34.

Es war die Gier.

Nuno Vieira und Ricardo Cabral hatten sich abgesetzt. Auf sein Klingeln hin an der Wohnungstür hatten sie nicht geöffnet. Jetzt stand Ulisses Cruz in der Ferienwohnung, die sie in aller Eile verlassen hatten. Samt der Sporttaschen mit … ja, was? Millionen sicherlich.

Ulisses ging in die Küche und machte sich einen Espresso. Dann trat er hinaus auf den Balkon.

Vieira und Cabral hatten beschlossen, nicht mit ihnen zu teilen. Damit war eingetreten, worauf Ulisses spekuliert hatte. Mit so viel Geld vor der Nase hatten sie schneller zugegriffen, als ihr Verstand arbeitete.

Was dachten sie? Dass er sie nicht finden würde, wenn er gewollt hätte? Weil sie ihre Handys weggeworfen hatten?

Er musste den Kopf schütteln, aber er lächelte dabei. Er würde ihnen nicht nachstellen. Aber er würde auch nicht teilen.

Gier, hatte sein väterlicher Mentor im Gefängnis gesagt, wird niemals satt.

Er hatte geirrt. Ulisses war satt.

So wie Cabral und Vieira. Die beiden würden immer denken, sie hätten Ulisses ausgetrickst. Dabei war es andersherum.

Genau so funktionierte der perfekte Trick.

 

»Falschgeld?«

»Genau.«

»Wozu? Wir haben gerade eine gute Million mitgenommen. Mehr noch.«

Sol Pinho lächelte über seine kindliche Begrenztheit. Noch empfand sie es als ein positives Attribut seines Charakters, das im Laufe der Zeit hoffentlich jener Abgeklärtheit weichen würde, die Ulisses unter anderem ausmachte.

»Mit den Druckvorlagen kann er sich in zwei, drei Tagen zum Milliardär machen, das ist der Unterschied, César. Und niemand merkt es, denn niemandem fehlt was. Der Prägestock? Ist da. Die Spezialfarbe? Niemand hat die Formel dafür entwendet – glaubt man bei der Banco de Portugal.«

»Aber die Hologramme, von denen du gesprochen hast.«

»Ja, sie fehlen. Aber in der Druckerei wird man es erst bemerken, wenn die Vorbereitungen für den Druck getroffen werden und die falschen Hologramme aus der Bank bei ihnen eintrudeln. Ich sage dir, wann sie anfangen: am 1. Dezember. Ulisses hat jetzt gute zwei Monate, um rund um die Uhr Geld zu drucken, bevor die Sache auffliegt. Mehr muss er nicht drucken, mehr kann man im Leben nicht ausgeben.«

»Das ist genial«, befand César, der trotz seiner Verärgerung darüber, nicht über den großen Plan informiert worden zu sein, nicht umhin konnte, die Klugheit seines Bruders zu bewundern.

Sol und er befanden sich auf der gemieteten Jacht. Sie stand neben dem großen Steuerrad und rauchte eine dieser dünnen Zigaretten. César saß an dem kleinen Esstisch. Nun nahm sie ihm gegenüber Platz.

Die Linien ihres Gesichts, die Wimpern. Wie ihr Körper sich unter dem Stoff abzeichnete – er konnte schwer an was anderes denken.

»Nuno und Ricardo haben keinen blassen Schimmer. Und du hattest auch keinen – oder?«

»Nein«, gab er zu.

