35.

Er war immer wieder neben ihr auf dem Rücksitz weggedämmert, während Leander Lost den RS 6 über eine Ausweichstrecke nach São Brás de Alportel steuerte. Graciana schüttelte ihn ganz sanft, sodass er wieder aufwachte.

»Bin nur kurz eingenickt, alles gut«, sagte Carlos, als er ihren besorgten Blick auffing.

Und dann weckte sie ihn nicht mehr, weil es für seinen Gesundheitszustand unerheblich war, ob er schlief oder wach war.

Und jetzt wartete sie mit Leander Lost auf dem Flur der Klinik von São Brás de Alportel. Vor etwa 20 Minuten war die Doutora Oliveira dazugestoßen, um das Team im Operationssaal zu unterstützen. Sie hatten sie vor rund einer halben Stunde beim Eintreffen in der Klinik angerufen.

»Carlos ist angeschossen worden. Wenn Sie irgendwie …«

»Wo sind Sie?«, unterbrach die Ärztin sie, »ich komme sofort.«

Und tatsächlich. Sie war im Nu bei ihnen gewesen und sofort zu den Ärzten im OP gestoßen.

Nun kam sie durch eine Glastür, hinter der Graciana auf einer Besucherbank saß. Lost hatte einen Anruf bekommen und telefonierte ein paar Schritte entfernt.

Oliveira setzte die OP -Maske ab: »Wir haben das Projektil entfernt, die Blutungen konnten gestillt werden. Er muss sich da jetzt durchbeißen, aber er hat ein kräftiges Herz.«

Und ein großes, dachte Graciana, während Oliveira wieder Richtung OP -Raum ging. Carlos hatte sich vor sie geworfen. Er war bereit gewesen, sein Leben zu geben.

Für wen tat man das schon?

Es kostete sie nicht den Bruchteil einer Sekunde, um zu wissen, dass sie im umgekehrten Fall ebenso gehandelt hätte. Ohne darüber nachzudenken.

Leander trat zu ihr. »Ich weiß, man sollte bei den verletzten Kollegen bleiben«, sagte er. »Aber Senhor Esteves’ Zustand ist stabil, er ist narkotisiert und wir können nichts weiter für ihn tun. Deshalb würde ich gerne ein paar Lebensmittel einkaufen.«

»Lebensmittel?«, fragte Graciana erstaunt.

»Ich bin sicher, die Krankenhauskost wird ihm nicht sonderlich schmecken. Und sich aus seiner Sicht auch überschaubar gestalten. Wir könnten ihm was mitbringen, auf das er Appetit hat. Wenn er wach wird. Und für die Tage danach.«

»Das ist … sehr nett von Ihnen, Senhor Lost. Aber im Augenblick sollten wir uns um die beiden Männer kümmern, die geflohen sind.«

»Es ist nur ein Mann. Und eine Frau. Der zweite Mann ist tot«, sagte Lost.

Graciana sah ihn erstaunt an.

»Ist das sicher?«

»Ja. Senhor Alves und Senhora Rafaela sind mit Schusswunden Richtung São Brás de Alportel aufgefunden worden, das wurde mir gerade telefonisch mitgeteilt. Sie war bewusstlos, wird es aber überleben. Er dagegen ist tot. Senhora Rafaela wird vor Ort notversorgt und kommt dann auch hierher. Sie hat gesagt, dass César Cruz nicht überlebt hat und sein älterer Bruder geflohen ist. Die Frau, die den Fluchtwagen gesteuert hat, ist anscheinend mit dem Dienstwagen der Kollegen davongefahren.«

César Cruz war tot. Und sie hatte ihn erschossen. Sie horchte in sich. Suchte nach einem Gefühl. Aber all das, was Graciana von diesem Augenblick erhofft hatte, blieb aus. Keine Genugtuung, keine Erleichterung. Nichts. Sie empfand einfach nur Leere.

