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13 Wie eine Fremde strich Sarah durch ihr Haus. Es dämmerte, die Gäste ruhten sich auf ihren Zimmern von den Tagesausflügen aus. Im Rittersaal betrachtete sie die vielen Dinge, deren Details sie all ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Das Wappen des Adelsgeschlechts war so stark beschädigt gewesen, dass sie es abgenommen und zu einem Künstler nach St. Ives transportiert hatte, der die Farben wieder zum Leuchten gebracht hatte. Um diese besonderen Vorhangkordeln zu bekommen, war sie bis Gloucester gefahren. Den großen Läufer, der den Rittertisch und die offene Feuerstelle verband, hatte sie so unvernünftig teuer ersteigert, dass selbst Russell, der ihr sonst freie Hand ließ, gemeint hatte: »Wir haben nicht die finanziellen Mittel der royal family.«

All die Arbeiten, Verschönerungen, das Finden und Präparieren der Accessoires hatten zwei Jahre gedauert. Noch bevor alles aufs i-Tüpfelchen fertig war, hatten sie begonnen, die Apartments zu vermieten. Sarah erinnerte sich an ihre Aufregung, als die ersten Gäste gekommen waren – Amerikaner, die die besondere Sorgfalt, mit der in Trelawn alles aufeinander abgestimmt war, nicht zu würdigen gewusst hatten. Seitdem suchte sie ihre Klientel so sorgfältig aus, wie das per E-Mail möglich war. Barbaren hatten unter ihrem Dach nichts verloren.

Und jetzt? Sarah drehte sich in der Halle im Kreis. Das ist der schönste Besitz der Gegend, und Sie wissen es, hatte John gesagt. Was bedeutete das schon? Trelawn war zum Museum erstarrt. Sie spürte kein Leben mehr darin – und hatte doch vor nicht langer Zeit ihr ganzes künftiges Leben auf dieses Haus ausgerichtet. Ihr war, als ob sie den Holzwurm im Gebälk hören könnte, als ob überall Spinnweben wehten, obwohl Elaine das niemals zulassen würde.

»Wo ist mein Herz?«, flüsterte Sarah. »Was ist mit ihm geschehen?« Nicht nur das Haus, auch sie selbst war sich im Augenblick merkwürdig fremd.

Sie floh in den Künstlerturm. Bald darauf hörte sie Russells Auto kommen. Während sie ihm die Buletten warm machte, erzählte er von Entwicklungen bei den Rentenfonds und wie er davon profitieren wollte. Sie aßen miteinander wie an unzähligen Abenden zuvor und plauderten über Alltäglichkeiten. Sie hätte das Feuerzeug holen und klären können, was der Klärung bedurfte. Zugleich war es das Letzte, was sie wollte. Ihr Herz war übervoll und traurig, ihre Gedanken kreisten um John. Was tat er gerade, wie ging er mit der Situation um? Während Sarah Russell von dem gleichen Weißwein einschenkte, von dem John getrunken hatte, verschwamm das Bild ihres Mannes vor ihr, und das Bild Johns schob sich dazwischen. Vor ein paar Stunden war die Liebe durch ihr Leben geweht, und sie hatte sie vorbeiziehen lassen. Wie hatte sie John gehen lassen können? Seit Tagen dachte sie ständig an ihn. Sie hatte sich auf ihre Verabredung gefreut wie ein junges Mädchen, war erregt und enttäuscht gewesen, als ihr Date ins Wasser zu fallen drohte. Dieser Mann hatte ihr die schönste Liebeserklärung gemacht, die man sich vorstellen konnte, sie aber hatte es nicht über die Lippen gebracht, zu sagen: »Ich habe mich auch in dich verliebt. Ich weiß, dass es nicht sein darf, und doch ist es passiert.«

Als sich der Abend Minute für Minute hinschleppte, hielt Sarah es nicht länger aus. Sie sagte, sie hätte etwas zu erledigen, lief in den Turm und starrte Johns Nummer auf dem Telefon an. Sie fürchtete, Maureen könnte abheben, doch selbst das war ihr jetzt egal.

John ging nach dem ersten Klingeln ran. Es hätte vieles zu klären gegeben, doch Sarah sagte einfach, was ihr auf der Seele brannte.