»Warum wohl, hm?«

Er spürte eine Art Verzweiflung in sich aufsteigen. Verzweiflung darüber, dass es darauf eigentlich nur eine einzige Antwort geben konnte. Dann fiel ihm die Rettung ein: »Woher weißt du davon?«

»Nicht von Ulisses. Ich hab die Liste gefunden, ich wollte einkaufen, hab Geld aus seinen Sachen genommen. Und auf der Liste waren Transporte, die sich mit den Daten und Orten gedeckt haben, wo wir zuletzt zugeschlagen haben. Also hab ich mich mit Alves und Romão getroffen, von denen kam die Liste.«

»Woher wusstest du das?«

»Wusste ich nicht. Ich habe es vermutet. Und gepokert. Es war was Offizielles. Und die beiden hatten sich nach fünf Jahren wieder bei Ulisses gemeldet und ja auch damals bei der Sache mit dem Transporter mitgespielt. Für die beiden ein enormes Risiko. Da passte die Liste ins Bild. Jedenfalls: Die haben die Geschichte bestätigt. Im Gegenzug musste ich versprechen, Ulisses und auch sonst niemandem was zu sagen. Auf jeden Fall nicht Nuno und Ricardo. Damit dürfte klar sein, dass Ulisses die absichtlich im Unklaren belässt. Er will sie nicht beteiligen. Hat er dir was erzählt? Mir? Nein. Im Gegenteil, er hat mich abserviert.«

César schaute auf seine Hände. Konnte das wahr sein? Er suchte nach einem Grund, nach einer Entlastung für Ulisses, nach etwas, was sein Verhalten in einem anderen Licht darstellen würde. Aber er konnte es drehen und wenden, so viel er wollte, ihm fiel nichts ein, was es erklärt hätte. Nichts als das, was Sol schon vor ihm gefolgert hatte – sein Bruder plante die ganz große Nummer ohne sie.

»Heute ist das Finale.«

»Also geht es nicht um Schmuck.«

»Nein, es geht um eine Offsetplatte. Dann sind alle Teile zusammen, die man für den Druck braucht.«

»Und die Hologramme?«

Sol schenkte ihm ein warmherziges Lächeln: »Die Hologramme? Du hast es noch nicht verstanden. Der Überfall auf die Bank in Faro hatte nur den Zweck, die dort lagernden echten Hologramme zu stehlen und durch die gefälschten zu ersetzen, die Gonçalves besorgt hat. Es ging nicht um die Kohle und Wertsachen in den Schließfächern. Ulisses hat die echten durch die gefälschten Hologramme ersetzt. Das war der ganze Sinn des Banküberfalles.

Es gibt auch keinen Auftraggeber für den Raub des Schmucks, der wegen der ersten Ausbeute enttäuscht gewesen ist, César. Die Sache ist nur ein Vorwand. Die Polizei überprüft nur, was gestohlen worden ist, nicht aber, was noch da ist. Die denken also nach wie vor, es geht um Geld oder Schmuck.«

César verstand. Die Polizei war ebenso ahnungslos wie er selbst und Nuno und Ricardo.

Eigentlich hätte er mordswütend sein müssen. Zutiefst enttäuscht. Aber er empfand Bewunderung für seinen großen Bruder.

»Ich glaube nicht, dass er uns am Leben lässt, Cé«, sagte Sol.

»Das wird er nicht machen«, César schaute sie an. »Niemals krümmt er dir oder mir ein Haar.«

»Und wenn doch?«

César schwieg.

»Dann musst du schneller sein«, sagte Sol, als sie Schritte auf dem Deck hörten.

»… kann mir gut eine Auszeit vorstellen, weit weg von hier«, improvisierte sie, als Ulisses die Kajüte betrat. Sie schauten auf.

»Und?«, fragt César Cruz, der genau wusste, wie schwer es war, seinen Bruder zu täuschen, und ihm deshalb gleich den Ball zuspielte, damit der reagieren musste.

»Es ist Zeit, Cé«, gab Ulisses zur Antwort und öffnete ein Staufach im Boden, aus dem er eine Kettensäge entnahm.

Sol stutzte, weil die Fugen der Staufächer so filigran in den Boden eingearbeitet worden waren, dass ihre Existenz dem normalen Betrachter verborgen blieb – wie ihr.

 

Der Werttransporter fuhr mit moderatem Tempo durch die hügelige Landschaft. Das Gebiet rund 10 Kilometer nördlich von Faro war sehr dünn besiedelt.