Kein Mensch ist eine Insel, ganz für sich alleine, kamen ihr die Zeilen von John Donne in den Sinn, die ihre Mutter so liebte. Sie hatten sich auch ihr für immer eingeprägt.

Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.

Auch sie selbst mochte das Zitat sehr gerne.

Aber erst hier, hier und jetzt, verstand sie es zum ersten Mal in seiner ganzen Tiefe und Gänze.

In dem Augenblick sah Graciana draußen einen Mercedes vorfahren, dessen Heckscheibe fehlte und dessen Karosserie einige Einschusslöcher aufwies.

Der Mann, der daraus ausstieg, war Ulisses Cruz.

 

Ulisses hatte Tanger nie als Ziel für sich vorgesehen.

Er hätte sich mit César und Sol dort verabredet, wäre dort aber nicht aufgetaucht, sondern hätte sie auf das Staufach im Boden der Jacht hingewiesen, in dem er die Pässe für ihre gemeinsame Zukunft hinterlegt hatte.

Er selbst wäre an seinen Lieblingsplatz gefahren: nach Sydney. Ins Hyatt mit dem Dachpool, von dem aus man über den Hafen blicken konnte und auf die Oper. Er hätte sich zum Jahreswechsel das Feuerwerk angesehen. Und wäre dann gegangen. Er war Ulisses Cruz. Er würde sich vom Tod auf seinen letzten Metern nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen.

Er hatte alles dabei, was es für diese Reise brauchte: den falschen Reisepass auf den Namen Lino Rocha, eine Amex-Kreditkarte auf den gleichen Namen mit ausreichendem Kontostand sowie den gefälschten Dienstausweis, der ihm den Status als portugiesischen Polizeibeamten bescheinigte.

Und der die nette Dame an der Rezeption der Klinik gerade dazu verleitet hatte, ihm zu sagen, dass der verletzte Kollege – sein Name war Esteves, wie er erfuhr – sich im zweiten Stock befand, noch im OP . Und dass es direkt davor einen Raum für Verwandte und Angehörige gab.

Dort also, wo er die Polizistin vermutete, die César das Leben gekostet hatte.

Er nahm die Treppe, zwei Stufen auf einmal. Er hatte das Gefühl, Kraft für ein Dutzend Stockwerke zu haben.

Im zweiten Stock angekommen, ging es rechts auf die Intensivstation und links zum Warteraum. Er trat in den Aufenthaltsbereich, als er von rechts Bewegung wahrnahm.

»Keine Bewegung.«

Ulisses wurde starr. Der Kerl im Anzug war hier und stand praktisch direkt neben ihm. Die Mündung von dessen Pistole war keine Armlänge von seiner Schläfe entfernt. Er musste ihm dort aufgelauert haben.

Gleichzeitig drehte sich die Frau am Wasserspender um, die mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte – und legte ebenfalls auf ihn an. Sie war es, wegen der er gekommen war.

Ulisses wusste sehr genau, was Entschlossenheit war und wo man sie ablas. An den Augen. Diese Frau da wartete nur auf eine falsche Bewegung seinerseits. Aus irgendeinem Grund brannte sie darauf, auf ihn zu feuern. Auf jeden Fall würde sie keinen Moment zögern.

Fast musste er lächeln. Auf gewisse Weise sah er sich mit seinem Pendant konfrontiert.

Der Mann im schwarzen Anzug zog ihm die Waffe aus dem Gürtel und ließ sie zu Boden fallen. Auch er machte keinen Fehler, denn er gab der Pistole mit dem Fuß einen kräftigen Schubs, sodass sie in Richtung der Frau schlitterte. Die natürlich keine Anstalten machte, sich danach zu bücken.

Die Tür links neben ihm schwang auf, eine Schwester mit einem Tablett wollte den Raum passieren. Ulisses tauchte mit dem Kopf weg. Der Anzugmann schoss nicht – aber die Polizistin. Doppelt.

