TAG SIEBEN

33.

Fuseta lag still da, das Meer war ruhig. In den Gassen brannten nur noch die Laternen und tauchten alles in ein warmes, gelbliches Licht. Straßen und Restaurants waren leer gefegt. Um halb drei nachts musste man weit fahren, um noch eine Bar zu finden.

Leander hatte die Ducati Scrambler die letzten hundert Meter ohne Motor auslaufen lassen, um niemanden in der Canto das Baleias zu wecken. Er warf sich das Jackett über die Schulter, lockerte die Krawatte und betrat das Gelände, vorbei an zwei streunenden Katzen und einer Palme direkt neben dem gemauerten Außengrill.

Es waren heute viele Informationen gewesen, die verarbeitet werden mussten. Es hatte ihn ermüdet und ausgelaugt. Ständig die Mimik der anderen zu dechiffrieren und wie ein Spürhund nach Mustern für die Dinge zwischen den Zeilen Ausschau zu halten, während man gleichzeitig mit ihnen sprach oder die Informationen, die sie von sich gaben, klassifizierte und in Kontext zu den anderen setzte, über die sie bereits verfügten.

Ihm war nach einem Sprung in den Pool. Gerne ließ er sich dort nachts mit geschlossenen Augen und nackt zum Boden sinken, um kurz ganz bei sich zu sein und alles andere abschalten zu können. Kein Geräusch, kein Lichtreflex, kein Geschmack, keine Berührung bis auf das Wasser, das einen komplett umschloss. Stille. Dunkelheit. Vielleicht war es ein Sprung zurück in den Mutterbauch, wer konnte die Herkunft von Assoziationen und Gefühlen schon definitiv entschlüsseln?

Für Leander bot es das Maximum an Geborgenheit. Kompletter konnte er die dröhnende Welt da draußen nicht ausschließen. Deshalb war diese absolute Ruhe vielleicht auch ein Vorgeschmack auf den Tod.

Doch heute war es schon zu spät dafür. Die Casinhas, in denen Zara (und Toninho?) in dem rechten und Miguel Duarte in dem linken schliefen, waren nur wenige Schritte entfernt. Er wollte sie nicht wecken.

Nicht weit von ihm entfernt musizierte eine Grille eifrig, um eine unsichtbare potenzielle Partnerin zu beeindrucken. Bei Grillen waren die Weibchen stumm. Leander zählte die Laute, während er auf seiner Armbanduhr 25 Sekunden abwartete. 57 Laute gab das kleine Tier in diesem Zeitintervall von sich. Nach einer Faustformel war die Anzahl durch 3 zu teilen – was 19 ergab – und mit der Zahl 4 zu addieren. Die Tiere waren nämlich um so agiler, je wärmer es war. Die Anwendung der Faustformel ergab die ungefähre Temperatur: 23°C.

Leander hatte noch eine andere Idee als den Pool. Eine, die ihm noch mehr Dunkelheit bot.

Am Ende des Grundstücks passierte er eine Pforte, lief ein paar Meter einen Hang hinab und überquerte dann einfach die Gleise der Linha da Algarve, die hier verlief.

Keine drei Minuten später setzte er sich in den Sand vor der Lagune. Der Halbmond stand tief am Himmel, sein Schein spiegelte sich auf der Lagune und dem weiten Ozean dahinter. Leander sah die Lichter der einsamen Fischerboote weit draußen.

Eine Brise fuhr ihm durchs Haar, sanfte Wellen erreichten den Strand. Und weiter vorne, hinter der vorgelagerten Insel, ertönte die Brandung des Atlantiks.

»Störe ich Sie?«

Leander zuckte unwillkürlich etwas zusammen und blickte über die Schulter: Duarte. Anzughose, Hemd, Jackett – aber barfuß.

»Ja«, sagte Leander.

Duarte blieb abrupt stehen und nickte: »Dann entschuldigen Sie, bitte.«

»Gerne.«

Miguel drehte sich um und trat den Rückzug an.

»Wohin gehen Sie?«

»Zurück.«

Leander nickte.

»Weil ich Sie störe«, fügte Miguel hinzu. Er war stehen geblieben und trug die Hoffnung im Gesicht, Leander möge ihn doch zu sich bitten.

»Ja. Aber die Störung hat sich nun ereignet. Sie können sich gerne hier hinsetzen, wenn Sie möchten. Mich würde interessieren, wie es Ihnen geht.«

Duarte setzte sich neben ihn. Ein paar wundervolle Augenblicke der Stille blickten sie auf das Meer und den Nachthimmel.

