11

11 In Trelawn war es still. Die Gäste gingen friedlichen Beschäftigungen nach, Pit und Willy waren nach Newlyn aufgebrochen, weil sie vom dortigen Fischmarkt gehört hatten. Elaine hatte eine Ameisenstraße entdeckt, ein Hinweis darauf, dass die letzten Gäste von Nummer 3 etwas Verderbliches hinter die Kommode hatten fallen lassen. Mit vereinten Kräften rückten sie das Möbel vor – der Anblick war unerfreulich und unappetitlich – und entsorgten den Fund.

Obwohl sie geduscht hatte, spürte Sarah das Salz noch auf der Haut, ihr Haar war spröder als sonst. Das Feuerzeug hatte sie in ihrem Zimmer zum Trocknen auf die Fensterbank gelegt. Durch die Begegnung mit John war Sarahs Erlebnis im Hotel in den Hintergrund gerückt. Nun überlegte sie, wie sie Russell darauf ansprechen sollte, ohne ihn gleich zu verdächtigen. Sie wollte ihm die Chance geben, die Widersprüche aufzuklären, hoffte mittlerweile sogar auf eine simple Erklärung. Wenn man es recht besah, hatte er wenig getan, um seine Hotelreservierung zu verschleiern. Russell, der Londoner, und die Deutsche, die das Luxusgut Trelawn gekauft hatten, waren in der Gegend nicht unbekannt. Man hätte ihn im Snooty Fox leicht erkennen können, in dem Fall hätte Sarah die Information auf anderem Weg erhalten. In den Stunden, die dem aufregenden Vormittag folgten, überlagerten merkwürdige Gefühle ihr Misstrauen gegen Russell und verwirrten sie zusehends – es waren Gefühle für John Cormac.

»Reiß dich bitte zusammen«, sagte sie in ihrem Zimmer. »Es geht nicht an, dass du plötzlich Frühlingsgefühle bekommst wegen irgendeines Mannes, den du kaum kennst. Du hast gerade wirklich andere Probleme.«

Es liefen so einige gut aussehende Männer in Cornwall herum. Knorrige Typen mit zupackenden Berufen – Automechaniker, Männer, die mit Bulldozern die Strände reinigten, Fischer, Berufstaucher und Landschaftsmaler. Die Kornen waren ungewöhnliche Männer, schließlich waren sie Nachfahren von König Arthurs Tafelrunde, dachte Sarah. Auch John wirkte wie ein moderner Ritter. Ein stiller Mann, der mit seinem Schiff aufs Meer fuhr, die Traditionen Cornwalls liebte, seine alte Lehrerin zu Grabe trug, ein Mann, der schwere Schicksalsschläge verkraftet hatte. Sarah sah im Geist Johns Frau vor sich, sportlich, mit rotem Haar und hellen Augen. Sie hatten zusammen eine kleine Firma aufgebaut.

Noch ein ganzer Tag, bis sie ihn wiedersehen sollte. Sarah war neugierig, was er ihr sagen, wieso er sie überhaupt treffen wollte. Ein Blick aus dem Fenster: Im Garten wartete viel Arbeit. Rund um die Beerensträucher musste die Erde umgegraben werden, die Rosen brauchten Dünger, die Winterstürme hatten Äste von den Bäumen gerissen, die Sarah zu Brennholz zersägen wollte. In den ersten Jahren waren ihr manche Arbeiten zu schwer gewesen; mittlerweile legte sie fast überall selbst Hand an, weshalb Elaine sie scherzhaft Lady Workaholic nannte.

Bevor sie hinausging, griff Sarah zum Telefon. Der wöchentliche Anruf in Berlin war ein Ritual, heute hatte er sogar einen tieferen Grund. Früher hatte sie einfach ihre Eltern angerufen, heute musste sie entscheiden, ob sie Vater oder Mutter sprechen wollte. Sie wählte Hannes Nummer.

»Ich bin beim Walken«, sagte ihre Mutter ohne Begrüßung, weil sie Sarahs Nummer erkannte.

»Wo walkst du?«

»Grunewald, Schatz. Ich bin begeistert von Carlo. Ich dachte immer, die Süditaliener nehmen selbst für die kleinste Strecke das Auto. Aber er hat eine Kondition …«

»Dann passt es vielleicht im Augenblick schlecht.« Unsinnigerweise fand Sarah sich belauscht, wenn der Freund ihrer Mutter in der Nähe war.

»Es geht schon, ich habe dieses Dings im Ohr. Ich kann telefonieren und walken gleichzeitig.«

Sarah stellte sich Hanne vor, wie sie mit den Stöcken ausholte, während ein Headset an ihrem Ohr klemmte. So sahen die Senioren von heute aus.