Die Scheibe hinter ihm splitterte, der andere Schuss riss ihm den kleinen Finger weg. Aber da hatte er die Schwester, die aufschrie, schon gepackt und als Schutzschild herumgerissen. Er griff sich eines der Skalpelle aus den Metallschalen, die sie trug und die nun zu Boden schepperten. Dann warf er sie dem Mann im Anzug entgegen, der die Frau auffangen wollte.

Ulisses sprang vor, griff den Mann an, schlug ihm die Pistole aus der Hand. Zu dritt stürzten sie zu Boden.

Die Polizistin lief mit der Waffe im Anschlag auf sie zu. Lost schlug einen Shutō, einen Handkantenschlag im Liegen auf den Kehlkopf des Angreifers. Ulisses drehte sich noch rechtzeitig um wenige Zentimeter, sodass der Schlag ihn am Hals traf, ihm aber nicht den Kehlkopf zertrümmerte. Er riss Lost hoch und hielt ihm das Skalpell an die Halsschlagader.

Graciana war nah genug heran, um Losts Pistole beiseitezutreten, damit der Mann sie nicht greifen konnte.

»Stehen Sie auf und gehen Sie raus«, forderte sie die aschfahle Krankenschwester auf, »schnell.«

Das ließ die sich nicht zweimal sagen.

»Leg sofort die Waffe hin«, sagte Ulisses Cruz ruhig und kalt.

»Nein.«

»Ich schlitz ihn auf.«

»Gut, dann hab ich freies Schussfeld.«

Die Frau verzog keine Miene. Ulisses spürte, dass sie es ernst meinte. Todernst. Und das irritierte ihn.

Graciana hob die Waffe leicht, sie suchte einen festeren Stand.

Ulisses beobachtete, wie sie ausatmete. Wie sie bewegungslos wurde. Es sah ganz so aus, als würde sie trotz des Kollegen nach einer Lücke suchen, um auf ihn zu schießen.

»Wissen Sie, wer die Kollegin hier ist?«, wandte Lost sich an Ulisses.

»Mund halten«, zischte der, und dann an Graciana gewandt: »Ich sag’s kein zweites Mal. Waffe runter.«

Die Frau nahm jetzt genauer Maß. Sie schloss ein Auge, um besser zielen zu können.

»Ihr Name ist Graciana Rosado«, fuhr Lost unbeirrt fort, »sie ist die Schwester des jungen Mannes, den Sie und Ihr Bruder 2011 bei einem Überfall auf einen Geldtransporter erschossen haben. Und die Tochter des GNR -Mannes, den Sie beide so schwer verletzt haben, dass er seitdem querschnittsgelähmt ist.«

Jetzt begriff Ulisses. Unwillkürlich lockerte er den Druck des Skalpells an dem Hals des Mannes. Er begriff die Entschlossenheit. Es war dieselbe, die ihn hierhergeführt hatte. Es ging ihr um Rache. Deshalb waren sie beide hier.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Graciana.

»Senhor Esteves hat mich heute Morgen informiert. Senhor Cruz, wenn Sie mich töten, sind Sie der Nächste, der stirbt. Ich bin als Schutzschuld für Sie völlig sinnlos. Eigentlich gibt es keine Steigerung von sinnlos. Aber es scheint den Betroffenen dann besonders gut nachvollziehbar zu sein, wenn man es mit völlig trotzdem versucht.«

Ulisses Cruz wusste, dass jedes einzelne Wort der Wahrheit entsprach.

»Sie haben mir meinen Bruder genommen – und ich Ihnen Ihren«, sagte Graciana.

»Dein Vater verliert heute auf jeden Fall noch seine Tochter«, erwiderte Ulisses.

»Wenn ich Ihnen meine Waffe gebe, lassen Sie dann meinen Kollegen gehen?«

Ulisses überlegte kurz – was sollte das? War das eine Finte? Aber wenn ja, wofür? Ulisses wollte sich der taktische Sinn ihres Angebots nicht erschließen. Auf der anderen Seite: Er konnte seine Position nur verbessern.

