War es ihre Schuld?
Von außen betrachtet wohl nicht. Der stellvertretende Leiter der Bank, Maximilian Pontes, hätte umgehend den Notruf betätigen müssen. Damit wäre sein Anruf sehr schnell bei ihr im Auto gelandet, und sie hätte ihm geraten, das Gebäude sofern möglich umgehend zu verlassen. Und wenn nicht, sich in einem Raum einzuschließen, bis sie eingetroffen wären. Stattdessen hatte der Mann sich mit einer in der Bank hinterlegten Pistole eigenständig in den Tresorraum begeben, wo er erschossen worden war.
Nichts davon war auf einen Fehler ihrerseits zurückzuführen.
Carlos, der spürte, dass der Tod dieses Mannes trotzdem schwer auf ihr lastete, versuchte sie zu trösten: »Selbst, wenn wir vor der Bank geparkt hätten, hätten wir ihm nicht helfen können. Dazu hätte er sich melden müssen.«
Auch Leander Lost entging nicht, dass seine Chefin etwas bedrückte. Im Gegensatz zu Carlos Esteves hatte das aber nichts mit Empathie zu tun, sondern mit der Dechiffrierung mimischer Signale, die Anzeichen für Ärger und Trauer waren. Die Trauer überwog deutlich: Ihre Pupillen waren stark erweitert, was ihm die Intensität ihrer emotionalen Beteiligung signalisierte. Sie sprach mit tiefer und leiser Stimme, den Blick nach unten gesenkt. Die Augenbrauen-Innenseite war nach oben gezogen. Beteiligter Muskel: innerer Anteil des Frontalis, des Stirnmuskels.
Die Lippen zeigten sich angespannt und schmal – Ärger. Beteiligter Muskel: Orbicularis oris, der Ringmuskel des Mundes. Gleichzeitig war hier der Ansatz des Depressor anguli oris ersichtlich, der Mundwinkelniederzieher, der die Vermischung von Ärger mit Trauer für Lost ablesbar machte.
Im Kontext mit dem toten Bankangestellten und ihren Aussagen ergab sich für Leander, dass der Mord an dem Mann sie persönlich belastete.
Deshalb versuchte er, ihr etwas von ihrer Last zu nehmen: »Egal, was wir getan hätten«, sagte er, »es hätte nichts daran geändert, dass Senhor Pontes auf eigenes Risiko den Raum mit den Schließfächern betreten hat. Im Übrigen weist das Mitführen der geladenen Waffe darauf hin, dass er sich über das Risiko seines Verhaltens bewusst gewesen ist.«
»Danke, ja, das ist alles richtig«, sagte sie. »Und Sie hatten auch recht, was das Ablenkungsmanöver betrifft.«
Lost hatte tatsächlich die richtigen Schlüsse gezogen. Er hatte recht behalten mit seiner Einschätzung, dass die Explosionen und Schüsse oben in São Brás der Ablenkung für den Überfall dienten. Und mit seiner Vorhersage der Ablage der gefälschten Hologramme im Austausch mit den echten.
Senhora Barbosa hatte ihnen inzwischen die Nummer des Schließfaches und den Code per SMS zukommen lassen: Schließfach 236 und Code 236. Das Fach war unbeschädigt, aber die Rolle mit den Hologrammen nicht echt, wie Isadora ihnen umgehend nach ihrem Eintreffen hier hatte bestätigen können.
»Was fehlt denen noch für den Druck von Banknoten, Senhor Lost?«
»Ich warte noch auf die Liste. Aber im Zweifelsfall nur noch eine professionelle Druckerei mit kriminellen Ambitionen.«
Graciana nickte Carlos zu, der ihr Nicken erwiderte: Er würde gleich morgen früh herumtelefonieren und eine Übersicht zusammenstellen.
Pontes’ Leiche war schon in die Rechtsmedizin abtransportiert worden, Doutora Oliveira hatte von sich aus angerufen, denn sie wohnte in Estoi und hatte all die Sirenen gehört, die von den Fahrzeugen stammten, die aus allen Himmelsrichtungen nach São Brás ausrückten.