»Ich wollte nur plaudern.«

»Pinocchio«, kam es vom andern Ende, das Codewort, wenn Hanne ihre Tochter beim Lügen erwischte.

»Na schön – die Wahrheit ist, Russell hat mich möglicherweise ein zweites Mal betrogen.«

Hanne wechselte ein paar italienische Worte mit ihrem Partner. »Erzähl mir alles. Ich habe Carlo ein Stück vorausgeschickt.«

In der Pause, die entstanden war, hatte Sarah ihre Gedanken geordnet. »Eigentlich ist das nur die halbe Wahrheit. Im Moment beschäftigt mich weniger, ob Russell fremdgeht, sondern …«

»Sondern?«

»Ich habe einen Mann kennengelernt.«

»Au Backe«, sagte Hanne. »Ich hab’s gewusst.«

»Was heißt das?«

»Ich wusste, dass da noch ein Nachspiel kommt.«

»Nachspiel?«

»Mir war klar, du würdest Russells Untreue nicht so einfach wegstecken. Nicht du, mein idealistisches Mädchen.«

»So idealistisch bin ich gar nicht.«

»Schon als du ganz klein warst, hast du ein Unrecht, das man dir oder anderen antat, nicht ertragen.« Bevor Sarah antworten konnte, fragte Hanne: »Wer ist der Mann?«

»John. Ich habe dir auf der Geburtstagsparty von ihm erzählt. Der Vater des verunglückten Jungen.«

»Der Mann vom Unfall? Wieso hast du den wiedergesehen?« Sarah hörte die Stöcke der Mutter klappern. »Er ist doch verheiratet.«

»Stimmt. Ich treffe ihn ja auch nur auf einen Drink. Du glaubst, das Ganze könnte bloß eine späte Reaktion auf Russells Affäre sein? Nein, Mama, das ist mir zu primitiv.«

»Das ist die Liebe meistens – primitiv.«

Die Liebe. Zum ersten Mal, seit Sarah John kannte, war das Wort gefallen. »Das ist noch keine Liebe, wenn man …« Sie lachte. »Er hat mich aus dem Wasser gezogen.«

»Wenn das keine Liebe ist«, antwortete Hanne trocken. »Russell ist ein prima Kerl, ein guter Mann. Ein Mann in seinen Fünfzigern, das erklärt manches. Wie alt ist der andere?«

»So alt wie ich, schätze ich.«

»Und er hat Frau und Kind.«

»Zwei Kinder.«

»Nicht gut, gar nicht gut. Kennst du die Frau?«

»Flüchtig.«

»Was macht er beruflich?«

»Er hat ein Boot.«

»Für Romantik ist also gesorgt«, sagte Hanne. Die Stöcke schwangen klappernd aus.

»Es ist noch gar nichts passiert.«

»Du hast noch gesagt. Du willst also, dass etwas passiert.«

»Ich weiß nicht, Mama.« Sarah ließ sich rücklings aufs Bett sinken.

»Du weißt es, und du willst es. Dir ist hoffentlich klar, was das bedeutet. Wenn Russell sich seine Männlichkeit mit einem Seitensprung beweisen will, dann geht es wirklich bloß darum. Wenn du mit John in den Sonnenuntergang schipperst, dann steckst du in schlimmen Schwierigkeiten.«

»Wieso?«

»Weil dein Herz mit hinausfährt. Dann kommst du als eine andere zurück.«

»Russell hat auch sein Herz an Miss Moynihan verloren.«

»Weißt du, warum? Weil die Lady ihn nicht wollte! Weil sie den feschen Russell in seiner Midlifekrise heimgeschickt hat. In dem Fall glauben die Männer meistens, ihnen geht die große Liebe ihres Lebens flöten. Wenn Russell und die Schottin zusammengekommen wären – keine drei Monate später wäre er reumütig zu dir zurückgekrochen.«

Sarah musste über Hannes Monolog lachen. »Wieso arbeitest du nicht als Paartherapeutin? Du scheinst alle Spielformen der Liebe zu kennen.«

»Man nennt es auch Lebenserfahrung.« Hanne lief schneller. »Si, si, certo, amore!«, rief sie. »Sorry, aber die Liebe meines Lebens wird ungeduldig. Wir müssen ein andermal weiterquatschen.«

»Danke, dass du mir zugehört hast.«

»Gern geschehen. Tschüs.«

Wenn du mit John in den Sonnenuntergang schipperst, dachte Sarah und musste grinsen, dann dachte sie an das bevorstehende Gespräch mit Russell und wurde wieder ernst.