»Ja.«

»Ich habe gehört, Sie sind ein Mann, der den Wert eines gegebenen Wortes kennt.«

»Da hast du richtig gehört.«

»Also schön.«

Sie senkte die Pistole und ließ das Magazin mit den Patronen aus dem Knauf schnellen und legte es beiseite. Damit befand sich noch eine Kugel im Lauf, wie sie alle drei wussten.

Graciana nahm den Finger vom Abzug und fasste die Waffe am Lauf, um damit auf Ulisses und Leander Lost zuzugehen.

»Ich dachte, wenn ich Rache nehme für das Unrecht und das Unglück, das Sie und Ihr Bruder meiner Familie und mir angetan haben, dass es dann gut wird. Ich habe heute Ihren Bruder getötet. Soll ich Ihnen was sagen? Ich dachte, ich empfinde Genugtuung. Oder Triumph. Aber … nichts davon hat sich eingestellt.«

Sie hatte einen Tisch erreicht, der sich zwei Meter von Ulisses Cruz und Leander Lost befand.

Dort legte sie jetzt ihre Pistole ab und richtete den Blick wieder auf Ulisses Cruz.

»Mein Bruder ist immer noch tot und mein Vater immer noch gelähmt. Es hat sich nichts zum Besseren gewendet. Im Gegenteil: Es ist schlimm, ein Leben auszulöschen. Ich trete jetzt zurück und habe Ihr Wort: Sie lassen meinen Kollegen gehen. Die Waffe gehört Ihnen. Sie haben den einen Schuss. Aber … César bleibt Ihnen verloren. Für immer.«

»Tun Sie das nicht«, beschwor Leander sie.

Graciana ging rückwärts. Einen Meter, zwei.

Ulisses trat mit Leander vor und nahm die Pistole. Dann senkte er das Skalpell und drückte Lost beiseite, der sicherheitshalber ein weites Stück wegrückte.

»Gehen Sie, Senhor Lost«, sagte Graciana.

»Nein.«

Paragraph 12, Absatz 1. Das war Befehlsverweigerung.

»Sie sollen gehen.«

»Nein.«

»Ich befehle es Ihnen.«

»Ich habe Soraia mein Wort gegeben, Ihnen nicht von der Seite zu weichen. Ich beabsichtige nicht, mein Versprechen zu brechen.«

Graciana wollte nicht, aber ihr schossen wieder Tränen in die Augen. Sie überwanden die Wimpern und flossen ihr über die Wangen.

»Wer zum Teufel ist Soraia?«, fragte Ulisses, der die Waffe auf sie richtete und vorbereitet sein wollte, falls diese Frau auch noch auftauchte.

»Meine Schwester. Sie ist keine Polizistin, sie ist Kindergärtnerin.«

Das traf Ulisses unvermittelt. Er hatte mit einer Vorgesetzten gerechnet und nicht mit … Familie.

»Und du?«, fragte Cruz an Leander gerichtet. Der wusste mit der Frage nichts anzufangen, weshalb Graciana einsprang: »Senhor Lost und meine Schwester werden heiraten.«

Cruz deutete ein Kopfschütteln an wegen der Verwunderung, die er empfand. Familie. Dieser Zusammenhalt, der über all das andere hinausging, war hier offensichtlich tief verwurzelt.

Vielleicht wäre er in dieser Familie der Rosados glücklich geworden – wer weiß? Aber ihm war ein anderer Platz zugewiesen worden.

»Wenn Sie meinen, dass Sie jetzt schießen müssen, Senhor Cruz, müssen Sie das tun«, sagte Graciana, ging auf Leander zu und schob ihn zusammen mit sich selbst in Richtung Tür.

Ihre Art nötigte Ulisses Respekt ab.

Sydney – er hatte das Feuerwerk schon gesehen. Er war Ulisses Cruz. Er ließ sich von dem Tod nicht die Initiative nehmen. Ulisses richtete die Mündung kurzerhand in seinen Rachen und drückte ab.