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17 Auf einem Hügel, der zum Fowey River hin abfiel, erhob sich die kleine Stadt Fowey. Bevor Sarah das Auto holte, lief sie durch die Gassen, an manchen Ecken blinzelte der Fluss zwischen den Häusern hindurch. In der Westbucht entdeckte sie den Jachthafen, wo trotz der frühen Jahreszeit Segler, kleine Schoner und Motorboote lagen. Dahinter erstreckte sich der kommerzielle Hafen, in dem auch die Werft von Fitzmaurice war.

Sie wäre länger in Fowey geblieben, hätte die Auktion in dem wenige Kilometer entfernten Lostwithiel nicht bald begonnen. Während Sarah dorthin fuhr, beaufsichtigte John die Reparatur seines Bootes, so hatten sie es verabredet. Es war ihr recht, allein in das Antiquitätendorf aufzubrechen; sie kannte die meisten Händler dort. Beim Einrichten von Trelawn hatte Sarah eine Stange Geld in Lostwithiel gelassen. Obwohl es nicht verfänglich gewesen wäre, sich mit einem Fremden zu zeigen, war Sarah froh, nichts erklären zu müssen.

Entlang der Hauptstraße zogen sich die antique shops hin, von Schmuck und Geschirr bis zu wuchtigen Möbeln wurde hier so gut wie alles angeboten. Viktorianische Schreibtische, Sessel im Edwardian style, Bauernmöbel, Kristalllüster und militärische Auszeichnungen. Ein Laden hatte sich auf Raritäten aus den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts spezialisiert.

Sarah parkte im Hof des Auktionshauses; die Versteigerung hatte schon begonnen. An der Kasse ließ sie sich ihr Nummernschild geben; unter dieser Nummer war ein Konto für sie eingerichtet worden. Sie wollte zwei Deckenleuchten von 1905 ersteigern, die Lampen in Tropfenform, mit schönem Glasschliff und einer Halterung aus vergoldeter Bronze. Während Sarah weiter hinten Platz nahm und darauf wartete, dass ihre Objekte aufgerufen wurden, versuchte sie das Gefühl zu fassen, das der Vormittag in ihr zurückgelassen hatte. John hatte wenig von sich erzählt, und doch strahlte er das Wesen eines Mannes aus, der sein Leben akzeptierte, auch wenn viele seiner Wünsche nicht in Erfüllung gegangen waren. Sarah versuchte sich den großen, kräftigen Mann in einem Klassenzimmer vorzustellen. Bestimmt wäre er auch ein aufmerksamer Lehrer gewesen, doch für sie passte er besser auf sein Schiff, in die Natur. War diese Sicht ungerecht? Sie wusste wenig über seine Interessen, ob er gern las, welche Musik er hörte, wofür er schwärmte. Sie kannte bloß den hellen, wortkargen Mann, der sie mit seiner Freundlichkeit beschenkte und der seine Familie trotzdem nicht vergaß, auch wenn er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte.

»Zweihundertzwanzig zum Ersten«, hörte Sarah.

Auf dem Tisch neben dem Auktionator waren ihre Lampen ausgestellt. Sie kannte den Mann mit den grauen Schläfen gut, viele Male hatte er ihr schon den Zuschlag gegeben. Darum hielt er den Hammer jetzt erhoben und sah in Sarahs Richtung.

»Zweihundertzwanzig zum Zweiten …«

Sie war im Begriff, ihre Tafel zu heben – es lag nicht am Preis, dass sie es dann nicht tat. An diesem Tag kam es ihr plötzlich lächerlich vor, antike Lampen zu kaufen. Daher winkte Sarah ab.

»Und zum Dritten.« Der Hammer fuhr nieder.

Sie und John hatten ihr nächstes Treffen offen gelassen, da nicht klar war, wie lange John in der Werft bleiben musste. Sie wollte eben auf ihrem Handy nachsehen, ob er sie bereits erwartete, als sie eine Berührung an der Schulter spürte. Hatte ein Bekannter aus Lostwithiel sie erkannt? Sarah drehte sich um.

»Na, hast du schon viel Geld ausgegeben?« John trug seine Regenjacke und eine Schirmmütze.