Die Kollegen Alves und Romão hatten den Einsatz in dem Ort die letzte Stunde über geleitet. Nun, da sich Losts Prognose bewahrheitet hatte, orderten sie ihren eigenen Kriminaltechniker zu Isadoras Entlastung an, damit die sich um die Spuren hier an den Schließfächern kümmern konnte.
Sie war vor nicht mal fünf Minuten mit ihrer großen, schwarzen Tasche, der mala magica, bei ihnen eingetroffen und hatte gleich mit der Arbeit begonnen.
»Habt ihr eine Patronenhülse gesehen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Dann hat der Täter sie mitgenommen.«
Graciana nickte – auch das passte. Die Professionalität und Kaltblütigkeit, die noch warme Patronenhülse aufzusammeln, nachdem man einem Mann in den Kopf geschossen und getötet hatte.
Carlos war an die Schließfächer herangetreten. In einigen von ihnen befanden sich noch Dinge: Kleinkram, Persönliches, Urkunden, Fotos. Ein Teil der Schließfachinhalte lag auch auf dem Boden verstreut herum.
Er schnappte sich sein Handy und rief bei Ana Gomes an, um sie und Rui Aviola hierher zu beordern. Die beiden arbeiteten auf dem Revier der GNR in Moncarapacho und saßen dem Irrtum auf, ihre Affäre sei immer noch geheim, während der gesamte Mittelmeerraum Bescheid wusste. Wollte er beide erreichen, musste er nur ihn oder sie anrufen, weil sie keine freie Minute die Finger voneinander lassen konnten. Er entschied sich für Ana, die vor einer halben Stunde aus São Brás de Aportel abgerückt und vermutlich schon in Fuseta eingetroffen war.
»Jetzt noch? Es ist Mitternacht.«
»Ja.«
Er hörte, wie sie seufzte.
»Und bring Rui mit, es gibt jede Menge zu tun.«
»Ich weiß nicht, wie schnell ich den jetzt erreiche.«
»Ach, das wird schon. Ihr macht hier eine Inventur.«
Und so ging es weiter: Sie mussten Ordnung ins Chaos bringen, Antworten finden und Aufgaben delegieren.
Warum war Pontes hier gewesen? Hatte ihn jemand geschickt? Aus eigenem Antrieb? Warum war er mit der Pistole hier heruntergekommen?
Dann benötigten sie jemanden vom Sicherheitsteam oder der IT : Wieso war kein Alarm ausgelöst worden?
Eine Fahndung einzuleiten, war unsinnig. Sie hatten im Augenblick nicht mal den kleinsten Anhaltspunkt. Keine Zeugen.
Sie wussten nicht, um wie viele Täter es sich gehandelt hatte. Wie sie hergekommen waren – zu Fuß? Mit dem Auto?
»Ja«, stimmte Carlos Esteves ihr zu, als sie es aussprach, »wir haben doch einen entscheidenden Vorteil.«
Graciana warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Die wissen nicht, was wir wissen«, fuhr Carlos fort, »die glauben, sie haben es mit Polizisten zu tun, die noch keine Ahnung haben, was genau in São Brás passiert ist. Polizisten, die glauben, es dreht sich hier um einen Bankraub, bei dem die Täter Geld und Wertsachen erbeuten wollten. Die wissen nicht, dass wir auf ihrem Kenntnisstand sind: Millionen im großen Stil drucken. Wir sollen glauben, das sind ganz simple Räuber, aber in Wirklichkeit planen die hier einen Jahrhundertcoup, Grace.«
Sie musste schmunzeln. Er verstand: »Entschuldige.«
»Warum entschuldigen Sie sich?«, fragte Leander.
»Mir ist da was rausgerutscht«, sagte Carlos.
Lost musterte ihn von oben bis unten: »Wo?«
»Nein, Lost. Eine Formulierung«, sagte Carlos und zündete sich eine an und sog den Rauch so stark ein, dass die Spitze hellrot aufglühte.