Gemäß den Sicherheitsbestimmungen des Finanzministeriums – kein Kurierdienst durfte in dieser ganzen Angelegenheit zweimal beauftragt werden – stammten der Wagen sowie seine zwei Wachmänner von der Firma 307-Security.

Der Sinn der Firmenbezeichnung erschloss sich Carlos nicht.

»307-Security, was soll das heißen?«

»Das ist vermutlich so tiefsinnig, dass es niemand versteht«, sagte Graciana.

Sie trugen beide Jacketts. Für die war es eigentlich viel zu warm, aber unter ihnen fielen die Schutzwesten am wenigsten auf.

 

Sol Pinho hatte ein weiteres Staufach im Boden der Jacht entdeckt. Sie kniete daneben und begutachtete jetzt den Inhalt. Zwei Pässe. Sie blätterte den ersten auf und war überrascht, sich selbst darauf zu sehen.

Mit einem fremden Namen: Lucia Navarro. Geboren und wohnhaft in Toledo. Es handelte sich um einen spanischen Reisepass.

Sie verstand nicht auf Anhieb, aber die schreckliche Ahnung, Ulisses Unrecht getan und einen viel größeren Masterplan als den mit dem Geld übersehen zu haben, kroch in ihr hoch.

Hektisch öffnete sie den zweiten Pass.

Das Foto von César. Er war auf Javier Navarro ausgestellt. Ebenfalls in Toledo geboren und … dieselbe Adresse wie sie: Plaza Amador de los Ríos.

Sie schaute in das Staufach. Kein dritter Pass. Aber ein Kuvert, das sie mit zitternden Fingern öffnete.

Als sie das Schreiben überflog, schossen ihr Tränen in die Augen. Eine Heiratsurkunde. Lucia, geborene Jimenez, und Javier Navarro. Ausgestellt am 04.12.2018 in Toledo.

Ein weiteres Kuvert, prall gefüllt mit Geldscheinen. Sol zog einen hervor: marokkanische Dirham.

Und dann, weiter unten ein Behälter mit Spritzen und kleinen Ampullen. Sol biss sich auf die Lippe. Es war Morphin.

Und mit einem Mal war ihr alles klar.

Kein Kind. Die Trennung. Sie und César. Sie im Ungewissen zu lassen. Das Geld, die Pässe, neue Identitäten für Marokko. Der Löwe im Winter.

Im Winter seines Lebens. Und das hier war gleichzeitig sein Testament, Erbe und Geschenk.

Es schüttelte sie und aus der Tiefe ihres Körpers entwand sich ein verzweifeltes Schluchzen.

Um alles in der Welt hätte sie dieses Kind von ihm trotzdem haben wollen!

Das Handy.

Nein, sie waren jetzt natürlich nicht zu erreichen, ihre Smartphones waren ausgeschaltet.

Sol schnappte sich die Pistole und rannte hinaus, rannte über den Holzsteg der Marina, rannte so schnell, wie sie in ihrem Leben noch nie gerannt war, und ignorierte die Blicke der Leute auf den anderen Booten, bis sie die Straße erreichte, wo ein Mittdreißiger gerade in seinen Mercedes steigen wollte.

Sie zielte auf seinen Kopf: »Schlüssel.«

 

Wie vor einer knappen Stunde besprochen, zog Leander Lost in seinem Anzug mit Krawatte auf der gelben Scrambler an ihnen vorbei und nach einer Kurve auch an dem 307-Transporter.

Sie hatten sich schon früh hinter den gepanzerten Wagen geklemmt, der von Lissabon aus gestartet war und den fünf Stopps von seinem Ziel in Faro trennten. Bei Monte Novo, wo die Algarve ins dünn besiedelte und oft hügelige Alentejo überging, hatte er das letzte Transportgut an Bord genommen.

Wie der Zufall es wollte, lag São Brás de Alportel jetzt gut drei Kilometer vor ihnen.

