Ich hatte mich nicht so gut an die Situation gewöhnt, wie ich gehofft hatte. Mutter schien alles in allem in Ordnung zu sein. Vielleicht fühlte ich deshalb jedes Mal einen Stich von Neid, wenn ich von meinen vormittäglichen Studienveranstaltungen nach Hause kam. Dort schien alles fast normal zu sein. Ich fand sie leise vor sich hin summend in der Küche, wo sie das Mittagessen zubereitete. Es war eine fröhliche kleine Melodie, ein altes Kinderlied aus Brooklandia.
Es bescherte mir schreckliches Heimweh, das zu hören.
Ich stellte meinen Rucksack auf den Küchentisch, um Mutter meine Anwesenheit kundzutun. Sie machte vor Schreck einen kleinen Sprung.
„Wie war das Seminar?“, fragte sie fröhlich. Dass wir nicht mehr in Brooklandia waren, hatte für ihre Laune Wunder bewirkt. Sie war fast wieder ganz sie selbst, bevor all die Politik und der Machtkampf ihr Wesen verfremdet hatten.
Ich zuckte die Schultern. „Es war okay.“
„Hast du Hunger? Ich habe Würstchengulasch gemacht. Dein Lieblingsessen!“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Danke, Mutter.“
Sie stellte eine große Schüssel Gulasch vor mich auf den Tisch und zerzauste mir die Haare. Genau dieses Gericht hat sie immer für mich und Marina gekocht, als wir Kinder waren. Wenn das Wetter draußen kalt war, bereitete sie nicht nur dieses besondere Gericht zu, sondern machte uns auch einen großen Becher heißen Kakao mit fluffiger Schlagsahne. Es war eine seltsame Kombination von Geschmacksrichtungen, aber als kleiner Junge war es mein Lieblingsgericht.
Jetzt hätte mir die heiße Schokolade nur Bauchschmerzen bereitet.
Ich sah mich in der Wohnung um, während ich aß. Mutter hatte sich sehr bemüht, sie zu dekorieren. Sie hatte es geschafft, einen Job als Privatlehrerin für ein paar Schüler der St. George's Preparatory School zu bekommen, indem sie meine Verbindungen zu ehemaligen Klassenkameraden genutzt hatte. Die Bezahlung war ziemlich beeindruckend, wenn man den Skandal um unseren Familiennamen bedachte. Mutter hatte sich jedoch gut geschlagen und keinen geringeren Lohn akzeptiert, als ihr zustand.
Für mich war es schwieriger. Meine Kommilitonen an der juristischen Fakultät waren alle unglaublich versiert und sachkundig. Die meisten von ihnen hatten von der gescheiterten Rebellion gehört, davon, wie die Sabatinos in Ungnade gefallen waren. Ich tat mein Bestes, den Klatsch zu ignorieren, und konzentrierte mich auf mein Studium. Ich musste die Dinge Tag für Tag in die Hand nehmen, mich auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren, anstatt auf die Gerüchte zu hören. Ich mochte die unnötige Aufmerksamkeit nicht, aber was konnte ich tun?
Oliver hatte mir seit meiner Abreise einige Nachrichten geschrieben. Es war ziemlich normales Zeug, er fragte, wie es mir ging und so. Ich versuchte, einen Schein der Normalität zu wahren und sagte ihm, dass es mir gut ginge.
Aber das war meilenweit von der Wahrheit entfernt.
Ich hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlte, als ob alle meine inneren Organe völlig durcheinander und am falschen Ort wären. Ich fühlte mich am falschen Ort, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne. Die Tatsache, dass ich nie wieder nach Brooklandia zurückkehren konnte, lastete schwer auf mir. Es bedeutete, dass ich sie nie wiedersehen würde, und ich wusste nicht, ob ich diesen Schmerz ertragen konnte.
