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10 Als sie John den Hügel herunterkommen sah, missfiel Sarah ihr Einfall plötzlich. Musste er nicht annehmen, sie laufe ihm nach? Gestern war sie ihm auf das Begräbnis seiner Lehrerin gefolgt, heute sah es so aus, als ob sie sich vom Wasser einschließen ließ, damit John sie retten könnte. Würde er ihr glauben, dass nichts dahintersteckte als Zufall? Sarah sah sich plötzlich, wie John sie sehen musste: eine wohlhabende Landlady mit zu viel Zeit, die ihre Bekanntschaft mit einem gut aussehenden Skipper zu vertiefen suchte – nein, so wollte sie nicht dastehen, nicht ausgerechnet vor John, den sie wirklich gernhatte.

Den sie gernhatte? Irritiert hielt Sarah inne. Sie war in John einem freundlichen, stillen Mann begegnet, der seine Familie mit einem Aushilfsjob durchbrachte. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie sich gut verstanden, und doch wäre es verrückt, ihr Aufeinandertreffen zu missdeuten. Sie waren einander in einer verzweifelten Lage begegnet, nun würde sich ihr Verhältnis bald normalisieren, Billy würde aus der Klinik entlassen werden, danach hatten Familie Cormac und die Henleys nichts mehr miteinander zu schaffen.

Nachdem Sarah in ihren Gedanken so weit gekommen war, gab es für sie keinen Zweifel mehr, dass sie nun so schnell wie möglich von hier fortwollte. Ein paar unvernünftige Momente lang hatte sie es sich romantisch vorgestellt, John wiederzubegegnen und von ihm gerettet zu werden. Blanker Unsinn, schalt sie sich, so dramatisch war ihre Situation nun auch wieder nicht; es gab genügend andere Boote, die sie später mit hinübernehmen konnten. Aber darauf warten und inzwischen vielleicht doch noch John in die Arme laufen, das wollte Sarah nun wirklich nicht.

Kurz entschlossen schlüpfte sie aus den Schuhen, zog die Strümpfe aus und eilte von der Hafenmole seitwärts die Rampe hinunter, die auf den Damm führte. Sie lief ins Wasser – Gott, war das eisig! Cornwall mochte ein mildes Klima haben – der Atlantik war dennoch kalt. Selbst im Sommer gingen die Surfer nur mit Neoprenanzügen ins Wasser. Einmal Preußin, immer Preußin, ermutigte sie sich und lief weiter. Die Strecke mochte vielleicht dreihundert Meter lang sein, das würde sie schaffen. Nachdem das Wasser ihre Knie umspülte, schien es nicht mehr tiefer zu werden. Sie genoss das erfrischende Fußbad, der Tag hatte so überhitzt begonnen, dass es ihr genau das Richtige schien. Sie vermied es, sich umzudrehen, von hinten und auf die Entfernung würde John sie kaum erkennen.

Außer ihr war kein Mensch auf dem Damm. Einheimische und selbst die Touristen schienen zu wissen, dass ein überspülter Steg seine Tücken hatte. Sarah war noch nicht bis zur Mitte gekommen, als sie auf etwas Weiches trat und das Gleichgewicht verlor. Wie in einem Cartoon ruderte sie hilflos mit den Armen, und im nächsten Augenblick ging sie baden.

Mein Ausweis, der Führerschein, die Autoschlüssel, waren ihre ersten Gedanken, während sie prustend versank. Verrückterweise musste sie auch daran denken, dass Russells Feuerzeug nun nass werden würde. Die Kälte war weniger schlimm als die Aussicht, klitschnass an Land waten und ins Auto steigen zu müssen.

Sie war gerade wieder aufgetaucht und begann sich zu orientieren, als sie einen Motor hörte. Nicht vom Land her, das Geräusch näherte sich in ihrem Rücken. Nachdem sie sich das Salz aus den Augen gerieben hatte, entdeckte sie ein rotes Schlauchboot, das auf sie zukam. Es steuerte niemand anderer als John Cormac. Wie war er so schnell in das Dingy gekommen? John erreichte sie, drosselte den Motor und fuhr einen Kreis um Sarah.

»Geben Sie mir Ihre Hand!« Sein blondes Haar fiel ihm ins Gesicht.

Sarah hätte vor Peinlichkeit schreien mögen. Genau das hatte sie vermeiden wollen: John Cormac rettete sie!

»Es geht schon«, rief sie und versuchte sich möglichst ladylike aus den Fluten zu erheben.