Leander Lost sollte vor dem Transporter nach verdächtigen Autos oder Personen Ausschau halten. Sie hatten ihn zuvor über die neuen Erkenntnisse informiert, zu denen Raul da Silva ihnen verholfen hatte, und auch die Datenbank gezeigt.

Der Streckenverlauf war ihnen bekannt. Die Wachmänner im Transporter hatte Graciana nicht eingeweiht, da nicht auszuschließen war, dass sie selbst Teil des Plans waren.

»Da kommt kein Gegenverkehr mehr«, ließ Leander sie nun über Funk wissen. »Die Straße ist frei.«

»In Ordnung. Dann vermutlich inszenierter Unfall oder Sperrung«, sagte Carlos.

Graciana nickte.

»Halten Sie die Augen offen«, gab sie zurück, um im gleichen Augenblick zu realisieren, was sie da für einen Unsinn redete.

»Das ist im Straßenverkehr generell geboten«, kam es auch prompt retour.

Er zog durch eine lange Kurve und verlor den 307-Transporter hinter sich aus dem Außenspiegel. Und so auch die 20 Meter hohe Pinie, die kurz darauf mit einem markerschütternden Krachen quer über der Fahrbahn landete, ohne dass er es mitbekam.

Der Transporter legte eine Vollbremsung hin, was wiederum Gabriel Alves und Rafaela Romão aus sicherer Entfernung von einer Anhöhe aus durch ein Fernglas beobachteten.

Zur selben Zeit raste Sol Pinho die Ausfallstraße hoch, überholte auf dem Standstreifen, das Hupen kümmerte sie nicht. Die Tachonadel überquerte die 200er-Marke. Sie war noch vielleicht fünf Minuten von dem Ort entfernt, an dem der Transporter gerade vor dem umgestürzten Baum zum Stehen gekommen war.

Der Fahrer setzte sofort zurück, aber dann donnerte eine zweite Pinie hinter ihm über die Fahrbahn und jagte eine Wolke aus Nadeln, berstenden Ästen und Zweigen durch die Luft.

Damit saß der Transporter in der Falle. Vorne und hinten war er durch die Baumstämme blockiert, rechts durch den Pinienwald selbst, links durch eine Reihe Felsblöcke.

Zwei Gestalten traten aus dem Waldstück, beide groß, kräftig, maskiert. Die eine hielt ein Sturmgewehr. »Keine Sorge«, sagte der ältere Wachmann auf dem Beifahrerplatz zu dem jüngeren Kollegen am Steuer, »die Türen und die Scheibe halten dem Beschuss aus einem Schnellfeuergewehr stand. Die Zentrale hat den Notruf erhalten, Polizei ist auf dem Weg. Wir müssen nur die Nerven behalten.«

Der Mann mit dem Sturmgewehr machte keinerlei Anstalten, sie mit der Waffe zu bedrohen, sondern zauberte aus seiner Umhängetasche zwei Parkkrallen hervor, mit deren Hilfe er einen Vorder- und einen Hinterreifen fixierte. Dann schwenkte der zweite Maskierte etwas hoch, was er hinter seinem Rücken versteckt hatte: eine Panzerfaust.

Und mit der visierte er den Fahrer an.

»Wie sieht es damit aus?«, fragte der Jüngere.

»Merda«, sagte der Ältere. »Mach sofort hinten auf.«

Der Fahrer bediente einen gesicherten Schalter, und eine der beiden Doppeltüren öffnete sich mit einem Klacken.

Der Kerl mit dem Sturmgewehr verschwand im Inneren des Transporters, während der andere sie weiter mit der Panzerfaust in Schach hielt.

Und nun auch noch eine Pistole zog.

»Was macht der da?«, fragte der Fahrer.

»Keine Ahnung.«

César zog die Waffe, weil Sols Worte in ihm weitergearbeitet hatten. Alles sprach dafür, dass Ulisses sie beide hintergehen würde. Und vielleicht noch mehr: sich ihrer für immer entledigen wollte. Möglicherweise auf der Jacht. Heute Nacht noch. Wer sollte die Schüsse da draußen schon hören? Und César wusste, sie hätten keinen Verdacht geschöpft – wenn Sol ihn nicht durchschaut hätte.