Duarte legte ihm einem Impuls folgend plötzlich den Arm um die Schultern.

Und Leander, der das so sehr genoss wie den Hautkontakt mit einer Anakonda, hielt es dennoch aus. Er hielt es aus, weil er sein Empfinden vor dem Bedürfnis des Mannes an seiner Seite nach Nähe zurückstellte.

»Ich ertaste mir mit ihrer aller Hilfe gerade diesen Miguel Duarte, der ich war und … der ich wieder sein werde.«

»Ja«, sagte Leander.

Der Leuchtturm weiter im Westen, auf Culatra, sandte sein Signal an all die Fischer und Seeleute, die sich unsicher waren, wo sie sich befanden, hinaus in die Nacht.

Wie eine tröstende Berührung.

»Ich habe eine Erinnerung wiedergefunden. An meinen Onkel. Und wissen Sie, was daran erstaunlich ist?«

»Dass Sie sich erinnern?«

»Nein, das heißt: Ja, auch. Es kommen ja einige zurück. Erstaunlich daran ist: Er ist dement geworden im Alter.«

Miguel nahm – vielleicht wieder einem Instinkt folgend – den Arm von Losts Schultern.

Der seufzte unwillkürlich.

»Es waren zunächst so kleine Dinge. Entfernte Verwandte nicht mehr erkennen. Den Wecker in den Kühlschrank stellen. Ein Wort nicht mehr finden. Habe ich eigentlich geraucht? Vor meinem – Unfall?«

Hatte er. Leander ignorierte die Frage mit Rücksicht auf Duartes Gesundheit und fragte stattdessen:

»Was war mit Ihrem Onkel?«

»Im Grunde war es wie bei mir. Mit einem großen Unterschied. Mein Onkel hatte keine Wahl. Und es gab kein Zurück. Wie ein Boot, das am Kai vertäut ist, und bei dem Seil für Seil gekappt wird, bis es unwiederbringlich ins Meer hinaustreibt.«

Sie schwiegen einen Moment. Schauten in die leichte Brandung. Sie hörten die Wellen, die ans Ufer schlugen. Den Rhythmus der Nacht.

»Wenn ein Kind aufwächst«, sagte Duarte, »dann nimmt es Zug um Zug Dinge an, formt sich, unterscheidet sich, reift zu einem Charakter. Viele Eigenschaften sieht man schon früh, andere bilden sich später aus. Die Demenz hat meinem Onkel all das wieder geraubt. Als hätte sie akribisch jede einzelne Errungenschaft am Ende wieder eingesammelt. Jeden Tag etwas. Ein bisschen. Und noch ein bisschen, und am Ende eines Jahres waren vier, fünf Merkmale einfach verblasst, verloren. Wie in einer Sumpflandschaft untergegangen. Versunken.«

Man konnte einfach im Sand der Lagune sitzen und der Brandung zuhören, dachte Lost, und wer ihr zugehört hatte, einmal wirklich zugehört hatte, wusste, dass keine Brandung mit einer anderen vergleichbar war. Das, was man jetzt hörte, konnte später von einem anderen nicht mehr gehört werden. Die Brandung gab es nur im Augenblick. Nicht davor, nicht danach. Glücklich, wer sie hörte und darum wusste.

Miguel zauberte einen kleinen Kamm hervor und zog sich den Scheitel nach. »Es ist so«, nahm Miguel Duarte den Faden wieder auf, »dass der Miguel Duarte, der ich war, einige … unvorteilhafte Facetten in sich vereint. Ich hab irgendwo Pavão aufgeschnappt. Pfau. In meinem Gedächtnis. Irgendwo. Pavão, fiel das mal im Zusammenhang mit mir?«

»Mehrfach.«

Duarte lächelte mit einer Traurigkeit: »Ja, dachte ich mir. Es ist so, Senhor Lost: Der Duarte von früher, der war kein angenehmer Zeitgenosse. Für Sie nicht, nicht für die Abteilung. Ich erinnere mich an Sachen, die nicht schön sind.«

»Das freut mich«, sagte Lost. Duarte sah ihm in die Augen und nickte jetzt, er lächelte.

»Ich merke, dass ich wieder zu ihm werde. Mit jeder neuen Erinnerung schlüpfe ich in ihn zurück. Und mit jeder neuen Erinnerung übernimmt er mich. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß aber, dass der Miguel Duarte von früher … nicht einfach war.«

»Ja«, sagte Leander.

