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Eine grauenhafte Nacht.
Ich bin kaum richtig eingeschlafen, als Blu wie ein Wahnsinniger zu miauen anfängt. Es scheint mehr ein Heulen als ein Miauen, das beharrliche und herzzerreißende Schreien eines Tiers, das gefoltert wird. Ich stehe auf, um nachzusehen, was los ist, mit panischer Angst, dass es auch Blu schlecht geht.
Ich schlafe jetzt immer bei eingeschaltetem Licht. Bei mir zu Hause ist es immer hell und immer kalt wie am Nordpol.
Mit triefenden Augen und ganz benommen schleppe ich mich auf den Flur. Ich sehe Blu vor der Tür von Mamas Zimmer, er will rein, springt auf die Klinke, springt und miaut, kratzt an der Tür, verzweifelt, dass er sie nicht aufkriegt. Ich nehme ihn auf den Arm und trage ihn zurück auf die Couch. Er will nicht dableiben, ich muss ihn an mich drücken, bis ich unter dem Fell sein zierliches Vögelchenskelett fühle, sobald ich ihn nicht mehr festhalte, läuft er zurück, fängt wieder an zu jaulen und wie ein Affe hochzuspringen, mit einer Hartnäckigkeit, zu der nur starrköpfige Katzen fähig sind.
Ich muss früh aufstehen, aber ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Ich winde mich in meinem Bett, werfe mich von einer Seite auf die andere. Die Decken haben sich mit dem Schlafanzug verwickelt, und ich bin in einer einzigen Zwangsjacke gefangen.
Heute Morgen bin ich es gewesen, der den Wecker geweckt hat.
»He, Arschgesicht, hast du gedacht, du bist der Einzige, der das kann?«
Beim Frühstück erkläre ich Blu, dass Mamas Zimmer off limits ist.
»Off limits, è proibito, è pericoloso, hier nix für cats.«
Solche Sachen, wie sie auf den Schildchen an Zugfenstern stehen, da muss man sich nicht so anstellen.
Ich sehe übel aus, mein Gesicht ist aufgeweicht, die Maske des braven Jungen kann jeden Moment erschlaffen und in sich zusammenfallen, ein Abziehbild, das sich zwischen den Fingern auflöst. Ich wasche mich mit beiden Händen, klatsche das Wasser auf mich wie Ohrfeigen. In meinem Zimmer ziehe ich mir die Hosen an, diesmal im Sitzen, ich suche zwei zusammenpassende Strümpfe in der Schublade, krame zwischen den Pullovern, stecke Bücher und Hefte in den Rucksack, gehe im Kopf alle Operationen durch, die ich durchführen muss, wie ein Pilot vor dem Start, wie der auf dem Poster, das neben dem Fenster klebt und an einer Seite mit einem total vergilbten Tesastreifen runterhängt.
Über den Mantel ziehe ich mein zweites Leben an und breche mit einem Spezialauftrag auf.
Ich bin Dr. Jekyll und Mr Hyde, ein Werwolf, Spiderman oder Phantomas, doch ich habe keine Superkräfte, ich kann nicht die Wände hochklettern, mir ist noch kein Fell gewachsen, ich verwandle mich in nichts Besonderes – nur in einen normalen Jungen mit ordentlich gekämmtem Haar und Büchern ohne Eselsohren.
Es ist Montagmorgen, und die Geschäfte schlafen noch. Auch die Stadt hat Mühe, die Nacht hinter sich zu lassen, die Rollgitter haben ihre Lider noch über den Schaufenstern niedergeschlagen. Ich gehe langsam, weil ich zu früh dran bin, wie die Alten, die an Schlaflosigkeit leiden und schon am frühen Morgen herumschlurfen, weil sie dann länger zu leben meinen, wie Oma, die irgendwann angefangen hat, mit sich selbst zu reden und sich jedes Mal vorzustellen, wenn sie mich traf.
»Sehr erfreut, ich bin die Frau von Ruggero, du bist der Sohn des Kapitäns, stimmt’s?«
Oma und ihr Spleen mit den Schiffen.
»Nicht irgendwelche Schiffe, mein Lieber, Dampfer.«
»Ja, ich weiß, Oma, die mit glänzendem Messing wie in der Kirche.«
»Und den gebohnerten Böden, von denen die Abendkleider den Staub wischen.«
»Ja, Oma, genau die.«
Immer die gleiche Leier mit der Schifffahrt.
»Mama, wer ist denn bloß der Kapitän?«
»Was weiß denn ich? Oma erfindet eine Menge Geschichten. Sie hat sich in eine Operette zurückgezogen und alles andere ausgeschlossen.«
Sie sagt mir, ich soll es aufgeben, wobei sie mit dem Zeigefinger an die Stirn tippt und achtgibt, dass es niemand sieht.
Auch der Stand der Blumenfrau ist noch zu, eine verlassene Hundehütte. Vielleicht ist sie auch fortgezogen, oder sie hat einen Unfall gehabt, geschieht ihr recht.