Es war wie eine sanfte Berührung gewesen, dachte Graciana, nein, nicht mal das, eher wie der Hauch einer Berührung. Ganz sanft.
Grace.
Nur Soraia und ihre Mutter nannten sie so. Ein Kosename.
»Er hat Grace gesagt«, klärte sie Leander auf, während Carlos sich offenbar gerade über sich selbst wunderte und mit großer Hingabe die Schweißnähte der Tresortür betrachtete. Die und seine Schuhspitzen.
»Soraia nennt mich manchmal so, ganz selten auch meine Mutter.«
Sie erklärte es ganz sachlich, weil Carlos den Eindruck machte, als sei er bei etwas ertappt worden und sie ihm die Scham darüber nehmen wollte.
»Es ist eine Art Kosename. Und so etwas benutzt man, wenn man sich besonders eindrücklich oder liebevoll an jemanden wendet.«
»Eindrücklich«, bestätigte Carlos.
Kosename, das sagte Leander was. Statistisch gesehen benutzten niedrige Bildungsschichten bei der Benennung des Partners gerne Begriffe wie »Hase«, »Bär« oder »Maus«. Sie bezeichneten sich also gerne als Tiere. Höhere Bildungsschichten bevorzugten »Schatz«. Möglicherweise begründet in einer monetären Konnotation.
»Und warum … «, setzte Lost an, um jetzt nachzubohren, aber Carlos war hellwach und unterbrach ihn: »Soraia nennt Sie Le-an-der. Wie eine Melodie. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen?«
»Ich bin unmusikalisch.«
»Ach, kommen Sie.«
»Ich war der Meinung, sie spricht meinen Namen gedehnt aus.«
»Nein«, schloss Graciana sich an, »also: natürlich, ja, das hört sich gedehnt an. Aber es ist wie ein Hauch, eine Melodie, Le-an-der, das ist wie eine sanfte Brise, die einem über die Haut streicht.«
»Also in etwa, wie Sie Ihre Schwester manchmal ›So‹ nennen«, sagte Leander.
»Ja, genau.«
»Wie«, fragte Carlos, »nennen Sie Soraia denn, wenn Sie gerade sehr … vertraut miteinander sind?«
»Soraia.«
Irgendwie wunderte das niemanden, und Isadora musste schmunzeln, und als Graciana das bemerkte, sie ebenfalls.
Leander verstand nicht, warum das ein Kosename sein sollte, schließlich war es nur eine Abkürzung, beschloss dann aber, die Sache auf sich beruhen zu lassen und sich wieder auf den Fall zu konzentrieren.
»Vielleicht ergibt sich ja was aus den Spuren in São Brás?«, sagte er.
Carlos wirkte erleichtert.
Die Spuren, die sie in São Brás de Alportel gesammelt hatten, waren zu indifferent, nahm Isadora den Ball an. »Ja, Plastiksprengstoff, so wie beim Transporter-Überfall. Und ja: Munition aus einem Sturmgewehr, Näheres im Laufe des nächsten Tages. Aber das war es auch schon.«
Die GNR in São Brás hatte schon weit über 50 Zeugenaussagen aufgenommen. Leute, die meinten, verdächtige Personen gesehen zu haben.
»Also gut«, sagte Graciana. »Dann warten wir also erst einmal auf die Liste aus dem Finanzamt. Damit wären wir den Tätern zum ersten Mal einen Schritt voraus. Könnten Sie, Senhor Lost, so gut sein, noch einmal Druck zu machen im Ministerium? Jede Stunde kann nun entscheidend sein.«
Sie hatten Glück. Das Ministerium hatte bereits alles Notwendige vorbereitet, die Liste wurde ihnen in einem speziell geschützten PDF zugeschickt.
