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19 Sie bestellten Tigergarnelen in Blätterteig. Sarah griff hungrig zu. Silberschneider hatte an der Bar zwei Gläser Rotwein geholt und brachte sie zu ihrem Tisch.

»Du hast deinen Appetit nicht verloren.«

»Die Folgen sind unübersehbar.« Sie fasste sich an die Hüfte.

»Ich bin alt genug, um darauf zu antworten: Ein paar Pfunde mehr stehen dir gut zu Gesicht.«

»Danke.«

Sie saßen im Freien, es war ein lauer Frühlingsabend. Sie redeten von früher und schwelgten in der Erinnerung, als sie ein unversehrtes Keltengrab aus vorchristlicher Zeit entdeckt und sich monatelang mit dem Fund beschäftigt hatten.

»Mir fehlt die Arbeit, selbst in meinem Alter«, sagte Silberschneider. »Ich könnte mich mit Schriftübersetzungen beschäftigen oder ein Buch schreiben. Aber es ist nicht das Gleiche, wie wenn man sozusagen am Tatort arbeitet.« Er nahm einen Schluck. »Vermisst du die Arbeit nicht?«

»Doch. In letzter Zeit denke ich häufig daran, wie es wäre, noch einmal von vorn zu beginnen.«

»Du könntest immer noch Karriere machen.«

»Es hat sich eben anders ergeben.«

Er zwirbelte sein Glas am Stiel. »Betten machen, den Müll rausbringen, mit langweiligen Touristen Tee trinken – verlangt dein Geist denn nicht nach mehr?«

»Mach dir um meinen Geist mal keine Sorgen. Es ist eher mein Herz, das in Schwierigkeiten ist.«

Er lehnte sich zurück. »Ich bin ganz Ohr.«

»Alles begann damit, dass Russell ein Kind angefahren hat.« Sie erzählte von Billy, von ihrer Begegnung mit John auf dem Friedhof, von dessen Liebeserklärung und der verrückten Nacht auf dem Boot. Sie erzählte von Russells Wiedersehen mit seiner alten Flamme und ihrem schlechten Gewissen, einen Tag und eine Nacht mit John Cormac verbracht zu haben, ohne Russell die Wahrheit zu gestehen.

»Ich kann mir vorstellen, was du sagen wirst«, versuchte sie seiner Antwort zuvorzukommen.

»Ach ja?«, antwortete Silberschneider trocken. »Da bin ich mir nicht so sicher. Mit zweiundvierzig Jahren hast du dich zu deinem ersten Seitensprung hinreißen lassen. Ich finde das nicht besonders außergewöhnlich. Besonders, da du ausgerechnet mit Vercingetorix ein Verhältnis hast.«

»Vercinge… Was?«, fragte sie überrascht.

»Du warst seit jeher ein Kelten-Fan. Wenn du dir einen Liebhaber nimmst, dann einen blonden Hünen mit breiten Schultern, einen Nachkommen des größten Feldherrn der Kelten, Vercingetorix.«

»Du spinnst ja.« Sie knuffte ihn. »Der Mann ist Lehrer.«

»Ich dachte, er fährt ein Boot.«

»Notgedrungen. Weil er seinen Job verloren hat.«

»Weshalb?«

»Was?«

»Wieso hat er seinen Lehrerposten verloren – hast du ihn das gefragt?«

»Lehrerschwemme, Stellenabbau, irgend so etwas.«

»Du weißt es aber nicht genau.«

»Ist das wichtig?«

»Vor mir tut sich lediglich das Bild dieses Mannes auf, so wie du ihn schilderst.«

»Wie habe ich ihn denn geschildert?«

»Reichlich romantisch natürlich, aber die Fakten sind klar.«

»Die würde ich gern hören.« Sie tunkte die letzte Garnele in die Soße.

»John ist ein echter keltischer Cornishman. Das macht ihn dir per se sympathisch. Er wurde Lehrer; sein Wunsch war es, Kinder zu erziehen und Verantwortung für sie zu übernehmen. In diesem Beruf ist er gescheitert.« Er kam ihrem Einwand zuvor. »Was immer die Gründe dafür sind, er hat die Verantwortung, Lehrer zu sein, abgegeben. Als ihr einander begegnet seid, hat er seine Verantwortung abermals vernachlässigt, und zwar auf die tragischste Art: Es hätte sein Kind beinahe das Leben gekostet.« Als der Kellner vorbeikam, tippte Silberschneider an sein leeres Glas.