Wenn die Erwachsenen zu früh dran sind, gehen sie in die Bar und trinken einen Kaffee. Ich kaufe mir ein ganz kleines Stück Focaccia, um zu sparen. An der 2-Euro-Münze ist ein angelutschtes Erdbeerbonbon hängen geblieben, zum Glück ist es der Frau in der Bar egal, ob das Geld ein bisschen klebrig ist:
»Vielleicht bleibt es mir dann immer an den Händen hängen.«
Vom Rest genehmige ich mir einen Lutscher.
»Und was hast du denn in den letzten Tagen so gemacht?«
»Nichts Besonderes.«
»Und du?«
Bei mir Blabla. Die Gespräche meiner Klassenkameraden sind langweilig, alle sagen immer nur das Gleiche. Sie reden, aber es ist, als kämen ihre Stimmen von einer anderen Seite, wo auch ich bis vor einer Weile war. Jetzt bin ich in eine Wohnung im Stockwerk darüber gezogen, und doch gelingt es mir nicht, von dort oben auf sie hinabzusehen. Ich möchte von der anderen Seite schauen, aber das darf ich nicht, denn ich muss den Kopf hochhalten. Das ist nicht leicht. Es ist, wie wenn man träumt, nackt unter lauter angezogenen Leuten zu sein, du tust so, als wäre nichts, aber du weißt, dass du nackt bist, dass du dich nicht anziehen kannst, bis der Albtraum endet. Ich ziehe den Mantel enger um mich.
Im Unterricht fragen sie uns, was den Homo sapiens von seinen Vorfahren unterscheidet.
»Die Fähigkeit zu betrügen«, hätte ich beinahe gesagt. Aber ich hüte mich, das zu tun.
Ich verliere mich in Phantasien über meine Vorfahren, die sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man eine Kokosnuss aufbricht, und dann über diejenigen, die es lernen, Waffen zu gebrauchen, und mit Pfeil und Bogen immer intelligenter werden; sie laufen nackt herum, aber alle sind nackt, deshalb kümmert es keinen. Dann erfindet jemand den Mantel aus dem Fell von Tieren, vor allem die Damen sapiens wollen ihn, sie nennen ihn Pelz, mit dem Pelz gehen sie shoppen, kaufen Schuhe, auf denen sie schwanken und die in den Gittern der U-Bahn stecken bleiben.
Auch die Scorzetti sapiens muss am Wochenende shoppen gewesen sein, denn sie hat heute neue Schuhe, schwarz und glänzend wie Kakerlaken, sie kann noch nicht sehr gut damit laufen, denn nach zwei Schritten macht sie kehrt und setzt sich wieder hinters Pult. Die Kakerlaken-Schuhe erscheinen in meinem Blickfeld und verschwinden schnell wieder, ich hätte Lust, mit dem Übungsbuch draufzuschlagen.
Die Kakerlaken werden früher oder später die Welt überschwemmen, auf Bergen von Abfällen mit Schilden in der Form von Mülleimerdeckeln, denn die Kakerlaken sind resistent gegenüber Giften, sie sterben nicht an einer Handvoll schlechter Pillen.
Sie sind die Intelligentesten von allen, auch wenn sie keine sieben Monate brauchen, um geboren zu werden.
Ciccio Broccolo ist auf der Bank eingeschlafen. Das tut er montags immer, weil er mit dem Schlafwagen aus Apulien zurückkehrt, der im Morgengrauen am Bahnhof ankommt, die Lehrer wissen das, deshalb schimpfen sie nicht besonders mit ihm herum, schließlich ist es nicht seine Schuld, dass seine Verwandten so weit weg wohnen und er nach Zug riecht.
Ich würde auch gern in einem Liegewagen schlafen, ich bin auch zum Umfallen müde, ich habe auch Verwandte, die sehr weit weg sind.
Als die Scorzetti anfängt, zwischen den Bänken zu spazieren wie eine, die keinen Boden unter den Füßen hat, höre ich auf, mit blödem Gesicht einen feuchten Fleck anzustarren, der mich an einen Eisbären erinnert, an einen Kartoffelchip, an den Titicacasee, und lächele. Das Geheimnis ist, in allen Fächern gut zu sein und zu lächeln. Lächeln gehört zu den Aufgaben einer braven Ameise, die sich abmühen muss, unendlich vielen ägyptischen Plagen zu entkommen.
Wir sind alle Ameisen, auch wenn die Grillen sehr viel schlauer sind.
»Und weißt du, wie sie dann ausgegangen ist?«, flüstere ich Andrea zu.
»Was?«
»Die Geschichte von der Grille und der Ameise.«
»Nein, was fällt dir dazu ein?«
»Dass die Grille, die keine Vorräte für den Winter gesammelt hatte, die Ameise gefressen hat.«
»Aber das stimmt doch gar nicht!«
»Ist doch egal, Andrea, so ist die Geschichte viel, viel schöner.«
Ich bin froh, dass Andrea mein Freund ist.