»Das sind ganz schön viele«, stellte Carlos fest, als sie die Komponenten durchgingen, »ist doch viel einfacher, gute, ich sag mal, normale Fälschungen zu machen?«
»Der Aufwand ist geringer, aber dafür ist das Risiko, damit aufzufliegen, auch deutlich höher«, widersprach Leander. »Wenn es aber tatsächlich gelingen sollte, Falschgeld zu drucken, das qualitätsidentisch mit dem offiziellen Geld ist, hätten die Verbrecher eine nie versiegende Quelle für Bargeld erschlossen. Nicht einmal die Seriennummer wäre ein Schutz. Es wäre einfach nicht zu unterscheiden, was die Fälschung ist und was das Original. Man müsste die komplette Serie zurückrufen, um das Problem zu lösen, und das ist geradezu unmöglich.«
Graciana scrollte herunter. Bei dem vorletzten Eintrag handelte es sich um den Prägestock in dem Bilt-Transporter. Es blieb nur noch ein Eintrag offen, der für den kommenden Tag terminiert war, den Sonntag. »Die Offsetplatten.«
»Also gut«, sagte Carlos. »Wir müssen das Ministerium sofort kontaktieren. Am sichersten wäre vermutlich, wenn sie die Lieferung einfach abblasen.«
»Ich bin mir da nicht so sicher«, wandte Leander Lost ein, und Graciana und Carlos schauten ihn fragend an.
»Es gibt irgendwo eine undichte Stelle. Die Täter kennen diese Liste. Die Frage ist: woher? Vermutlich gibt es jemanden, der sie ihnen überlassen hat gegen Bezahlung oder Erpressung. Wenn sich die undichte Stelle im Finanzministerium befindet, besteht die Gefahr, dass die Täter es erfahren, wenn die Lieferung von offizieller Seite ausgesetzt wird. Und dann tauchen sie ab.«
»Was schlagen Sie vor?«, fragte Graciana.
»Ich habe Senhora Barbosa darauf hingewiesen, Stillschweigen zu bewahren. Wenn wir davon ausgehen, dass die stellvertretende Finanzministerin nicht mit den Tätern kollaboriert, weiß niemand von unserem jetzigen Kenntnisstand. Ich gehe im Augenblick davon aus, dass wir uns auf Senhora Barbosas Diskretion verlassen können. Anders gesagt: Sie ist vermutlich nicht die undichte Stelle. Aber es gibt eine.«
»Genau«, nahm Carlos den Faden auf, »die Täter wussten von dem Prägestock im Bilt-Transporter. Sie wussten, in welchem Bankschließfach sich die Hologramme befinden. Woher?«
»Entweder, eine eingeweihte Person steht mit ihnen im Austausch«, folgerte Leander, »oder sie sind auf irgendeine Weise selbst in den Besitz der Liste gelangt. Senhora Barbosa sagt, im Finanzministerium sind drei Personen in den Prozess involviert: Sie, ihre Assistentin und deren Vorgängerin. Die Vorgängerin ist allerdings verunglückt.«
»Und hatte sie die Liste bei sich?«, fragte Graciana.
»Ja«, bestätigte Lost, »aber sie wurde dem Ministerium durch die zuständige Polizeidienstelle ausgehändigt. Der Unfall hat sich ungefähr zwei Kilometer nördlich von Portimão ereignet.«
»Verstehe. Also Barbosa, ihre Assistentin oder die Polizisten am Unfallort oder die Besatzung des Rettungswagens«, zählte Graciana auf.
»Und die Kollegen von der Polícia Judiciária?«, fragte Leander.
»Unfall ist GNR , nicht PJ «, stellte Carlos klar, »bei einem Verkehrsunfall war die GNR da. Mit Verkehrsunfällen hat die Polícia Judiciária nichts am Hut. Aber die GNR könnte mit drinstecken.«
»Kennen Sie Senhora Rafaela Romão und Senhor Gabriel Alves gut?«, fragte Lost.
Graciana, Carlos, Isadora – alle drei starrten ihn an, als hätte er etwas Ungehöriges gesagt.
»Das ist absurd«, brach es aus Carlos heraus, »völlig absurd. Wir arbeiten seit Jahren mit denen, wir stimmen uns ab.«
»Sind sie deshalb per se unverdächtig?«, fragte Leander.