»Wie kommst du hierher?«, flüsterte sie.

»Der Bahnhof von Lostwithiel ist nur einen Steinwurf entfernt. Mein Boot wird erst abends geslippt, auf der Werft war für mich nichts mehr zu tun.«

»Hey, wie schön …« Unter der Bank ergriff sie seine Hand.

Der Auktionator bereitete das nächste Objekt vor. »Artikelnummer eins, vier, sieben, ein Paar Nussholzstühle, Mitte des 18. Jahrhunderts, mit Seidenbespannung.«

»Lass uns abhauen«, raunte Sarah. Ohne seine Hand loszulassen, stand sie auf. Einige Köpfe fuhren herum. Sarah lief zum Ausgang, John in ihrem Schlepptau. Auf der Treppe konnte sie nicht länger an sich halten und küsste ihn.

»Ist das klug?« Er streichelte ihr Haar.

»Bestimmt nicht.« Sie küsste ihn noch einmal.

Sie sahen sich an.

»Hunger?«, fragte er.

»Ja. Auf dich.«

Das sanfte Nieseln war einem kräftigen Aprilregen gewichen. John holte Sarah unter seine Jacke, und sie rannten zum Wagen.

»Wohin?«

»Kein Bed and Breakfast«, keuchte sie auf den letzten Metern. »Wir brauchen etwas Anonymes.«

»Hier gibt es einen großen Golfclub.« Sie stiegen ein.

»Stimmt. Mit einem superschicken Hotel.«

»Hört sich teuer an.«

Sie lachte. »Heute soll es teuer sein!« Hinter der beschlagenen Scheibe küssten sie einander wieder, Wasserschlieren rannen die Fenster herunter. Sarah schob John von sich. »Los jetzt. Sonst werde ich verrückt.«

Sie gab Gas und fuhr mit überhöhtem Tempo aus der verschlafenen Stadt, während er die Adresse des Golfclubs ins GPS eingab.

Über sanfte Hügel näherten sie sich dem Gelände. Der 18-Loch-Platz war verlassen, schlaff hingen die Fähnchen im Regen.

»Lass mich das machen«, sagte sie beim Parken.

John verstand und blieb im Auto. Minuten später war sie wieder da, einen Schlüssel in der Hand, mit dessen gusseisernem Anhänger man jemanden hätte erschlagen können.

Die Zimmer lagen in mehreren renovierten Scheunen, die den Innenhof begrenzten. Im strömenden Regen traten sie ein. Alte Deckenbalken, eine Natursteinwand, das geschwungene Metallbett hatte Super-Kingsize-Format. Kiefernmöbel unterstrichen die ländliche Note.

»John«, sagte Sarah, dann nichts mehr.

War der Sex auf seinem Boot noch von den beengten Verhältnissen in der Kajüte bestimmt gewesen, boten ihnen das Bett, das Zimmer und das Bad nun die Möglichkeit, ein Fest der Lust zu feiern. Kaum seiner Sachen entledigt, zog John sie unter die Dusche. Unter dem heißen Wasserstrahl begannen sie sich zu lieben. Sarah streichelte und liebkoste ihn, er ging auf die Knie, küsste ihre Schenkel, ihre Scham, bis sie ihn hochzog und dazu brachte, stehend in sie einzudringen. Sie klammerte sich fest, wo es ging, das Wasser nahm ihr zwischendurch den Atem. Sie hörte Johns tiefes Stöhnen, er küsste ihre Brüste. Ohne sich abzutrocknen, taumelten sie anschließend ins Zimmer zurück, warfen sich aufs Bett und genossen den Rausch noch inniger und verrückter als beim ersten Mal. Die Leidenschaft, die ihr im Laufe der Zeit mit Russell verloren gegangen war, lebte nun in Sarah wieder auf. John genoss ihr Spiel und ließ sich von ihr verwöhnen, bevor er sie mit seiner Wildheit wieder zur Raserei brachte. Nicht ihr Höhepunkt beendete den Rausch, sondern pure Erschöpfung.

»Ich kann nicht mehr«, keuchte Sarah.