Es hatte ihm das Herz gebrochen auf dem Weg hierher. Das Lächeln seines Bruders.

»Alles klar, Cé?«

 

Leander bremste ab.

Er war an einem Schild angekommen, das auf der Gegenfahrbahn stand und zur Seite – zu einer Abzweigung – deutete. »Umleitung« stand darauf.

Deshalb also hatte es keinen Gegenverkehr gegeben.

»Hier ist ein Umleitungsschild«, meldete er, »circa zwei Kilometer von São Brás de Alportel, deshalb gibt es keinen Gegenverkehr, und …«

»Der Transporter steht, er ist von umgestürzten Bäumen blockiert, kommen Sie zurück«, wies Graciana ihn an.

Ein Mercedes donnerte ungeachtet des Umleitungsschildes an Leander vorbei.

In diesem Moment empfing Ulisses ein paar Hundert Meter weiter einen Funkspruch von Rafaela Romão: »Die PJ Faro ist im Anmarsch, haut ab!«

Er stand im Lagerraum des 307-Transporters, hatte gerade die Offsetplatten eingesteckt und sich den Rucksack wieder übergestreift.

Es ging also los. Allerdings deutlich schneller, als er geplant hatte.

 

Die Situation war sofort klar.

Graciana und Carlos sahen die gefällten Pinien, dazwischen den Transporter und eine Gestalt mit Panzerfaust.

Sie trat auf die Bremse, der Wagen stoppte.

»Raus.«

Fahrer- und Beifahrertür flogen auf. Carlos lief geduckt nach rechts in den Pinienwald hinein und bewegte sich parallel zur Straße über den feinen, federnden Boden aus alten Kiefernadeln voran.

Graciana suchte nicht den Schutz der Bäume, sondern ging direkt auf die umgestürzte Pinie zu. Dort hielt sie kurz inne und sondierte die Lage.

Es waren zwei Maskierte.

Der eine mit der Panzerfaust und ein weiterer kräftiger Typ mit Rucksack, der jetzt aus dem Transportraum des Kurierfahrzeugs sprang, ein Sturmgewehr in der Hand.

Das mussten sie sein: die Brüder Cruz. Graciana schwang sich über den Stamm und marschierte mit erhobener Dienstwaffe auf die beiden zu.

»Polícia Judiciária! Auf den Boden!«

Bevor die beiden Brüder Anstalten machen konnten, in den Wald abzuhauen, wo ihre Motorräder versteckt waren, eröffnete Graciana das Feuer.

Die Projektile schlugen links und rechts von dem Maskierten in die Seite des Transporters ein, woraufhin sich der Mann mit dem Rucksack ihr zuwandte und noch aus der Drehung eine Salve verschoss.

Ein geübter, guter Schütze.

Er traf sie kurz über dem Solar Plexus, die Wucht fegte sie von den Beinen und ließ Graciana hart aufschlagen. Sie keuchte. Aber die schusssichere Weste erfüllte ihren Zweck.

Ulisses drehte sich um – zu seinem Bruder.

Der die Panzerfaust abgelegt hatte und seine Glock im Anschlag hielt. Und auf ihn zielte: Ulisses.

»Cé.«

César schloss die Augen. Er wollte abdrücken, ja. Aber er konnte nicht. So wie Maximilian Pontes. Er öffnete die Augen wieder und senkte die Pistole.

Und sah den ungläubigen, zutiefst verletzten Blick seines großen Bruders. Ulisses war fassungslos. Solch einen Ausdruck – so eine unendliche Enttäuschtheit – hatte César noch nie zuvor gesehen.

Er senkte die Waffe. Alles, was er jetzt noch wollte, war, Ulisses in Sicherheit zu bringen.