Stille. Die Brandung. Und keine Grillen.

»Das ist wie mit meinem Onkel – ich werde das vermutlich nicht mehr wissen. Dass es einen kurzen Moment gab, in dem ich diese Eigenschaften nicht besaß und auch nicht mochte. Ich werde wieder der alte Miguel sein.«

»Das ist doch gut.«

Plötzlich hatte Miguel Tränen in den Augen, und da Leander nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, klopfte er ihm mit der flachen Hand dreimal auf den Rücken. Wie Fußballspieler das miteinander machten. Etwas zu fest vielleicht.

»Das wird schon«, sagte er aufmunternd (Tucker, Appendix II , Blödsinnige Ermunterungen ).

»Ich möchte ein besserer Miguel Duarte sein. Aber … ich fürchte, wenn ich mich an immer mehr erinnere, werde ich wieder der alte sein. Der alte Miguel Duarte war arrogant.«

»Das könnte man so sagen«, wusste Lost. »Ihre Arroganz ist nach meinem Dafürhalten hauptsächlich eine Folge Ihres Minderwertigkeitskomplexes. Das ist nichts Schlimmes, ich habe selbst eine Menge davon. Aber ich habe sie gut sortiert. Alphabetisch natürlich.«

»Ist es … mein Vater?«

»Ganz recht.«

Ein Geräusch. Sie schauten sich beide über die Schulter.

Es war Carlos. »Dachte es mir. Wegen der offenen Pforte. Zum Glück hab ich drei Gläser dabei.«

Er nahm neben Miguel Platz, sodass der sich nun in der Mitte befand, zog eine Flasche aus einer grünen Plastiktüte und goss ihnen eine helle Flüssigkeit ein. Duarte nippte daran.

»Ist das Portwein?«

»Ganz recht. Weißer. So was gibt es nur in Portugal. Spanier kennen so was nicht.«

Sie tranken.

»Oha.«

»Mein Lieber.«

»Gut.«

»Kann ich noch einen?«

»Gerne, Miguel«.

Carlos goss ihnen ein.

»Du erinnerst dich wieder an Sachen.«

»Ja. Es kommen allmählich immer mehr Erinnerungen zurück. Du hast gesagt, ich bin ein Fan vom FC Porto.«

»Es war ein Versuch, dich von guten Sportlern zu überzeugen.«

»Aber ich bin ein Fan von Real Madrid. Ich hab mich erinnert.«

»Jeder kann sich mal irren.«

Carlos grinste, und Miguel Duarte begriff die Art von Scherz.

»Senhor Lost, Sie haben eine sehr hübsche Freundin.«

»Ja«, sagte er. »Sie hat schöne Grübchen.«

»Ich habe ihr einen Kuss gegeben. Es war ein … Reflex. Der Miguel von früher hätte das vielleicht verschwiegen. Aber ich wollte … einen besseren Anfang für uns.«

»Hat sie den Kuss erwidert?«, fragte Leander.

»Nein.«

»Dann ist es gut.«

»Auf uns, Amigos.«

Das sanfte Klirren der Gläser. Sie tranken. Setzten ab. Den Blick aufs Meer.

»Ich kann mich nicht sattsehen daran«, sagte Carlos. Und nach einer kurzen Pause: »Eben, als ich kam, habt ihr gerade über deinen Vater gesprochen, hab ich recht?«

»Ja.«

»Weißt du was, Miguel: Hör auf, deinem Vater genügen zu wollen, wenn ich dir den Rat geben darf. Dann bist du ein freier Mann.«

»Aber …«

»Ja?«

»Er … er müsste mich ja gar nicht kümmern. Ich habe mich an Situationen mit meinem Vater erinnert. Er hat mich verletzt, um mich zu – gestalten. Er hat mich zu was formen wollen … zu seinem Idealbild seines Sohnes oder so. Mein jüngerer Bruder hat sich in ein Kloster verkrochen, auch daran habe ich mich inzwischen erinnert. Also hat mein Vater sich voll und ganz auf mich konzentriert.«

»Was willst du denn von ihm, Miguel?«, fragte Carlos.

Duarte überlegte und zeichnete dabei mit den Fingern Linien in den Sand.

»Ich weiß nicht. Er war ein berühmter Torero. Ein richtiger Mann. Asketisch, klug, und … ja, unbarmherzig.«

»Finden Sie das erstrebenswert«, fragte Leander, »Unbarmherzigkeit?«

»Nein«, sagte Duarte.