»Ich muss dich sehen.«

Ein kurzer Atemzug. »Ja, ich dich auch.« Seine Stimme klang aufgeregt. Im Hintergrund hörte sie ein Kind weinen.

»Heute noch, John.« War das sie selbst, die sprach, oder schrie die Verwirrung, die Hilflosigkeit aus ihr? »Ich weiß, wie verrückt das klingt.«

»Mir geht es genauso. Wo treffen wir uns?«

»Nicht im Hotel.« Unter anderen Umständen wäre ihr diese Offenheit unmöglich erschienen, aber sie konnte einfach nicht mehr. Die Zeit des Wenn und Aber, die Zeit des guten Benehmens war vorbei.

»Nicht im Hotel«, bekräftigte er.

»Wo dann?« Durch das Telefon hörte sie, dass Maureen und das Kind näher kamen.

»Auf dem Boot«, flüsterte er.

»In zwei Stunden?«

»Okay.« Er legte vor ihr auf.

Sie wusste nicht, was er Maureen erzählen, mit welcher Ausrede er so spät von zu Hause aufbrechen würde, ohne Argwohn zu erwecken. Sarah selbst hatte dieses Hindernis nicht zu bewältigen. Sie und Russell schliefen nicht mehr im selben Zimmer, seit sie aufgehört hatten, auf ein Kind zu hoffen. Der Parkplatz des Künstlerturms befand sich auf der Rückseite des Gebäudes, von den oberen Zimmern hörte man Autos weder ankommen noch abfahren. Und selbst wenn, es wäre Sarah egal gewesen. Sie forderte ihr Recht auf Glück und begriff zugleich, wie lange sie nicht mehr glücklich gewesen war. Sie verbrachte die verbleibende Zeit in ihrem Zimmer. Russell ging, wie gewohnt, früh zu Bett.

Mit wenigen Handgriffen machte sich Sarah schließlich im Bad zurecht, lief ins Erdgeschoss und verließ das Haus.

Sie fuhr durch die Nacht. Die Strecke nach Portreath war ihr vertraut, selbst in den scharfen Kurven gab sie Gas. Sie stellte sich Johns Kutter vor; mit all den zweckmäßigen Sitzbänken an Deck war es beileibe kein romantischer Ort. Und doch freute sie sich unendlich, dorthin zu kommen.

Während man tagsüber Tickets ziehen und einen Aufenthalt in Portreath mit dem Auto teuer bezahlen musste, wirkte der Hafen nachts wie ausgestorben. Sarah stellte das Fahrzeug quer über zwei Parkplätzen ab, sprang ins Freie und lief ans Wasser. Ein rotes und ein grünes Positionslicht zeigten ihr an, welches Boot es war; verheißungsvoller hätte eine Einladung nicht sein können. John stand am Ufer. Das Hemd, das er trug, war eine Schlafanzugjacke. Auch ihm schien es egal gewesen zu sein, wie er zu Sarah gelangte.

»Wie bist du fortgekommen?«, fragte sie.

Bevor er antworten konnte, lagen sie sich schon in den Armen. Sie spürte seinen Rücken, seine Schulterblätter, die kräftigen Muskeln. Er streichelte ihr kurzes Haar, den Hals, ohne Scheu glitt seine Hand tiefer und packte ihre Hüfte. Sie klammerte sich an John, wuchs an ihm empor, ihre Lippen suchten einander. Sarah gab sich dem Kuss hin, als ob es ihr erster wäre. All die Zurückhaltung, ihr Zaudern, das ängstlich Gebändigte in ihr, zerbrachen in tausend Stücke. Sie warf sich John entgegen und überschwemmte ihn mit ihren Gefühlen und einer Leidenschaft, die viel zu lange eingesperrt gewesen war. Ohne sich umzusehen, ob jemand sie beobachtete, zog John sie an den Rand des Ufers, sprang ins Boot und hob sie zu sich herunter. Er führte sie zur Kajüte neben dem Steuerrad. Dort mussten sie sich kurz trennen, da man nur einzeln in den Bootsrumpf schlüpfen konnte. John kroch voran und zog Sarah ins Dunkel nach. Während sie sich in seine Arme fallen ließ, sah sie durch ein Bullauge die andere Seite des Hafens, den friedlich beleuchteten Pier, die alte Turmuhr. Sie küssten sich. Ganz selbstverständlich begannen sie einander auszuziehen, in der winzigen Schlafkoje ein Ding der Geschicklichkeit und Ausdauer. Sarah zerrte an seiner Hose, er an ihrer Unterwäsche. Sie lachten und keuchten und sahen sich dabei glücklich an. Aufgeregt in ihrer Nacktheit, wurden sie übergangslos ein Paar, ohne jeden Vorbehalt, das Verbotene ihres Tuns zählte nicht. Sie liebten sich voll Hingabe und Zärtlichkeit. Irgendwann löste John sich von ihr, langte zu einer Klappe hinauf und stieß sie auf. Frische Luft drang herein, sie atmeten auf, küssten und liebten sich weiter. Durch die Öffnung über ihnen konnte Sarah den Mond sehen.