Graciana feuerte noch auf dem Boden liegend. Die Kugel prallte am Werttransporter ab. In diesem Moment hörten sie einen Motor aufheulen und dann verstummen. Ein Mercedes war direkt vor der Pinie vor dem Transporter zum Stehen gekommen und wendete nun. Eine Frau saß hinter dem Steuer. Graciana war jetzt wieder auf den Beinen.

Carlos sprang aus dem Waldstück auf die Straße, als César gerade auf Graciana anlegte. Ruhig.

Graciana drückte zuerst ab. Der Schlitten ihrer Glock verhakte sich. Das war der Sekundenbruchteil, in dem sie schutzlos war.

Ulisses schoss.

Carlos war nur noch zwei Meter von ihr entfernt. Er feuerte nicht, sondern er sprang. Das war die einzige Chance. Wenn er Glück hatte, erwischte es Graciana nicht am Kopf und ihn an der Schutzweste.

Er hatte kein Glück.

Die Kugel drang ihm seitlich über die Schulter in den Brustkorb. Er krachte auf den heißen Asphalt. Der Schmerz war heftig und stechend und raubte ihm sofort den Atem. Er spürte, wie das Blut aus seinem Körper auf die Fahrbahn floss.

Aber Graciana war unversehrt geblieben.

Und diesmal spielte ihre Glock mit. Sie schoss. Einmal. Zweimal. Beide Kugeln trafen César an der Brust, aber auch er trug eine schusssichere Weste.

Er strauchelte zurück, machte vier Stützschritte, zwei pro Treffer.

Hob die Waffe.

Gracianas dritter Schuss erwischte ihn höher.

Er stürzte zu Boden, griff sich an den Hals und wand sich. Sofort war die Frau bei ihm, die aus dem Mercedes gesprungen und über die gefällte Pinie geklettert war.

Graciana packte Carlos, und schleifte ihn zur Seite ins Wäldchen, in Deckung. Sie erschrak, als sie sah, wie stark er blutete.

Ulisses rappelte sich auf und lief zu seinem Bruder, der am Hals verwundet worden war.

»Schnell ins Auto, du fährst.«

Er packte César und schleifte ihn mit Sols Hilfe über den Stamm der ersten Pinie und packte ihn auf die Rückbank.

»Los, los!«

Sol sprang auf den Fahrersitz und gab Gas, während Ulisses noch halb draußen stand. Er zog sein Bein hinein und schloss die Tür. Ungefähr 15 Meter vor ihnen hatte eine Ducati Scrambler gestoppt. Der Fahrer stand auf der Fahrbahn mit gehobener Waffe und zielte auf sie. »Stehen bleiben! Polícia Judiciária!«

Sol steuerte direkt auf den Mann zu. Der feuerte zwei Schüsse ab, die in den Kühlerrost einschlugen, dann sprang er zur Seite.

Kaum war der Mercedes an ihm vorbei, federte Leander hoch und entleerte sein ganzes Magazin. Er erwischte mehrfach den Kofferraum und zweimal die Heckscheibe. Aber der Wagen stoppte nicht.

Als er das Ersatzmagazin einrasten ließ, war der Mercedes bereits hinter der nächsten Kurve aus seinem Sichtfeld verschwunden.

Er entdeckte Graciana Rosado am Waldrand. Sie kniete neben Carlos Esteves und gestikulierte hektisch in seine Richtung.

Lost lief auf sie zu, und auch die beiden blassen Wachmänner kamen zu ihnen rüber.

»Geht schon«, sagte Carlos. Sein Hemd war blutdurchtränkt. »Ist nicht so schlimm.« Er grinste sie an: »War ja auch ein langer Tag.«

Graciana kämpfte die Tränen herunter, die ihr in die Augen schossen, sie konnte es nicht verhindern. Ihr Herz raste, die Hände waren ihr kalt.

Sie reichte Leander den Autoschlüssel.

»Holen Sie den Wagen so nah wie möglich zu uns, Senhor Lost. So schnell wie möglich.«

Lost lief los.