»Was bewunderst du denn an ihm?«, fragte Carlos.

»Tja, ich …«, begann Miguel und musste kurz nachdenken, »seine Unbarmherzigkeit gegen sich selbst. Er tritt in eine Arena und ist bereit zu sterben. Das sagt er nicht, er sagt so was überhaupt nicht. Es wird über ihn gesagt, und es stimmt. Er geht hinaus in die Arena und ist bereit zu sterben. Er ist dazu bereit, und ich bin es nicht. Und das macht den Unterschied. Und vielleicht blickt er deshalb auf mich herab.«

»Noch ein Schlückchen?«, fragte Carlos.

»Warum nicht.«

»Seine Liebe werden Sie erst bekommen, wenn Sie aus seinem Schatten treten«, sagte Lost. »Wenn Sie tun, was Sie tun, weil Sie das so wollen. Und nicht um seiner Anerkennung willen. Dann und nur dann wird er Sie akzeptieren. Sofern er das überhaupt kann.«

Carlos war überrascht.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe darüber gelesen.«

Natürlich.

»Hat Ihr Vater Sie so geliebt?«, fragte Miguel Leander interessiert.

»Ich weiß nicht, wer mein Vater ist – oder war.«

»Das tut mir leid«, sagte Miguel. Und Leander sah, dass es stimmte.

»Und deiner, Carlos?«

»Ich denke schon«, antwortete der und lächelte in die Nacht, um sich dann Miguel Duarte zuzuwenden, »er hat mich ebenso geformt wie dein Vater dich, Miguel. Und er hat mich dann und wann auch verletzt dabei. Das kommt vor. Väter sind auch nur Menschen. Sie sind in der Sache ja auch erst mal Novizen. Aber sie würden sich nicht die Mühe geben, wenn wir ihnen einerlei wären, hm?«

Miguel schluckte leer. So hatte er das noch nie betrachtet. Oder vielleicht doch und konnte sich gerade bloß noch nicht daran erinnern?

Er hielt Carlos sein leeres Glas hin: »Ich brauch noch einen, glaube ich.«

Carlos schenkte ihm ein, und Duarte trank.

Leander stand auf und entledigte sich nach und nach seiner Kleidung.

»Gehen Sie schwimmen?«

»Ja.«

Eine Minute später rannten drei nackte Männer – einer mit einer grünen Plastiktüte auf dem Kopf – auf die Lagune zu und warfen sich ins Wasser, und Miguel und Carlos lachten und prusteten. Es war noch angenehm warm und trotzdem eine Erfrischung. Genau richtig.

Sie kraulten hinaus, vorbei an kleinen Booten, die hier ankerten, sie stoppten etwa in der Mitte zwischen dem Ufer und der vorgelagerten Insel und gingen einer nach dem anderen und ohne sich miteinander abzusprechen in die Rückenlage. Mit dem Sternenhimmel über sich trieben sie im Wasser. Und als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen sie das Band der Milchstraße vom Horizont bis hoch hinauf ins Himmelszelt.

Sie sprachen nichts, sie ließen sich nur von der sanften Strömung tragen und lauschten dem leichten Wind. Auf seltsame Weise waren sie eins mit der Lagune.

 

»Mir wird kalt«, sagte Duarte nach einer Weile.

»Ich komme mit raus«, schloss Carlos Esteves sich an.

Lost sagte nichts. Er blickte hoch zur Andromeda-Galaxie.

»Kommen Sie auch mit raus, Senhor Lost?«, fragte Duarte.

»Ich tauche noch.«

»Man kann doch unter Wasser gar nichts sehen.«

»Eben.«

Und damit tauchte Leander ohne ein weiteres Wort und ließ sich auf den Grund sinken. Seine Zehen hatten Kontakt mit dem sandigen Untergrund, die Dunkelheit war nahezu absolut.

Einige Momente lang hörte er noch die Schwimmgeräusche der beiden Kollegen, die sich auf den Rückweg zum Ufer gemacht hatten. Dann war es still. Es gab für ihn keinen größeren Frieden. Leander lächelte mit geschlossenen Augen, er hätte jauchzen können vor Freude – aber dann hätte er ja Wasser geschluckt.

 

Am Morgen des 30. September, die Sonne kündigte sich im Osten an, torkelte der alte Miguel Duarte von Carlos und Leander gestützt ins Casinha Esquerda. Der neue, der er gewesen war, blieb minütlich verblassend am Ufer zurück. Als sie Miguel auf sein Lager in dem kleinen Häuschen betteten, bemerkte Leander, wie viele Fotos er schon von der Wand genommen und in dem kleinen Karton gestapelt hatte.