»Ich auch nicht.« Über ihr sank er zusammen. Sie streichelte seinen Nacken.

»Mein Herz zerspringt.« Sie rang nach Luft und lachte. »Ich glaube, ich sterbe gleich.«

»Daran stirbt man nicht.« Er rollte zur Seite und zog sie in seine Arme.

»Wir haben das ganze Bett nass gemacht.«

Er schlug die Decke zurück, ging zum Schrank und holte Ersatzdecken. Sie kuschelten sich aneinander, flüsterten und murmelten miteinander, bis sie einschliefen. Als sie erwachten, dämmerte bereits der Abend. John öffnete den Nachttisch.

»Was suchst du?«

»Die Minibar. Ich komme um vor Hunger.«

»Gehen wir essen.«

»Ja, aber bis dahin …« Er fand Erdnüsse und eine Tafel Schokolade.

»Ich ziehe mich schnell an.« Sarah sprang aus dem Bett. Selten hatte sie sich so frisch, so voller Kraft gefühlt.

Das Restaurant war weitläufig und schlecht besucht. Normalerweise hätte der leere Saal Sarah die Laune verdorben, heute war es ihr egal.

»Hättest du lieber auf dem Zimmer gegessen?«

»Lass uns hierbleiben.« Er zeigte auf eine Nische.

Die Kellnerin zündete Kerzen an. Das Drei-Gänge-Menü war vielversprechend; sie nahmen überbackenen Brie mit Rosmarin, eine Fischplatte aus Rotbarsch, Seelachs und Kabeljau und die unvermeidliche Cornish clotted cream zum Nachtisch. Sie saßen sich gegenüber, manchmal hielt er ihre Hand, sie redeten unverfängliche Dinge. John erkundigte sich nach den Ausgrabungen, bei denen Sarah mitgewirkt hatte, und es stellte sich heraus, dass er die keltischen Fundstätten seiner näheren Heimat gut kannte.

»Glaubst du, dass Mên-an-Tol bloß ein religiöser Kultort war oder dass die Menschen damit auch den Jahreszeitenwechsel berechnen konnten?«

»Mên-an-Tol ist etwa viertausend Jahre alt. Es ist erwiesen, dass die Megalithen nicht immer wie heute in einer Reihe gestanden haben, sondern einen Winkel bildeten. Man geht davon aus, dass einige Steine während der Jahrhunderte abtransportiert und woanders aufgestellt worden sind.«

»Wusstest du, dass die Leute daran glauben, dass ihre Rückenschmerzen geheilt werden, wenn sie durch das Loch im Ringstein kriechen?«

Sarah legte das Besteck weg. »Ich habe gelesen, dass die Steine bis heute zur Abwehr von Verwünschungen genutzt werden.«

John aß mit Appetit. »Hast du auch von der schönen Lyliath gehört, die ihrem Mann kein Kind schenken konnte und darum siebenmal rückwärts durch das Loch gekrochen ist? Bald darauf wurde sie schwanger.«

Sarah sah ihn an. Ihren Kinderwunsch und die Tatsache, dass sie anscheinend nicht mehr schwanger werden konnte, hatte sie bis jetzt nicht zur Sprache gebracht. War es Zufall, oder spürte John, dass dies ein wunder Punkt in ihrem Leben war?

Der Hauptgang kam, sie leerten eine Flasche Wein, und nach und nach gab Sarah sich der Illusion hin, dass sie wie ein gewöhnliches verliebtes Paar beisammensaßen. Die Außenwelt wurde schemenhaft, das wirkliche Leben verschwand, und in ihr wurde die Vorstellung wach, wie es wäre, mit John eine ganz normale Beziehung zu führen. Die Illusion dauerte genau so lange, bis die Kellnerin die Rechnung vor John hinlegte.

»Ich hoffe, es hat geschmeckt, Mister Henley.«

Er grinste Sarah an, doch der Traum war zerstoben.

»Könnten Sie es bitte aufs Zimmer schreiben?«, sagte sie.

