben wir aber nicht – sie rücken jetzt an. Geh, bitte.«

César Cruz atmete tief durch, nickte. Ulisses klopfte ihm auf die Schulter. Dann verließ César das Parkhaus Richtung Bar Columbus.

 

Sol saß einem Mann gegenüber, den er kannte.

Maximilian Pontes. Der Bankangestellte aus dem Brillen-Video.

César musste lächeln: was für ein armer Trottel. Stand von morgens bis abends hinter seinem Schalter und verwaltete das Geld anderer Leute. Und am Ende? Würde er mit einer überschaubaren Rente in einem kleinen Apartment hocken und immer noch einem besseren Leben hinterherträumen.

In diesem Leben musste man sich nehmen, was man wollte. Wer auf das Wohlwollen anderer setzte, war hoffnungslos verloren.

»Boa noite «, sagte César, gab Sol einen Kuss auf die Wange – damit das mal geklärt war – und nickte Pontes dann zu: »Ich bedaure, aber ich muss Ihnen die schönste Frau auf diesem Platz jetzt entführen.«

Pontes zwang sich zu einem Lächeln, während Sol nickte und sich erhob: »Ah, es ist schon so spät.«

Der Mann, der sich nicht vorstellte, war gut einsneunzig groß. Das Hemd spannte sich über seinem muskulösen Oberkörper. Auf seinem Unterarm prangten Tätowierungen. Sein Blick war klar oder besser: unmissverständlich. Ein Alphatier. Er fand zwar charmante Worte, aber unter seiner Oberfläche schimmerte der Straßenköter aus dem Armenviertel durch.

»Ich wünsche Ihnen beiden einen schönen Abend, Senhor …«

»Ihnen auch.«

César nannte keinen Namen.

Maximilian Pontes schaute ihnen nach.

Natürlich hatte er zunächst darüber nachgedacht, unverzüglich die Polizei zu verständigen, als er auf den Aufnahmen sah, wie die Frau die Sensoren mit dem Spray bearbeitete. Aber dafür hätte er erst einmal erklären müssen, warum zum Teufel er sich die Videoaufnahmen, dazu noch von einer weiblichen Kundin, ohne jeden validen Verdacht angeschaut hatte. Doch da war ihm eine andere Idee gekommen.

Er machte sich auf den Weg zur Bank.

 

»Noch zwei Minuten«, ließ Ulisses die beiden wissen, als er Nuno an der Vorrichtung ablöste und das Radkreuz zu drehen begann, um das nächste Schließfach zu öffnen. Sie waren jetzt bei Fach 198 angekommen.

»Bringt alles ins Auto, das ist das letzte Fach.«

»Aber wir haben noch zwei Minuten«, entgegnete Cabral.

»Ich mach hier sauber.« Wieder lag diese Endgültigkeit in seiner Stimme. Aber die Aussicht auf die sichere Millionenbeute machte sie nachgiebig.

»Du hast recht«, sagte Vieira, und damit beugte sich nun auch Ricardo Cabral und griff eine der beiden Sporttaschen, die er lässig auf der rechten Seite schulterte.

»Bis später, Ul, die Zeit läuft auch für dich.«

»Ich weiß.«

Er legte alle Kraft in die nächsten vier Drehungen, dann wölbte sich Nummer 198 nach vorne, während Nuno die verbliebene Sporttasche unter das Fach schob. Mit einem metallischen Knirschen brach die 198 auf und offenbarte ein paar weitere Geldbündel, die Nuno Vieira mit einer Handbewegung in die Tasche schob.

Dann schloss er sie und hob sie am Tragegurt an.

»Coole Nummer, Ulisses.«

Der schenkte ihm ein Grinsen.

»Seht zu, dass ihr hier wegkommt.«

Nuno erwiderte das Grinsen und ging.

 

Keiner der Sensoren hatte angeschlagen. Das Treppenhaus und der Vorraum zu den Schließfächern war leer. Die schwere Tresortür geschlossen. Maximilian Pontes spürte, wie sich eine eigentümliche Enttäuschung in ihm ausbreitete. Hatte er sich das alles nur eingebildet?

Er hatte das Gebäude über einen Nebeneingang mit einem Generalschlüssel betreten, den er immer bei sich hatte. Er war dazu verpflichtet. Ebenso wie die Leiterin der Bank, Clara Miranda. In einem fensterlosen Nebenraum hinter dem Schalterbereich konnte er auf drei Monitoren den Nebeneingang aus dem Parkhaus, das Treppenhaus und den Vorraum vor dem Tresor sehen. Dieser Mitschnitt wurde auch von einem Sicherheitsunternehmen ständig kontrolliert. Und das hätte sich bei ihm oder Senhora Miranda umgehend gemeldet, falls denen irgendetwas aufgefallen wäre.