Zusammen mit Carlos trat er wieder hinaus.

»Wir haben noch ein Gästezimmer, das Sie benutzen können«, bot er Carlos an.

»Danke, ich schlafe gerne zu Hause, wenn ich alleine bin.«

»Und wenn nicht?«

»Das war ein Scherz, vergessen Sie’s.«

»Aber Sie haben doch Portwein getrunken – wollen Sie noch fahren?«

»Wer soll mich denn kontrollieren, hm?«, entgegnete Carlos und knöpfte sich das Hemd zu, damit er unauffällig nach unten blicken und Lost so belügen konnte, ohne dass der es bemerkte, weil der keinen freien Blick auf Esteves’ Gesicht hatte: »Ich geh zu Fuß.«

»Das ist sehr vernünftig.« Als er zu Soraia unter das Moskitonetz schlüpfte, wurde sie wach und umarmte ihn schläfrig. Leander vergrub seine Nase in ihrem Nacken und atmete sie ein. Und er hätte schon wieder jauchzen können, weil er das Gegenteil von Saudade empfand.

Aber er erschauerte auch bei dem Gedanken, sie könne eines Tages vor ihm gehen, und wie die Erde dann wieder ein kalter und öder Ort würde.

 

Als Carlos Esteves seine Wohnung in der Rua Miguel Bombarda betrat, die keine Minute vom Kanal in Fuseta entfernt war, sah er ihre Schuhe direkt im Flur stehen.

Er fand sie auf seiner Dachterrasse, wo er sich eine gemütliche Junggesellenecke zusammengestellt hatte. Mit Grill, Hängematte, kleinem Kühlschrank, Couch und einer Matratze auf gestapelten Paletten. Über diesen Platz hatte er ein Segeltuch gespannt, das mittlerweile Patina angesetzt hatte. Nach Norden war es durch die Dachmauer geschützt. Links durch den Aufgang aus dem obersten Zimmer. Und auf der anderen Seite hatte er drei Töpfe mit ausuferndem, weißem Oleander gestellt.

Die ersten Schwalben zogen ihre Bahnen.

Auch bei ihm gab es drei Nester unter dem Vorsprung eines Dachaufbaus. Fuseta war voll von Schwalbennestern.

Graciana war barfuß und lag auf der Matratze.

Sie blinzelte, als er näher trat.

»Ich wollte nicht alleine sein«, sagte sie.

Was unausgesprochen bedeutete, dass sie sich dagegen entschieden hatte, zu ihren Eltern oder Soraia zu gehen.

Er legte sich neben sie auf die Matratze und zündete sich eine Zigarette an.

Graciana wandte sich ihm zu. Ihre Miene war sehr ernst.

»Es stimmt. Rund um das Einschussloch sind lauter Partikel aus der Treibladung. Und Doutora Oliveira hat in Abstimmung mit Isadora den Schusskanal vermessen. Die Kugel ist aus nächster Nähe abgefeuert worden.«

Er brummte etwas, was niemand außer Graciana verstanden hätte. Es war eine Art »Aha«.

»Es … tut mir leid«, sagte sie leise.

Carlos schaute sie an, dann nickte er: »Ich hatte gehofft, dass du das sagst.«

Graciana war irritiert. »Was meinst du?«

»Wir wissen es doch schon die ganze Zeit. Dachtest du, wir alle reden nicht miteinander? Wir wissen doch längst, dass das vermutlich die Mörder von Elias sind, die Brüder Cruz.«

Sie schauten sich direkt an, ihre Augen begegneten sich. Graciana hielt seinem Blick stand, obwohl sie den Impuls spürte, wegzusehen.

»Ich hab dich immer im Blick«, sagte er.

Ob er dabei die letzten Tage meinte oder ihr ganzes Leben, konnte Graciana nicht sagen, aber beides war wahr.

»Ich wollte es für mich behalten«, sagte sie. »Aber … ich kann nicht. Es zu verschweigen, wäre, als würde ich dich belügen, Carlos.«

»Und du belügst mich nicht.«

»Nein. Nie.«

Er nickte. Soweit er das beurteilen konnte, stimmte das.

»Hast du sie dir angeschaut?«, fragte er.