»Nein, es ist nur … schwer vorstellbar!«, sagte Carlos.
»Für mich nicht«, entgegnete Leander knapp.
Carlos warf Graciana einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Inspektor Alves ist angeschossen worden, und Senhora Rafaela hat einen der Täter erschossen. Wenn sie mit denen unter einer Decke stecken, widerspricht sich das.«
»Auf den ersten Blick möglicherweise«, sagte Lost, »die Schusswunde von Senhor Alves ist allerdings nur eine Fleischwunde. Nichts, was bedrohlich für seine Gesundheit gewesen wäre.«
»Sie meinen als eine Art Alibi?«
»Exakt. Ohne weitere Zeugen könnte man ihm die Wunde mit einem gezielten Schuss aus dem entsprechenden Sturmgewehr beigebracht haben. Ganz sicherlich würde das dafür sorgen, ihn als Mittäter nicht in Betracht zu ziehen.
Sie sagen selbst, die Kollegen sind für die Westalgarve zuständig. Eine PJ mit Sitz in Portimão – wo sich übrigens der Unfall der Frau ereignet hat, die die Liste mit den Transporten bei sich hatte – ist am Tag des Überfalls auf den Werttransporter schneller vor Ort als alle Kollegen an der Ostalgarve. Obwohl sie über 100 Kilometer von ihrem Dezernat entfernt waren.«
»Sie hatten hier zu tun, eine Zeugenbefragung«, entgegnete Carlos Esteves, »das kommt vor. Senhora Graciana und ich sind auch schon im Westen unterwegs gewesen. Sie übrigens auch, Senhor Lost, in Lagos, als es um Flores Yola gegangen ist.«
»Ich erinnere mich, Senhor Esteves.«
Und Graciana erinnerte sich ebenfalls: An dem Tag, an dem ihr Bruder erschossen wurde, gehörten Rafaela Romão und Gabriel Alves zu den ersten Helfern vor Ort. Sie waren zu Elias’ Beerdigung gekommen und hatten sich rührend um Antonio gekümmert – aber war das aus Mitgefühl geschehen oder aus Reue?
»Gut«, legte Carlos jetzt nach, »man kann die Verwundung von Inspektor Alves vorsätzlich vornehmen – aber wenn er und Senhora Rafaela mit den Tätern unter einer Decke stecken, dann macht es keinen Sinn, dass sie einen von denen erschießt.«
»Wer hat denn eigentlich bestätigt, dass sie diesen Schuss abgefeuert hat?«
»Sie selbst hat es gesagt. Und das Projektil stammt zweifelsfrei aus ihrer Pistole«, sagte Graciana, die bereits ahnte, worauf Lost hinauswollte.
»Sie könnte die Waffe einem der Täter gegeben haben, damit der den Schuss auf seinen Komplizen abgibt.«
»Und warum sollte der das tun?«, fragte Carlos.
»Amado hat seine Komplizen beim Zugüberfall bei Braga an die Polizei verraten.«
Graciana gab sich Mühe, nicht zu deutlich zu nicken: Die beiden waren höchstwahrscheinlich César und Ulisses Cruz gewesen.
»Die hatten«, fuhr Lost fort, »also noch eine Rechnung mit ihm offen (Tucker, S. 97, Abs. 3) und haben jetzt möglicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe (Tucker, S. 66, Abs. 1) geschlagen. Damit hätten sie sich auf elegante Weise seiner entledigt und Rafaela Romão zugleich ein erstklassiges Alibi verschafft. Denn es bedarf schon einer Menge Vorstellungskraft, eine Polizeibeamtin, die einen von drei Tätern erschossen hat, zu verdächtigen, mit den anderen beiden zu kooperieren.«
Esteves musste sich setzen, weil Lost gerade die Welt seiner Überzeugungen aus den Angeln gehoben hatte. Auch Polizisten verließen sich aufeinander. Wenn das nicht gegeben war, war auf nichts mehr Verlass. Und daran wollte er nicht glauben.