»Selbstverständlich.«

»Und jetzt, Mrs. Henley?«, fragte er. »Was wollen Sie mit Mr. Henley unternehmen?«

Genervt schüttelte sie den Kopf. »Ich möchte mich irgendwo mit dir einsperren und alles um uns herum vergessen.«

»Wozu die Traurigkeit? Es ist geliehene Zeit, das wussten wir. Wir wollen sie nicht vergeuden.«

Arm in Arm gingen sie draußen zum Rand des Golfcourses. John zog Sarah weiter, bis das Hotel nur noch eine Ansammlung von Lichtpunkten war.

»Was würde passieren, wenn Maureen von uns erfährt?«, fragte sie unvermittelt.

»Hör auf damit.«

»Nein, im Ernst. Was würde passieren?«

»Ich weiß es nicht.«

»Keine Ausflüchte.«

»Maureen würde die Kinder nehmen und zu ihren Eltern ziehen.«

»Kein Pardon für dich, keine zweite Chance?«

»Warum interessiert dich das?«

»Weil es um dich geht. Du interessierst mich.« Da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Seit Russells Affäre hat sich für mich etwas verändert. Ich kann mich nach wie vor auf ihn verlassen, aber in dem einen Punkt bin ich misstrauisch geworden.«

»Maureen ist da anders als du«, antwortete er zögernd.

»Was meinst du damit?«

»Ich will nichts Schlechtes über meine Frau sagen. Wir passen gut zusammen, wir haben schöne Jahre miteinander verbracht, aber seit dem Tod unseres ersten Kindes …« Er ging ein paar Schritte. »Reden wir von etwas anderem.«

»Nein, John. Wir können das Thema nicht ewig vor uns herschieben. In ein paar Stunden wird es hell, und ich fahre zu meinem Mann zurück. Ich werde mit ihm sprechen. Er hat ein Recht, zu erfahren, was ich getan habe. Ich brauche geordnete Verhältnisse.« Auf seinen amüsierten Blick hin sagte sie: »Ich bin Preußin, John, Ordnung liegt mir im Blut.«

»Du willst Russell alles erzählen, jedes Detail?«

»Deinen Namen halte ich heraus.«

Allmählich begann er zu begreifen. »Wenn du mit Russell sprichst, bedeutet das – nach heute Nacht ist es vorbei?«

»Denkst du nicht, dass es das Beste wäre?«

»Es wäre das Richtige.« Mit seinen klugen Augen sah er sie an. »Aber das Beste?«

»Ich kann das nicht, John. Ein Gespinst aus Lügen, die immer neue Lügen nach sich ziehen, das bin ich nicht.«

»Ich weiß.« Er nahm sie in die Arme. »Ich weiß das, leider.«

»Könntest du es?«

»Du stellst mir die Gewissensfrage, nicht wahr?« Er drückte sie zärtlich. »Ich fürchte, ich könnte es. Weil ich dich liebe.«

Seine Ehrlichkeit rührte sie. »Ich weiß nicht, ob man das nach so kurzer Zeit schon Liebe nennen kann.« Sie löste sich. »Es ist vor allem Leidenschaft, oder? Wir wollen miteinander schlafen. Das nennt man mangelnde Zurechnungsfähigkeit.«

»Ich finde es toll«, sagte er jungenhaft.

»Reicht es, um deine Kinder im Stich zu lassen?«

»Natürlich nicht«, antwortete er, eingeschüchtert durch ihre Nüchternheit.

»Auch wenn zwischen Russell und mir einiges nicht stimmt, ist er immer noch mein Mann. Trelawn ist mein Zuhause.«

»Du willst es also beenden?«

»Das müssen wir, bevor wir zu viel kaputt machen.«

Sie gingen zurück, und Sarah schloss schweigend die Zimmertür auf. Ohne viele Worte machten sie sich zum Schlafengehen fertig. Sie lagen nebeneinander, jeder unglücklich mit seinen Gedanken; schließlich nahm Sarah John in den Arm, und sie sagten einander Gute Nacht. Doch als sie irgendwann in völliger Dunkelheit erwachten, war es mit aller Vernunft vorbei, und sie liebten einander voll Verzweiflung. Danach konnten sie lange nicht einschlafen. Als ihr Handy Sarah weckte, glaubte sie, gerade erst die Augen zugemacht zu haben.