»Ja.« Sie zog einen Laptop unter der Decke hervor und klappte ihn auf. »Komm zu mir.«

Carlos setzte sich dicht neben sie, sodass sie beide bequem auf den Monitor schauen konnten. Er steckte sich noch eine an, während Graciana sich in die Datenbank der Kripo einloggte und dort Ulisses Cruz in die Suchmaske eingab.

Sofort erschienen Fotos von ihm und seinem Bruder César samt Daten, Orten und Delikten, mit denen die beiden sich hier verewigt hatten.

Im Gegensatz zu Gonçalves Amado hatten die Brüder Cruz eine deutliche Spur in der Datenbank der Polizei hinterlassen.

Sie schauten auf vier Fotos, die die Brüder bei ihrer letzten Festnahme einmal frontal und einmal im Profil zeigten.

Der Jüngere, César, wirkte kräftiger und irgendwie mehr unter Strom. Mit einem Blick, als wolle er den Fotografen jeden Augenblick verprügeln. Die Ader, die senkrecht über seine Stirn führte, war geschwollen.

»Niedrige Hemmschwelle«, schätzte Graciana ihn ein.

Carlos nickte: »Auf jeden Fall gefährlich. Der fackelt nicht lange.«

Graciana hatte keine Probleme, sich vorzustellen, wie dieser Mann – César – ohne zu zögern das Feuer auf Polizeibeamte eröffnete.

César Cruz war 42 Jahre alt. Sein Bruder Ulisses 49, sah aber älter aus. Er blickte gelassen in die Kamera. In seinen Augen lag ein hintergründiger Glanz.

»Der Ältere macht mir aber noch mehr Sorgen«, sagte Carlos.

Dieses Mal nickte Graciana: »Ja«, antwortete sie aus dem Bauch heraus. »Der führt die Truppe.« Ein Planer. Aber kein kalt-rationaler Schachspieler, sondern jemand, der seiner Intuition vertraute – so wie sie.

Der polizeiliche Lebenslauf der Brüder las sich typisch für unangepasste Jungs aus schwierigem Elternhaus, denen niemand rechtzeitig eine Grenze zog. Aber nur die wenigsten eskalierten so konsequent und heftig: Diebstahl, Schulverweis, Körperverletzung, Jugendamt, Heim, Überfall, Nötigung, schwere Körperverletzung, bandenmäßiger Diebstahl, flankiert von Autodiebstählen und Geschwindigkeitsübertretungen, Drogenbesitz, Raubüberfall. Dann ein Totschlag, für den die Indizien nicht reichten und zwei Zeugen ihre Aussagen knapp vor Prozessbeginn zurückzogen.

Wie eine Silhouette, die sich aus dichtem Nebel näherte, nahmen diese beiden Männer mit jeder weiteren Information vor Gracianas inneren Augen immer mehr Konturen an.

»Der Banküberfall war 2003«, sagte Graciana. »2008 sind sie entlassen worden.«

Sie hatte einen sachlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt, aber Carlos konnte ihre Gedanken förmlich lesen: Zwei Jahre.

Zwei Jahre später hatte es den Zwischenfall mit Elias Rosado gegeben.

»Mein Gefühl sagt, die beiden waren das beim Überfall«, sagte sie.

»Ja«, sagte Carlos. »Wo sind die gemeldet?«

Sie blätterte auf dem Bildschirm vor. Die Meldeadresse befand sich in Chiado, einem angesagten Viertel von Lissabon. Zwei Wohnungen. Wie Google Maps zeigte, lagen die Luftlinie keinen Kilometer voneinander entfernt.

»Laut der Akten sind sie seit dem Banküberfall nicht mehr als straffällig in Erscheinung getreten. Glauben wir das?«

»Nie im Leben«, sagte Graciana. »Die haben sich nur nicht mehr erwischen lassen. Drei in eins. Das war …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Ich habe mit Raul gesprochen. Die sind nach Spanien abgehauen, sind da untergetaucht. Die Banken in Salamanca – das waren vermutlich auch sie.«

»Du hast mit Raul gesprochen? Wann?«

»Auf dem Weg hierher. Er hat mich angerufen. Hat sich Sorgen gemacht, du würdest das Recht vielleicht in die eigene Hand nehmen und die beiden zur Rechenschaft ziehen.«

»Und was hast du gesagt?«

»Niemals, hab ich gesagt.«

Carlos Esteves wusste, welche Knöpfe man drücken musste. Die Kunst bestand in der spielerischen Beiläufigkeit, mit der er das tat.