»Geben Sie mir Ihre Hand, ich bitte Sie.« Er sagte es voll Anteilnahme, doch im nächsten Moment konnte er nicht an sich halten und brach in Gelächter aus. »Entschuldigung, aber das sah einfach zu komisch aus, als Sie …« Er riss sich zusammen. »Verzeihung.«

Da es nicht mehr schlimmer kommen konnte, zögerte Sarah nicht länger und ergriff seine Hand. Mit den Füßen stieß sie sich vom Untergrund ab, ihr Oberkörper landete auf dem Rand des Schlauchbootes. Sie konnte sich vorstellen, wie lächerlich sie aussah: Wie eine Kröte ruderte sie mit allen vieren und versuchte strampelnd ins Gummiboot zu gelangen. John umfasste ihre Schultern, zog und hievte. Wenn ich nur fünf Kilo leichter wäre, dachte sie und saß endlich im Rettungsboot. Sie fuhr sich durchs klitschnasse Haar.

»Wie haben Sie das gemacht, so schnell hier zu sein?« Ihre Augen brannten vom Salzwasser.

»Ich habe immer wieder mal ungeschickte oder tollkühne Bootsgäste, denen Ähnliches passiert.« Er zeigte zur Insel. »Mein Kutter ist zu hoch, um jemanden damit zu bergen. Das Rettungsboot ist Vorschrift.«

»Ich gehöre wohl eher zur ungeschickten als zur tollkühnen Sorte«, knurrte Sarah.

»Im Gegenteil, ich habe Sie bewundert, als Sie ins Wasser gewatet sind.«

»Sie haben mich erkannt?«

Er nickte. »Wieso haben Sie nicht auf mich gewartet? Ich hätte Sie an Land gebracht.«

Die Frage war so logisch wie unbeantwortbar. John gab Gas und steuerte zu seinem Kutter zurück. Sarah zählte fünf Gäste, die staunend darauf warteten, dass ihr Reiseführer von seiner Rettungsaktion zurückkehrte.

»Vielleicht könnten Sie mich drüben absetzen«, sagte sie, ohne John anzusehen.

»Ist mir ein Vergnügen.« Er lachte so jungenhaft, dass sie ihre miese Laune vergaß und in sein Lachen mit einstimmte.

»Kann man sich etwas Idiotischeres vorstellen als meinen Versuch, übers Wasser zu gehen?« Sie lachten so herzlich, dass die Touristen neugierig von einem zum anderen schauten.

Kurz darauf verabschiedeten sie sich an Sarahs Auto. Sie fröstelte, der Fahrtwind war kühl gewesen. Nun wollte sie so schnell wie möglich aus den nassen Sachen heraus.

»Merkwürdig, dass uns wieder ein Unfall zusammenführt.« Sie spürte, wie das Salz auf ihrer Haut trocknete.

John sah sie einen Moment lang an, dann gab er ihr ihre Tasche. »Ich würde Sie gern auf einen Drink einladen.«

»In dem Zustand?« Sie sah an sich hinunter.

»Nicht jetzt. Wenn Sie etwas trockener sind.« Er lächelte. Sein Blick schweifte über die Küstenlinie, über ihnen erhob sich das Snooty Fox Inn.

»Einverstanden«, antwortete sie. »Wenn es nicht ausgerechnet das Snooty Fox ist.«

»Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.« Er fixierte sie mit seltsamem Ausdruck.

»Gern.« Ihr war komisch zumute. Eben noch hatte sie über das ungewöhnliche Verhältnis zu John nachgedacht, und nun lud er sie zu einem Drink ein.

»Heute habe ich zu viele Kunden und will danach noch Billy besuchen. Wie wäre es morgen?«

»Einverstanden«, sagte sie eine Spur zu prompt.

»Nachmittags?«

»Lieber zu Mittag.« Sie hatte keine Lust, Russell erklären zu müssen, wo sie hinfahren würde.

»Zum Lunch?«

»Abgemacht.« Sie öffnete die Autotür.

»In Portreath hat ein neues Fischlokal aufgemacht, das noch ein Geheimtipp ist.«

Sie verabredeten Ort und Zeit, danach ging John ans Wasser zurück. Sarahs nasses Kleid machte auf dem Ledersitz ungewohnte Geräusche. Sie schaltete die Heizung ein. Ich habe eine Verabredung mit John Cormac, dachte sie, und konnte sich ihre Fröhlichkeit nicht recht erklären.