20
20 In dieser Nacht rief John an. Fast zwei Wochen waren seit ihrer letzten Begegnung verstrichen. Mehrmals hatte Sarah das Telefon in der Hand gehabt und es immer wieder weggelegt. Russell hielt sich die meiste Zeit in London auf. Sie fand diese erzwungene Einsamkeit unnatürlich.
Sarah nahm Johns Anruf im Bett entgegen. »Wo bist du?«
»Im Garten.« Er sprach gedämpft.
»Und Maureen?«
»Ist bei Chloé.«
»Schläft sie noch nicht?«
»Sie hat Zahnschmerzen und weint.«
»Du nutzt die Zahnschmerzen deiner Tochter aus, um mit deinem Liebchen zu telefonieren?« Es war als Scherz gemeint, doch John blieb ernst.
»Du fehlst mir so.«
»Nicht, John. Fang nicht wieder damit an.«
»Wovon sollen wir sonst reden? Vom Frühling?«
»Auch nicht besser. In Trelawn sprießt und knospt alles in den tollsten Farben.«
»Ich muss dich einfach sehen.«
»Wir wissen, wohin das führt.«
»Ist Russell daheim?«
»Wieso, willst du vorbeikommen?«, fragte sie ungläubig.
»Warum nicht?«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was würdest du Maureen erzählen, wo du hinfährst?«
»Ich weiß nicht. Ach, verdammt!«
»Russell ist in London.«
»Können wir nicht wenigstens – morgen spazieren gehen?«
»Ich bekomme Besuch.«
»Von wem?«
»Mein alter Lehrer. Er hält dich übrigens für Vercingetorix.«
»Du hast ihm von mir erzählt? Weshalb?«
»Das verrate ich dir ein andermal.« Zögernd fragte sie: »Wieso hast du damals deinen Job als Lehrer verloren?«
Stille am anderen Ende. »Warum willst du das wissen?«
»Einfach so.«
»Ich erzähle es dir, aber nicht am Telefon.«
»Du willst mich bloß zu dem Spaziergang rumkriegen.«
»Wann kommt dein Professor?«
»Morgen um die Mittagszeit.«
»Wie wäre es um fünf? In den Hügeln von Black Rock.«
»Warum dort?«
»Ich muss endlich da hinfahren, wo es passiert ist. Ich muss mir die Stelle ansehen, wo Billy …«
Sie verstand genau, was er meinte. »Okay. Ich komme. Um fünf.«
Sie legten auf. Im Wissen, dass sie nur schwer einschlafen würde, löschte Sarah das Licht.
Am nächsten Morgen bereitete sie Trelawn Manor so liebevoll vor, als ob ein Staatsbesuch bevorstünde. Elaine wurde in die Aktion eingespannt. Sie wischten die Böden in der großen Halle und schrubbten die steinernen Löwen auf der Terrasse, die etwas Moos angesetzt hatten. Sarah legte frische Tischdecken auf, erneuerte sämtliche Kerzen in den Kandelabern und arrangierte Blumensträuße in den Vasen.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jetzt kann er kommen. Und ich muss vorher noch einmal duschen.«
Ein Taxi brachte Silberschneider aus Truro; in einem leichten Sommeranzug stieg er aus, einen Strohhut auf dem Kopf.
»Du passt besser nach Trelawn als die meisten unserer Gäste«, begrüßte ihn Sarah.
»Willst du andeuten, dass ich genauso alt bin wie dieses Gemäuer?« Er betrachtete das Haus eine Weile, wandte sich zu den Klippen, wo die Mittagsflut anbrandete, schaute zum Rosengarten und zum alten Gewächshaus. Sein Blick schweifte weiter und weiter.
»Jetzt wird mir einiges klar. Ich kann verstehen, dass du dir dieses Paradies erschaffen wolltest. Es ist unbeschreiblich schön.«
Sein Lob bedeutete Sarah viel. »Darf ich dich der wichtigsten Frau in Trelawn vorstellen?«, sagte sie.