An manchen Tagen war es schlimmer als sonst. Jedes Mal, wenn ich von Marina träumte, wachte ich in kalten Schweiß gebadet auf. Meine Träume waren nie besonders ereignisreich. Es war nur das Bild von ihr vor meinem geistigen Auge, das mich absolut untröstlich stimmte. Es war, als wäre meine Seele zerrissen, in Millionen kleine Stücke zerfetzt. Ich verstand allmählich diese Geschichten über alte Ehepaare, die innerhalb weniger Tage nacheinander starben. Die Einsamkeit, die ich durchlebte – es war einfach zu viel.
„Wie schmeckt es dir?“, fragte Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Gut“, murmelte ich leise.
Meine Mutter sagte nichts, aber ich konnte sehen, wie sie mich aus den Augenwinkeln musterte. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und neigte den Kopf zur Seite.
„Geht es dir gut? Du siehst ein wenig krank aus. Du wirst doch nicht etwa krank, oder?“
„Es geht mir gut, Mutter.“
Unbeeindruckt machte sie weiter. „Ich habe heute im Supermarkt eine sehr nette junge Dame getroffen.“
„Mhmm“, murmelte ich und achtete nicht wirklich darauf. Ich piekte ein Stück mit Soße durchtränkter Makkaroni auf einen der Zinken meiner Gabel.
„Ich habe ihr von dir erzählt. Sie hat mir ihre Nummer gegeben, falls du interessiert bist.“
Ihre Worte gingen in das eine Ohr hinein und schnurstracks durch das andere hinaus. „Mhmm“, murmelte ich wieder. „Das ist schön, Mutter.“
Sie kam langsam um den Tisch herum und setzte sich neben mich. „Du hast kein Wort davon verstanden, oder?“
„Was?“, fragte ich und fuhr auf. „Oh, ähm … Nein, danke. Ich bin im Moment nicht wirklich daran interessiert, mich mit jemandem zu verabreden.“ Es ist noch zu früh . Ich bin noch nicht so weit . „Die Abschlussprüfungen stehen vor der Tür. Ich muss lernen.“ Ich bin noch nicht bereit, loszulassen.
Mutter legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Ihre Berührung war sanft, erschreckend sanft. Ich war an diese Art von Zuneigung nicht gewöhnt. Ich sah sie an und wunderte mich über ihre gerunzelten Brauen und ihre zu einem schmalen Strich zusammengepressten Lippen. Ich erkannte das Mitleid in ihren Augen und hasste jede Sekunde davon.
„Das war kein Witz“, flüsterte sie. „Als du sagtest, du liebst die Prinzessin, hast du nicht gescherzt, nicht wahr?“
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Lust auf dieses Gespräch“, sagte ich. Es ist zu schwer .
Mutter öffnete und schloss ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, entschied sich aber dagegen. Sie klopfte mir noch einmal auf den Unterarm, bevor sie wieder aufstand und in die Küche zurückkehrte, um sich etwas zu essen zu holen.
Genau in diesem Moment klopfte es dreimal heftig an der Haustür.
„Ich glaube, das ist Mrs. Wilson. Sie sagte, sie wolle ein paar Kekse vorbeibringen. Machst du auf, mein Lieber?“
Ich nickte, stand auf und manövrierte um die graue Ledercouch im Wohnzimmer herum, um zur Vordertür zu gelangen. Ich öffnete sie weit, in der Erwartung, eine kleine alte Frau mit grauem Haar zu sehen.
Stattdessen schlang jemand seine Arme um meinen Hals und hing sich an mich, wodurch ich aus dem Gleichgewicht geriet. Ich landete auf dem Rücken im Eingangsflur, zu verblüfft, um etwas zu sagen. Mein Herz sprang in meine Kehle und blieb dort hängen, als der vertraute Duft von Rosenduft meine Nase traf und der sanfte Schimmer blonden Haares vor meinen Augen leuchtete. Ich musste träumen. Es gab keine Möglichkeit, dass dies real war. Vielleicht war ich im Hörsaal die Stufen heruntergefallen und hatte mir den Kopf gestoßen und hatte jetzt Halluzinationen.