Russell kam später nach Hause als sonst, es dämmerte bereits. Er legte den Schlüsselbund auf die Konsole, richtete vor dem Spiegel sein Haar, machte sich einen Drink und stieg die Stufen zur Küche hinauf. Sarah war mit dem Dinner fertig, der Salat stand auf dem Tisch.

»Schönen Tag gehabt?«, fragte er gewohnheitsmäßig.

»Wie man’s nimmt. Ich hatte einen verrückten Tag.«

Mit erhobenen Augenbrauen setzte er sich auf seinen Platz und wartete, bis Sarah weitersprach.

»Ich war heute in Marazion.«

»Hast du die Stoffe endlich ausgesucht?«

In Marazion gab es das beste Geschäft für Möbelstoffe und einen erstklassigen Polsterer. Seit Langem wollten sie die Sessel vor dem Kamin neu beziehen lassen, verschoben es aber immer wieder. Russell nahm die Serviette aus dem Silberhalter und legte sie über seine Knie. Durch nichts ließ er erkennen, ob Sarahs Eröffnung ihn alarmierte. Sein Handy klingelte.

»Entschuldige, das wird Sam sein.«

»Mach’s nicht zu lang.«

Nach zehn Minuten kam er aus seinem Zimmer, das Telefon immer noch am Ohr.

»Tut mir leid. Ich könnte jetzt an die Vorteilsaktien rankommen, aber nur, wenn ich schnell bin.«

»Das heißt?«

»Würde es dir was ausmachen, ohne mich zu essen? Ich wärme mir das Stew später auf.«

Sarah setzte ein ärgerliches Gesicht auf, doch in Wirklichkeit war sie froh, einen Aufschub gewonnen zu haben. Die Disziplin sagte ihr, man dürfe die Angelegenheit nicht auf die lange Bank schieben, doch sie hatte gerade nicht das Bedürfnis, Russell auf den Zahn zu fühlen – sie hatte keine Lust auf unangenehme Neuigkeiten. Später vielleicht. Vor dem Zubettgehen würde sich eine Gelegenheit ergeben.

»Okay, wenn diese Aktien so wichtig sind«, antwortete sie und tat sich eine Portion Stew auf.

Er deutete einen Kuss an und zog sich in sein Zimmer zurück.

Die Sonne war versunken, in blauen und violetten Tönen lag der Park vor dem Fenster, Sarahs Lieblingsstunde. Sie aß langsam und versonnen, betrachtete die Lichtreflexe im Weinglas, sah zu, wie die Konturen draußen weicher und unschärfer wurden und schließlich verschwanden. Sie öffnete das Fenster; um diese Jahreszeit waren noch keine Mücken zu befürchten. Die Grillen und Zikaden gaben ihr nächtliches Konzert, entfernt hörte man das Meer gegen die Klippen schlagen. Sarah stellte ihr Geschirr nicht in die Maschine, sondern spülte es von Hand, deckte das Stew zu und ging in ihr Zimmer hinauf. Sie holte Bücher über keltische Mythologie hervor und suchte weitere Hinweise zu Gwydyon. Mittendrin gestand sie sich ein, dass sie es weniger aus Wissensdurst tat, sondern weil sie John morgen davon erzählen wollte.

Irgendwann hörte sie Russell aus seinem Zimmer kommen. Wahrscheinlich hatte er nicht bis jetzt telefoniert, sondern online geschäftliche Transaktionen durchgeführt. Er kam die Stufen zu ihrem Zimmer hoch. Ohne genau zu wissen, warum, sprang Sarah zum Fensterbrett und versteckte das Feuerzeug.

»Lust auf ein bisschen Zweisamkeit?« Er öffnete die Tür nur so weit, dass er den Kopf hindurchstecken konnte.

»Jetzt habe ich mich gerade in diese Sache eingearbeitet. Da würde ich gern dranbleiben.«

»Sorry noch mal wegen des Essens.« Er überschritt die Schwelle nicht. »Vielleicht freut es dich zu hören, dass ich mit ein paar Mausklicks neuntausend Pfund verdient habe.«

»Gratuliere.«

»Dann genießen wir heute jeder seinen Single-Abend.«

Sie nickte, den Finger auf eine Buchseite gelegt. Unter dem Buch verbarg sich das Feuerzeug. Für Russell. Sie wollte es nicht erfahren, nicht jetzt, keine großen Gefühle und Vorwürfe, keine hitzigen Wortwechsel und das Aufreißen von Wunden, die gerade vernarbt waren. Das Feuerzeug blieb unter dem Buch verborgen, Russell zog die Tür zu und kehrte auf seine Etage zurück.