Trotzdem: Er war sich so sicher gewesen, dass er die Bande auf frischer Tat ertappen würde. Er hätte die Polizei verständigt, und keine halbe Stunde später wäre er der Held der Banco de Portugal gewesen. Mit Sicherheit hätte es einen Bonus gegeben, vielleicht sogar einen Orden. Mit keinem Wort hätte er das Video erwähnen müssen. Es wäre einfach eine günstige Fügung gewesen. Zur rechten Zeit am rechten Ort. Und die Bande hätte gekriegt, was sie verdiente inklusive dieser Frau, die seine Freundlichkeit so schändlich ausgenutzt hatte.

Nichts von alldem würde passieren.

Und wenn er ehrlich war, fühlte er sich jetzt doch auch ein wenig erleichtert. Denn dass die Täter sich kampflos ergeben hätten, erschien ihm unwahrscheinlich.

Als er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick noch einmal auf den Monitor, der das Parkhaus zeigte.

Das Fußballspiel war vorbei und die meisten Leute auf dem Nachhauseweg. Seltsamerweise war das Parkhaus, wie er auf dem Bildschirm sehen konnte, noch ungewöhnlich gut gefüllt. Auch der Wagen des Koches vom Camaleão zwei Häuserecken weiter stand noch auf dem Eckparkplatz, wo er immer parkte. Genau genommen war das ein Behindertenparkplatz, aber das Parkhauspersonal machte ihm keinen Ärger. Was Pontes stutzig machte, war die Uhrzeit. Das Restaurant hatte schon seit wenigstens einer Stunde geschlossen, und eigentlich fuhr der Koch immer direkt nach Hause.

Er beschloss, eine kleine Runde zu drehen. Schaden konnte es nicht.

Er war schon auf dem Weg hinaus, als er plötzlich innehielt. Dann ging er noch einmal zurück und öffnete mit dem Generalschlüssel einen kleinen Safe, in dem sich eine Pistole befand. Sie war hier für den Notfall deponiert worden. Als Möglichkeit, sich vor diesen Kriminellen zu schützen.

Pontes nahm die Pistole in die Hand.

Sie war schwer.

In Filmen wirkten sie immer federleicht.

Sicher ist sicher, dachte er und steckte sie in die Innentasche seines Sakkos.

Als Pontes die Treppe zum Eingang des Parkhauses hinabging, blieb er so abrupt stehen, dass er mit dem Oberkörper beinahe nach vorne gestürzt wäre: Der Behindertenparkplatz war leer!

Sicher, der Koch konnte erst gerade eben weggefahren sein, auch sonst standen kaum noch Wagen auf den Plätzen, ganz anders als auf der Aufnahme.

Eilig und zugleich so lautlos wie möglich ging er die Treppe weiter hinab, an der Brandschutztür vorbei und in den Vorraum. Und da stand ein Mann um die fünfzig, der Handschuhe trug und gerade eine Rolle aus Kunststoff aus einem Schließfach entnommen hatte und eine andere Rolle darin deponierte bevor er das Fach zudrückte.

»Keine Bewegung«, sagte Pontes.

Es klang bloß nicht so entschieden, wie er sich das vorgestellt hatte. Der Mann ihm gegenüber erschrak nicht mal, er wandte sich ihm einfach zu, bemaß ihn kurz mit einem Blick und nickte. Er sah dem anderen von vorhin ähnlich. Möglicherweise waren sie Brüder.

Zwei Drittel der Schließfächer standen auf, allesamt mit verbogenen Deckeln und geborstenen Scharnieren.

Außen ihnen beiden war niemand im Raum.

Maximilian Pontes tastete mit der freien Hand nach seinem Handy.

»Meinen Sie, Sie können das?«

»Was?«, fragte Pontes hektisch.

»Ob Sie denken, dass Sie auf jemanden schießen können, Senhor.«

»Das kann ich ganz bestimmt, wenn es die Situation erfordert.«

»Ja? Wissen Sie, was für Verletzungen so eine Kugel hervorrufen kann?«

»Ich habe eine gewisse Vorstellung.«

Maximilian Pontes versuchte, mit der linken Hand die 1-1-2 zu wählen, ohne den Mann aus den Augen zu lassen oder die Waffe zu senken.

»Schauen Sie mal«, sagte der komplett ruhig. »Ich hab auch eine, aber meine ist leiser.«

Sagte es und zog eine Pistole mit Schalldämpfer.

Pontes wollte abdrücken, aber er konnte es nicht. Einfach auf einen Menschen schießen.

Aber der Mensch da konnte. Und der Schuss, der ihn in den Kopf traf, war wirklich ganz leise.