»Er hat sich selbst die schlimmsten Vorwürfe gemacht und die Schuld sofort auf sich genommen.«

»Ist das ein Beweis für seine Verlässlichkeit? Ich glaube, es ist eher ein Hinweis auf seine Schwäche.«

»Nu mach aber ’nen Punkt!«, erwiderte sie in tiefstem Berlinerisch. »Wenn jemand zugibt, dass er schuld ist, bezeugt das ja wohl seine Charakterstärke.«

»Ist es ein Zeichen von Stärke, zu einer verheirateten Frau nach Hause zu gehen und ihr vor den Latz zu knallen, dass man in sie verliebt ist? Würde es nicht mehr Charakter zeigen, die Sache mit sich selbst abzumachen und dich nicht damit zu belästigen?«

»Er hat mir sein Gefühl gestanden, um – um die Sache aus der Welt zu schaffen.«

»Das ist der gerissenste Trick, von dem ich je gehört habe!« Silberschneider lachte. »Das hat schon Don-Giovanni-Qualitäten. Du sagst einer Frau, ich liebe dich, aber zwischen uns darf leider nichts sein, wir sind beide verheiratet. Damit machst du jede Frau erst recht heiß.«

»Du unterschätzt mich, wenn du glaubst, dass ich mit so etwas zu kapern bin.«

»Ich habe dich noch nie unterschätzt. Aber du musst zugeben, sein Trick hat funktioniert: Noch in derselben Nacht bist du tränenblind an die See gerast und hast dich, geschaukelt von den Wogen des Meeres, mit Vercingetorix gepaart.«

»Wir haben uns ineinander verliebt. Das kommt vor!«

Silberschneider legte beruhigend seine Hand auf ihre. »Die Sichtweise liegt immer im Auge des Betrachters. Ich sehe Mister Cormac so, wie du ihn mir beschreibst. Wenn du nichts mehr hören willst, reden wir von etwas anderem.«

»Nein, ich bin dir dankbar, dass du mir so geduldig zuhörst und mich nicht mit irgendwelchen Floskeln abspeist.«

Silberschneider bekam sein zweites Glas Rotwein. »Mir fällt da noch eine Parallele auf.«

»Welche?«

»Du warst schon einmal in einer ähnlichen Situation. Wenn mich mein alter Kopf nicht täuscht, war deine unglückliche Liebe in Garmisch dieser hier nicht unähnlich.«

»Heinz?« Nie im Leben wäre Sarah darauf gekommen.

»Richtig, der Naturbursche, der dir die Schönheiten der Berge zeigte. Heinz, der keinerlei Verantwortung übernehmen wollte, selbst als du schwanger warst.«

»Die beiden kann man unmöglich vergleichen.«

»Ich finde schon.« Er trank, seine Wangen hatten Glanz bekommen. »Vielleicht ziehen dich die männlichen Abenteurer, die Freibeuter, mehr an als die sogenannten anständigen Männer.«

»Anständige Männer? Russell hat mich nach Strich und Faden betrogen.«

»Gibt dir das die Legitimation, die Liebe des Vercingetorix zu erwidern?«

»John ist ein Familienmensch. Er hat eine Frau und zwei Kinder. Deshalb ist die Sache ja so aussichtslos. Heinz dagegen war der geborene Single.« Er wollte widersprechen. »Hör auf, Erich. Du bist betrunken.«

»Stimmt, ich vertrage nichts mehr. Morgen werde ich bestimmt einen schlimmen Tag haben. Aber der Gedankenaustausch mit dir ist erfrischend.«

»Bleibt die entscheidende Frage: Was mache ich jetzt? Wie geht es weiter?«

»Wenn du einen Wunsch frei hättest: Wie sollte es denn weitergehen?«

»Frag mich lieber nicht.« Sie winkte nach der Rechnung.

Er hielt ihre Hand mit dem Portemonnaie fest. »Das erledige ich. Wenn du mir die Wahrheit sagst.«

»Ich fürchte, ich habe mich ernsthaft verliebt. Dieser Mann …« Sie seufzte. »Er macht mich einfach glücklich. Ich muss es rasch beenden, bevor ich mich immer tiefer in meine Gefühle verstricke.«

»Falsche Antwort.« Er legte Geld auf den Tisch. »Es geht nicht darum, was du dir verbietest, sondern was du vom Leben forderst.«

Neugierig sah sie ihn an.

»Du bist von Natur aus Forscherin, Sarah. Das wusste ich, als ich deine allererste Abhandlung gelesen habe.«

»Die Verfälschung des Bildes der Kelten.« Sie lächelte.

»Eine Forscherin hört nicht auf, sie selbst zu sein, nur weil sie heiratet und ein Luxusleben führt. Was du durchlebst, hat weniger mit deiner Ehesituation zu tun, als mit dir selbst. Dein Instinkt sagt dir, dass du nicht bis an dein Lebensende das Dasein einer Zimmerwirtin führen willst.«

»Zimmerwirtin …« Seine unverblümte Art brachte sie zum Lachen. »Das ist eine Frechheit.«

»Aber die Wahrheit. Ob mit Russell oder mit John oder ohne die beiden – du solltest etwas Ernsthaftes beginnen, Sarah, etwas Sinnvolles. Ich habe sogar eine Idee, was das sein könnte.«

»Und zwar?«

»Nicht so hastig, junge Frau.« Silberschneider streckte sich. »Ich werde nächsten Monat dreiundachtzig.«

»Entschuldige, Erich, du musst hundemüde sein. Soll ich dich ins Hotel bringen?«

Dynamisch stand er auf. »Ich gehe selbstverständlich zu meinen Gastgebern zurück. Inzwischen bin ich besoffen genug, ihr Geschwätz zu ertragen.«

Auf den Stufen des Lokals umarmten sie einander. »Und morgen schaue ich mir dein Schloss an.«

Sie trennten sich. Voll neuer Hoffnung lief Sarah zu ihrem Wagen.