Elaine kam näher, die Begrüßung war herzlich.
Als ob sie ein Fremdenführer wäre, veranstaltete Sarah eine Hausführung für ihren Professor.
»In diesem Saal fand 1858 die Streitrede über die Küstengewässer Cornwalls statt. Hier fiel der berühmte Satz von Sir Harrison, dass Cornwall ein Pfalzstaat sei und daher exterritorial gegenüber der englischen Krone.«
»Es hat den Kornen nicht viel genützt.« Erich schlenderte neben ihr durch die Halle. »England behandelt Cornwall seit eh und je als County des Vereinigten Königreichs. Wo hast du diesen Lüster her?«
»Der hing verstaubt mit anderen auf unserem Lüsterboden. Ich brauchte ihn nur wieder aufzuhängen. Wo immer es möglich war, habe ich die alten Bestände renoviert.«
»Was für eine Arbeit«, sagte er bewundernd. »Ist es nicht kostspielig, so ein großes Gebäude zu erhalten?«
»Lass mich nicht von unseren Heizkosten reden.«
Sie erreichten den mannshohen Kamin.
»Trotz des mächtigen Feuers, das hier gebrannt hat, müssen die Leute schlimm gefroren haben.« Er warf einen Blick in den Schornstein.
Sarah zeigte zum Wintergarten, wo sie zum Lunch gedeckt hatte. »Willst du erst etwas essen, oder verrätst du mir endlich, was du gestern in Bezug auf meine Arbeit angedeutet hast?«
»Du gibst dir solche Mühe«, sagte er voll Wärme.
Elaine hatte angeboten, als Kellnerin zu fungieren, damit Sarah nicht ständig hin und her springen musste. Sie servierte den Flammkuchen, den Sarah morgens vorbereitet hatte.
»Flammkuchen mit Speck und Zwiebeln.« Sarah tat Silberschneider auf.
»Vielen Dank.« Er wandte sich an Elaine. »Warum setzen Sie sich nicht zu uns?«
»Ich will Ihre Wiedersehensfeier nicht stören.«
»Ach was. Das ist eine gute Idee.« Sarah lief zur Anrichte und holte ein drittes Gedeck.
»Wo sind eigentlich deine Gäste?« Erich zeigte in den Park, keine Menschenseele war zu sehen.
»Die erforschen gerade jeden Winkel unserer schönen Halbinsel. Nachmittags trudeln sie dann wieder ein.«
Sie aßen zu dritt, Elaine lobte Sarahs Kochkünste. Der Professor ließ sich beim Wein nicht lange bitten, die Stimmung wurde ausgelassen, und als die Sonne hervorbrach und durch das Glasdach schien, hob Silberschneider sein Glas.
»Auf den schönsten Flecken im Königreich!«
Die Frauen stießen mit ihm an.
Erich setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf. »Was sagt dir der Schatz von Bossiney?«
»Ich hab schon etwas darüber gelesen, aber im Augenblick …«
Elaine fand es an der Zeit, abzuräumen, und verabschiedete sich anschließend. Im sonnendurchfluteten Wintergarten blieben die beiden allein.