„M…Marina?“, brachte ich völlig verblüfft hervor.
Sie ließ mich los, lächelte strahlend und lachte leise. Ihre Wangen waren gerötet und in ihren Augenwinkel waren kleine Fältchen. Sie lachte und beugte sich dann nieder, um mich zu küssen. Ihre Lippen waren so weich und wolkenartig, dass ich den Kuss kaum wahrnahm. Ich hatte definitiv Halluzinationen, denn das war zu schön, um wahr zu sein.
Ich traute mich nicht, sie anzufassen. Ich hatte Angst, dass sie zu Staub zerfallen und ich aus meinem Traum erwachen würde, wenn ich meine Hände auf ihre Taille legte, wenn ich versuchte, sie zurück zu küssen,
„Hi“, sagte sie erregt, mit zittriger Stimme. „Hast du mich vermisst?“
Ich starrte sie eine Ewigkeit lang an, mein Mund stand offen in einer Mischung aus Verwirrung und Schock. Langsam hob ich eine Hand und strich mit meinem Finger über ihre Wange. Entgegen meiner Erwartung löste sie sich nicht in Luft auf.
„Du bist wirklich hier“, flüsterte ich ungläubig. „Was sind … Wie?“ Wir standen auf, ohne einen Zentimeter auseinanderzugehen. Ihre Arme lagen immer noch um meinen Hals, während ich zögernd meine Arme um ihre Taille schlang. Ich schüttelte den Kopf. „Du darfst nicht hier sein. Was ist mit deinen Leibwächtern?“
„Ich habe sie ein paar Straßen weiter abgehängt“, sagte sie stolz.
„Marina, ich kann nicht … Sie werfen mich wieder ins Gefängnis, wenn sie mich mit dir erwischen.“
„Sie würden es nicht wagen, Hand an den Prinzgemahl zu legen“, sagte sie und lächelte mich dabei frech an.
„Prinzgemahl? Wovon sprichst du?“
„Du hast mich einmal gebeten, dich zu heiraten“, sagte sie leise. „Gilt dieses Angebot noch? Hast du es ernst gemeint?“
Ich nickte langsam, immer noch völlig verwirrt. „Ja. Ich meine, natürlich. Aber ich …“
„Wenn wir verheiratet sind, kann mein Vater dich nicht verhaften lassen. Das ist schlecht für die Außenwirkung.“
„Außenwirkung? Du klingst wie ein Politiker.“
Sie kräuselt ihre Nase hinreißend. „Möglicherweise habe ich deinen Vater konsultiert, bevor ich herkam.“
„Vater? Was? Wie? Mein Kopf tut weh.“
Marina lachte, ein wunderbares und schönes Lachen. Sollte das ein Traum sein, so wollte ich nie wieder aufwachen.
„Hallo?“, rief meine Mutter aus der Küche. „Rodrigo, wer ist da?“ Sie kam in den Flur und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken. Mutter blieb erstarrte stehen, als ihr Blick auf Marina fiel. „Ich … Prinzessin? Was machen Sie denn hier?“
Marina ließ mich los, ging auf meine Mutter zu und nahm deren Hände in ihre. „Mrs. Sabatino, ich … ich möchte Sie um die Hand Ihres Sohnes bitten. Ich weiß, dass Sie und meine Eltern seit geraumer Zeit zerstritten sind, aber ich bitte Sie dringend, nicht an sie zu denken.“
„Sie … Sie wollen meinen Sohn heiraten?“
Marina nickte bekräftigend, Hoffnung funkelte in ihren Augen. „Ja, Mrs. Sabatino. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn schon seit langer Zeit. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als für den Rest meiner Tage mit ihm zusammen zu sein. Und wenn sich unsere Familien dadurch verbinden, ist das ein Bonus.“ Sie atmete zittrig aus und setzte ein süßes Lächeln auf. „Ich weiß, es ist viel zu verarbeiten, aber es ist die Wahrheit. Ich habe keine bösen Absichten, das schwöre ich. Ich möchte Rodrigo heiraten, mit ihm alt werden, ihn in Ehren halten. Und ich würde mich wirklich freuen, wenn ich Ihren Segen haben könnte.“
Mutter schaute zu mir, dann zu Marina und dann wieder zu mir zurück. Ihre Verwirrung war beinahe greifbar. Eine Sekunde lang hatte ich wirkliche Angst davor, wie sie reagieren würde. Ich wusste nicht, ob Mutter nur kurz davor war, Marina ins Gesicht zu schlagen, oder ob sie in einen Lachanfall ausbrechen und sie wegschicken würde.