»Stehen Sie da nicht so untätig rum«, hörte er Graciana die beiden Wachmänner anbrüllen. »Bringen Sie mir Mullbinden!«

 

»Fahr in die Klinik«, wies Ulisses Sol an.

Er saß immer noch hinten und hatte den Kopf seines Bruders auf seinem Schoß gebettet. Mit der Hand presste er die Wunde an dessen Hals zu, aber das Blut sprudelte zwischen seinen Fingern hindurch. Vermutlich war es die Halsschlagader.

»Wo seid ihr?«

Das war der Funk. Alves’ Stimme.

Sol nahm das Funkgerät vom Beifahrerplatz und antwortete: »Auf dem Weg nach São Brás, in die Klinik.«

»Seid ihr wahnsinnig? Die müssen Schusswunden melden. Dann ist es vorbei!«

»Ist mir scheißegal«, sagte Ulisses mit gepresster Stimme, »dann ist es eben vorbei.«

»César ist verletzt«, sagte Sol. »Schwer.«

»Dann … liefern wir ihn ein. Wir kommen euch entgegen«, hörten sie nun Rafaela Romão.

»Es muss schnell gehen.«

»Sim.«

»Ich schaff das nicht«, sagte César leise.

Ulisses schaute ihn an, mit der freien Hand hielt er den Kopf seines Bruders.

»Ich lass dich nicht gehen.«

»Warum hast du …«, brachte César mühsam hervor.

»Nicht reden, Cé.«

»… hast du uns nichts gesagt, warum hast du …«

Ulisses begriff. Das hatte ihn umgetrieben. Das hatte ihn misstrauisch werden lassen.

»Um alle zu schützen, Cé. Ihr wärt alle für viel weniger verknackt worden. Mich hätten sie drangehabt. Mich. Nicht euch. Und ich wollte, dass keiner quatscht, verstehst du?«

César flüsterte etwas.

Ulisses beugte sich zu ihm hinab: »Hm?«

»Tut mir leid.«

Er weinte jetzt.

»Das muss es nicht.«

Wieder flüsterte er etwas.

»Ja?«

»Und Sol?« Es war nur mehr ein Wispern.

»Das war richtig so, wie es war. Und jetzt … reiß dich zusammen. Wir schaffen das, Cé. Wir kriegen das hin. Weißt du noch die Hafenkneipe in Valencia? Wie die mich auseinandernehmen wollten?«

»Ich … Ich hab’s den beiden ordentlich gegeben«, sagte César Cruz mit einem Lächeln, »ich hab dich da rausgeholt.«

»Hast du. Du bist mein Bruder. Du schaffst das jetzt.«

»Ich schaff das … jetzt. Ich schaff …«

Sein Blick brach.

»Cé! Bleib wach!«

Ulisses schüttelte ihn, aber er wusste es schon. Césars fand nicht mehr zurück in diese Welt. Und eine andere, da waren die Brüder sich stets einig gewesen, gab es nicht.

»Halt an, Sol.«

Sie stoppte den Wagen rechts am Fahrbahnrand.

Sie wagte kaum, nach hinten zu schauen, tat es dann aber trotzdem. Ulisses war starr. Er blickte hinab auf seinen toten Bruder. Er weinte nicht, er sagte nichts, er rührte sich nicht.

Dann endlich hob er den Kopf und sah sie an. Sanft griff er nach Césars Kopf und hob ihn leicht an, damit er unter ihm zur Seite rutschen und aussteigen konnte. Er zog seine Jacke aus und bedeckte damit das Gesicht seines Bruders.

Sol stieg nun auch aus, ihre Hände zitterten. Egal, was jetzt würde, es würde nie mehr annähernd sein wie früher. Die Zeit mit den Brüdern war vorbei. César hatte einfach auf dem Rücksitz dieses geklauten Autos ein letztes Mal ausgeatmet. So ein kräftiger, vitaler Mann. Ein winziges Stück Metall in seinem Hals, und nun war all das, was er hätte werden können, vernichtet. Es würde nie geschehen.