»Ich habe mir die Akten angesehen«, fuhr Leander mit Blick auf Graciana fort, »die Inspektoren Alves und Romão sind auch bei dem Überfall als Ersthelfer vor Ort gewesen, bei dem …«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn.
»Ja, stimmt«, räumte Carlos ein, »aber sie haben geholfen.«
»Korrekt«, antwortete Leander, »selbst, wenn sie mit den Tätern von damals gemeinsame Sache gemacht haben, kann man ihnen unterstellen, dass sie den Tod von Elias Rosado und die schwere Verletzung von Antonio Rosado nicht billigend in Kauf genommen haben. Vorhin in São Brás de Alportel hat Rafaela Romão in Bezug auf die Täter die Vermutung geäußert, es seien nicht dieselben, die den Bilt-Transporter überfallen haben. Wörtlich hat sie gesagt, ich zitiere: Ich glaube nicht, dass die so kaltblütig sind, die haben gerade einen Komplizen verloren, den ich erschossen habe. «
»Das war eine Lüge. Ich kann Ihnen bloß nicht mit Sicherheit sagen«, sagte Lost, »ob sich die Lüge auf den ersten Teil des Satzes, nämlich die Kaltblütigkeit, bezogen hat oder auf den zweiten. Wenn sie sich auf den zweiten Teil bezogen hat, hat Rafaela Romão beim Schusswechsel nicht Gonçalves Amado getötet. Wie wir wissen, stammte die tödliche Kugel aber aus ihrer Dienstwaffe. Wenn sie also nicht selbst gefeuert hat, kann es nur eine andere Person gewesen sein. War es ihr Kollege Gabriel Alves, gibt es keinen Grund, uns oder anderen das vorzuenthalten. Er hätte sich ja ebenso wenig strafbar gemacht wie sie.
Wenn es die beiden Polizisten vor Ort nicht waren, bleibt per Ausschlussverfahren nur die Möglichkeit, dass es einer der beiden Täter war. Daraus folgt zwangsläufig: Beide Seiten müssen sich abgesprochen haben. Die verbleibenden beiden Täter müssen die Dienstwaffe von Rafaela Romão erhalten und benutzt und – noch wichtiger – sie im Anschluss an die Ermordung von Gonçalves Amado an sie zurückgegeben haben.«
Für einige Momente war es äußerst still.
Die anderen drei folgten nun seinen Gedankengängen und suchten vergebens nach Abzweigungen, die er in seiner logischen Herleitung möglicherweise übersehen hatte. Aber es gab keine.
Carlos’ Blick wanderte von Leander hinüber zu Graciana, die an einen weit entfernten Punkt sah und die Sache gedanklich erneut abschritt, um dann daraus zu schlussfolgern, was das bedeutete. Sowohl für den Überfall von damals als auch für die jetzige Situation.
Auf jeden Fall wies sie Leanders These nicht sofort als völlig undenkbar zurück.
»Es gibt einen simplen Weg, um diese Möglichkeit schnell zu verifizieren oder zu widerlegen«, schaltete Isadora Jordão sich ein.
Carlos nickte: »Du meinst, es finden sich vielleicht Teile der Treibladung auf Amados Kleidung.«
»Genau«, sagte die Kriminaltechnikerin, »Rafaela Romão stand ungefähr 20 Meter von ihm entfernt. Es dürften sich bei so einer Distanz keinerlei Partikel mehr finden lassen. Anders sieht das aus, wenn Senhor Lost richtig liegt und eine der beiden Brüder aus kurzer Entfernung gefeuert hat.«
»Kannst du das überprüfen?«, fragte Graciana.
Isadora nickte: »Jetzt, nehme ich an?«
»Sim. Lass alles andere liegen. Das hat absoluten Vorrang. Und ich rufe die Doutora an. Nach 20 Metern hat so ein Geschoss schon einiges von seiner Abschussgeschwindigkeit verloren. 20 Meter oder ein Meter machen durchaus einen Unterschied in der Eindringtiefe der Kugel in einen menschlichen Körper.«