Glücklicherweise tat sie weder das eine noch das andere.
„Okay“, sagte sie leise.
„Was?“ Ich starrte sie an.
„Ich gebe Ihnen meinen Segen, meinen Sohn zu heiraten.“
„Meinst du das ernst, Mutter?“
Sie nickte. „Ja, es ist mir ernst. Es ist klar, wie sehr ihr beide euch liebt. Und ich hatte langsam genug von deinem Trübsalblasen.“
Marina sprang zu mir und umarmte mich ganz fest. „Du hast Trübsal geblasen?“
„Nein“, log ich. „Vielleicht.“
„Nur weil ich Ihnen meinen Segen gegeben habe, heißt das noch lange nicht, dass Ihre Eltern es auch tun“, bemerkte Mutter. „Haben Sie schon mit ihnen darüber gesprochen?“
Marina schnalzte mit der Zunge. „Nein. Und das werde ich auch nicht tun. Ich werde Rodrigo heiraten, so oder so. Man könnte sagen, ich zwinge sie zum Einlenken. Ich kümmere mich um sie, wenn ich zurückkomme.“
Ich lachte, atemlos und leicht. „Du bist erstaunlich“, sagte ich. Ich meine, ich wusste immer, dass Marina erstaunlich war, aber ihre Kühnheit zementierte die Tatsache in meinem Kopf. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und küsste sie kräftig. Es war so natürlich, ihre warmen, weichen Lippen an meinen zu spüren. Ich würde nie ihres süßes Parfüms überdrüssig werden, und ich würde niemals Trost in der Wärme einer Person finden, die nicht sie war. „Lass es uns tun“, sagte ich. „Lass uns heiraten.“
Marina lächelte heller als die Sonne. „Wo ist das Rathaus?“
„Du willst im Rathaus heiraten?“, fragte ich. „Willst du nicht eine große Hochzeit mit Kirche, Kuchen, Gästen und einem Kleid?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist mir egal. Ich brauche das alles nicht. Solange ich mit dir zusammen sein kann, können wir von mir aus nach Vegas fahren und eine dieser Drive-Thru-Ehen eingehen.“
Ich lachte. „Wirklich?“
„Es ist mir todernst.“
„Wir brauchen einen Zeugen.“
Marina wandte sich an Mutter. „Möchten Sie mitkommen?“
Mutters Gesicht zeigte eines ihrer seltenen Lächeln. „Sicher. Es wäre mir eine Ehre.“
„Fantastisch! Brandon und Oliver warten unten im Auto, es wird also eine kleine Party.“
„Oli ist hier?“
„Ich habe so lange auf sie eingeredet, dass sie mitgekommen sind“, gab sie zu.
Ich hielt Marina so nah wie möglich bei mir, aus Angst, loszulassen. „Bist du sicher, dass du eine Hochzeit im Rathaus willst? Du verdienst so viel mehr.“
Marina fuhr mit ihren Fingern durch mein Haar und zog dann die Linie meiner Kieferpartie entlang. In ihren Augen war nichts als Liebe. „Ich bin sicher, Rodrigo. Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie sicherer.“
Ich grinste sie an. „Ich habe nicht einmal einen Ring, den ich dir anstecken kann.“
„Das ist mir egal. Versprich mir nur eines.“
„Alles, was du willst.“
„Keine weißen Rosen mehr.“
Ich kicherte. „Okay. Das kann ich definitiv versprechen.“