»Alles steht erst am Anfang«, sagte Erich. »An der Nordküste Cornwalls, nicht weit von Tintagel, gibt es eine Gruppe von Hobby-Archäologen, die bei Bossiney eine keltische Fundstätte vermuten, und zwar eine komplette Keltensiedlung.«
Sarah trank Wasser; das bisschen Wein war ihr zu Kopf gestiegen. »Wieso schaltet sich bei so etwas die Archäologische Gesellschaft nicht ein?«
»Es gibt da ein Problem. Die Fundstätte liegt unter den Fundamenten einer Farm, das Grundstück ist in Privatbesitz. Der Farmer weigert sich, eine Grabungsgenehmigung zu erteilen, und die Regionalverwaltung zaudert, sich einzumischen, bevor nicht sicher ist, dass da unten tatsächlich etwas schlummert.«
»Man könnte eine Flugprospektion machen oder ein Airborne Laserscanning.«
»Für beide Methoden brauchst du offenes Gelände. Das liegt aber nicht vor, das Gehöft steht genau über dem Fundort. Die einzige Möglichkeit, sicherzugehen, wäre die traditionelle, unter dem Bauernhof zu buddeln.«
»Und das untersagt der Bauer.«
Er legte die Hände ineinander. »Wäre das nicht die richtige Aufgabe für meine Lieblingsschülerin?«
»Was sollte ich da ausrichten, wenn die Leute vor Ort bereits an der Grabungsgenehmigung gescheitert sind?«
»Das sind begeisterte Dilettanten, die dem Bauern mit ihren Eingaben ziemlich auf die Nerven fallen. Zuletzt wurde eine Spendenaktion ins Leben gerufen, um den sturen Farmer mit Geld von seinem Nein abzubringen.«
»Lass mich raten: Die Spenden gehen nur spärlich ein?«
Er nickte. »Die Menschen sind offenbar wenig daran interessiert, eine weitere keltische Fundstätte in Cornwall freizulegen.«
»Deshalb ist der Wiedereinstieg für mich auch so schwer«, antwortete Sarah. »Das meiste ist bereits erforscht und katalogisiert.«
»In Bossiney läge die ganze Arbeit noch vor dir.«
»Warum sollten sie dort eine deutsche Archäologin beschäftigen?«
»Wart’s nur ab.« Er lachte. »Ich sehe dich schon in schweren Schuhen und Latzhose in einen Schacht klettern und mit der Vermessung beginnen.«
Sie beendeten den Lunch. Sarah war enttäuscht. Sie hatte auf einen konkreten Vorschlag Erichs gehofft, ein Projekt, bei dem sein Einfluss ihr den Einstieg vielleicht erleichtern würde. Die Sache in Bossiney hörte sich nach einem Hirngespinst an.
Den Nachmittag verbrachten sie im Freien, Sarah staunte über Erichs botanische Kenntnisse. Er erkannte die seltene Orangenraute und bezeichnete die Palmenarten entlang des Klippenpfades mit ihren lateinischen Namen. Unter der blühenden Bougainvilleahecke nahmen sie schließlich Platz. Sosehr Sarah die Stunden genoss, ihre Gedanken schweiften immer wieder zu dem bevorstehenden Treffen mit John. Sie redete sich nicht ein, ihre Begegnung diene irgendeiner Klärung, sie sehnte sich einfach nach ihm. Während Erich erzählte, sah sie sich bereits an den Stränden von Black Rock entlanglaufen, wo John sie erwarten würde.
Es ging auf vier Uhr, Silberschneider wirkte mit einem Mal müde. Bis zu diesem Moment hatte man ihm sein Alter nicht angemerkt, nun fielen ihm fast die Augen zu.
»Soll ich dir dein Zimmer zeigen?«, fragte sie.
»Ich übernachte nicht hier.«
»Wieso? Ich habe geglaubt …«
»Ich falle anderen Leuten ungern zur Last.«
»Anderen Leuten? Wir sind Freunde. Und wenn du dich schon mal in die Gegend verirrst …«
Er stützte sich beim Aufstehen an der Lehne ab. »Mein Hotel ist gemütlich. Morgen holt mich ein Wagen dort ab, der mich zum Flugplatz bringt.«
Es hatte keinen Sinn, weiter in ihn zu dringen. Sarah sagte, wie leid es ihr tue. Auf dem Rückweg war Erich so schwach auf den Beinen, dass er ihren Arm brauchte, um den leicht ansteigenden Weg zu bewältigen. Sie verabschiedeten sich in aller Herzlichkeit und in dem Wissen, dass es ein Abschied für immer sein könnte.
»Such im Internet nach dem Schatz von Bossiney. Dann bekommst du alle nötigen Informationen«, sagte er, als das Taxi hielt.
Sarah folgte dem abfahrenden Wagen bis zum Tor und winkte Erich nach.