Die Liebe mit Russell war schön gewesen, Sarah hatte den Sex mit ihm genossen. Als ihr Kinderwunsch sie beide nur noch auf Sarahs Monatszyklen achten ließ und die Tage des Eisprungs ähnlich einer Kommandoaktion zur Befruchtung genutzt wurden, war Sex zur Funktion verkommen. Seitdem war es nicht mehr wie früher, und Sarah hatte sich eingeredet, sie seien eben bereits ein eingespieltes Ehepaar. Erst durch die Wunde, die Russells Affäre ihr zugefügt hatte, war ihr klar geworden, dass ihr Mann erotisch noch äußerst aktiv war, nur eben nicht mit ihr. Nach der Sache mit Miss Moynihan war ihr Liebesleben praktisch zum Erliegen gekommen. Die getrennten Schlafzimmer waren nur ein äußeres Zeichen dafür.

Die Stunden mit John erschienen Sarah wie das Öffnen einer Tür. In der winzigen Kajüte erforschte sie diesen unbekannten Männerkörper und genoss zugleich die Vertrautheit, die sie von Anfang an mit John verbunden hatte.

»Sag mir, wenn du heimmusst«, flüsterte sie, nachdem sie eine Weile erschöpft nebeneinandergelegen hatten und sich umschlungen hielten.

»Es ist egal.« Er streichelte ihre Brust.

»Wieso?«

»Ich habe …« Er hob den Kopf. »Ich habe mit Maureen einen Streit vom Zaun gebrochen, um fortzukönnen.«

»Für so durchtrieben hätte ich dich gar nicht gehalten.«

»Leider streiten wir ziemlich häufig in letzter Zeit.« Er seufzte. »Ich schlafe nicht selten hier draußen.«

Sie wollte fragen, was der Grund für die Unstimmigkeiten sei, doch es sollte ihm nicht so vorkommen, als ob sie hoffte, dass sein Ehesegen schief hing. Gedanken dieser Art waren ihrem Glück abträglich, das wusste Sarah, doch sie ließen sich nicht gänzlich beiseiteschieben und kratzten bereits an ihrem Hochgefühl.

»Wann musst du nach Hause?«, fragte er.

»Ich sollte hier weg sein, bevor der erste Ordnungshüter kommt und mir ein Parkticket verpasst.«

Sie küssten sich und brachten einander wieder in Stimmung. Gleich darauf vergaß Sarah alle ihre Befürchtungen.

Um kurz vor fünf stiegen sie schließlich in ihre Autos. Beide wussten, nach der Glückseligkeit begann nun ein Tag, der von Verwirrung und Gewissensbissen geprägt sein würde, ein Tag, an dem Lügen kaum zu vermeiden sein würden.

Sarah hatte Russell noch nie betrogen. Doch etwas in ihrem Leben war verschoben worden, sie konnte es noch nicht benennen, aber die völlige Hingabe zu John hatte nichts mit einem flotten Seitensprung zu tun. Es ängstigte sie, dass ihr Erlebnis weit darüber hinausging, zugleich gab es ihr neue Kraft.

Mit gemischten Gefühlen fuhr sie nach Trelawn zurück. Die aufgehende Sonne tauchte das Land in magische Farben.