Und Ulisses? Ein Todgeweihter.

Er nestelte in seinem Rucksack, dann hatte er gefunden, wonach er suchte, und reichte ihr den Druckzylinder. Sol sah ihn fragend an.

»Geh in Tanger in die Avenue Ennakhil No. 17. Der Name ist Rami. Er ist ein Freund. Ich kenne ihn aus dem Knast in Porto. Er wartet auf das hier. Die Druckmaschinen stehen dort und warten auch.«

»Und du?«

»Gib den beiden Bullen stattdessen das Metallstück, das im Kühlschrank der Jacht liegt.«

Bevor sie eine Frage dazu stellen konnte, stoppte der zivile Wagen von Alves und Romão neben ihnen am Straßenrand. Die beiden stiegen aus. Der Arm von Gabriel Alves lag immer noch in einer Binde.

»Was ist mit César?«

»Er ist tot«, sagte Sol tonlos.

Die Blicke der beiden Polizisten wanderten zu Ulisses.

»Das tut mir leid«, sagte Rafaela.

Ulisses nickte: »Nehmt Sol bitte mit runter an die Marina.«

»Gut«, sagte Alves, »machen wir. Und du?«

»Ich geh zurück.«

Alle drei starrten ihn verblüfft an. Aber bei Sol hielt die Verblüffung keine Sekunde. Sie verstand es, sie bedauerte es und sie wusste von der Unumstößlichkeit dieser Entscheidung. Mehr noch: Sie hätte sie eigentlich vorhersagen können.

»Denk nach, Ulisses. Du bist außer dir, ich versteh das. Aber wenn die dich hochnehmen, dann fliegt alles auf. Alles, die Sache mit dem Druck und auch …«

»Ihr.«

»Ja, auch das. Auch wir. Warum willst du gehen?«

»Ich will das hier klarstellen.«

»Es macht ihn nicht lebendig.«

»Trotzdem.«

»Nein.«

Gabriel Alves hatte seine Pistole gezückt und die Mündung auf Ulisses gerichtet.

Der wirkte unbeeindruckt.

»Sei vernünftig und steig bei uns ins Auto.«

Ulisses schüttelte den Kopf: »Ich gehe.«

Damit öffnete er die Fahrertür des Mercedes.

Alves schoss und traf ihn an der Hüfte. Die Wucht des Schusses riss Ulisses Cruz herum und schleuderte ihn gegen den Wagen, aber er blieb auf den Beinen. Wie schon vor wenigen Minuten am Transporter hatte er sofort eine Pistole in der Hand und erwiderte das Feuer.

Alves wurde am Bauch getroffen und machte zwei Stützschritte rückwärts, während nun auch Rafaela Romão ihre Dienstpistole aus dem Holster riss. Ulisses ging direkt auf Alves zu. Er feuerte dreimal und traf mit jeder Kugel. Alves sank auf seine Knie und kippte vornüber auf die Straße. Romãos Schuss auf Ulisses kostete den das rechte Ohrläppchen, aber er zuckte nicht mal. Und als er sich ihr zuwandte, stürzte sie von zwei Schüssen getroffen nach vorne auf den Asphalt und rührte sich nicht mehr. Sie gab dabei den Blick auf Sol Pinho frei, die hinter ihr stand mit gehobener Waffe.

Ganz kurz fühlte Ulisses sich an die Zeit in Salamanca erinnert, als sie alle drei, Sol, César und er, ein eingespieltes Team gewesen waren.

Das war vorbei.

»Nimm den Wagen der beiden und leg mit der Jacht ab.«

»Ich warte auf dich, Ulisses.«

Er schüttelte den Kopf: »Setz dich ab. Nach heute suchen sie auch dich. Wir sehen uns in Tanger oder gar nicht.«

 

Ulisses wusste, wohin er jetzt musste. César hatte einen von ihnen angeschossen. Sie würden mit ihm in die nächste Klinik fahren. Und da würde natürlich auch die Frau sein, die seinen Bruder getötet hatte.