Sie war müde und zugleich erregt. Sie machte sich frisch und suchte ein Top heraus, das ihre Figur betonte. Beim Einsteigen fiel ihr der Autoschlüssel zu Boden.
»Ganz ruhig, altes Mädchen. Bleib vernünftig, dann kann dir nichts passieren.« Ohne an ihre Beschwichtigung zu glauben, fuhr sie los.
Sie parkte nahe der Stelle, wo Russell den Wagen nach dem Unfall zum Stehen gebracht hatte. Es war nicht leicht, den Pfad zu finden, wo man zwischen Weidegras und Felsen, entlang des scharfen Abbruchs, in die Tiefe klettern konnte. Schilder warnten davor, den Klippen zu nahe zu kommen; ein weggesackter Zaunpfahl bewies, dass dies keine übertriebene Vorsicht war; er baumelte hoch über dem Strand. Neben den witterungsbedingten Gefahren gab es unvermutete Einbrüche, wo Stollen alter Zinnminen nachgegeben hatten und eingestürzt waren.
Sie erreichte den Strand. Als sie den einzigen Besucher, der außer ihr hier war, auf sich zukommen sah, war es mit ihren festen Vorsätzen vorbei. John war barfuß, trug weite Hosen und ein blaues Hemd, das Haar flog ihm ins Gesicht. Ohne Eile liefen sie aufeinander zu. Kurz bevor sie sich begegneten, streifte auch Sarah Schuhe und Strümpfe ab.
Sie umarmten sich, doch ihr Kuss war nur kurz. Diese Begegnung würde nicht wie die letzte verlaufen, kein stimmungsvolles Vorspiel auf See, keine romantische Nacht in einer anonymen Herberge. Sie trafen sich, weil sie nicht anders konnten, weil es wehtat, sich länger voneinander fernzuhalten.
Zu Beginn ihres Spaziergangs waren ihnen die Kehlen zugeschnürt, sie redeten nur das Nötigste. Hand in Hand liefen sie im Kies, gerade so weit im Wasser, dass die Brandung ihre Hosenbeine nicht nass machte. Der flache Streifen unter den Felsen wurde so schmal, dass sie über Geröll klettern mussten, um in die nächste Bucht zu gelangen. Das Wasser kroch als weißer Schaum heran, überspülte ihre Füße und zog sich wieder zurück.
John blieb stehen. Quer über den Felsen führte ein Pfad zur Küstenstraße nach oben, er war nur schwer zu erkennen.
»Hier?«, fragte Sarah. Er nickte. »Es sieht viel zu steil aus, als dass ein Junge wie Billy allein hinauflaufen könnte.« Sie beschirmte die Augen. Die Straße war nicht zu erkennen.
»Schwer zu glauben, dass er so schnell oben war, dass ich ihn aus den Augen verloren habe.«
»Bist du zum ersten Mal seit dem Unfall hier?«
»Ja. Und ich werde bald wiederkommen, mit Billy. Wir müssen rauskriegen, was hier eigentlich passiert ist.«
»Ist er wieder zu Hause?«
»Ja, wir sind alle sehr froh darüber.«
»Hat er dir erzählt, weshalb er hochgelaufen ist?«
»Er sagt, er weiß es nicht mehr. Maureen meint, ich soll nicht zu sehr in ihn dringen. Ich glaube aber, man muss den Gespenstern begegnen, um sie zu verscheuchen.«
»Gwydyon?«
John zeigte hinauf. »Siehst du den schmalen Stein, der wie ein Schafskopf aussieht? Bei entsprechendem Licht könnte man glauben, dort stünde eine Person.«
»Als ich im Krankenhaus war, sagte Billy, dass Gwydyon ihn auf den Klippen erwartet hätte.«
John ließ den Kopf sinken. »Billy weiß, dass sein Bruder tot ist. Er weiß, dass Glen nach einer schrecklichen Krankheit starb. Wir haben ihm erzählt, dass wir ihn nicht zum Begräbnis mitgenommen haben, weil er noch zu klein war. Heute ist er ein großer Junge und versteht das meiste. Er erkennt die Wirklichkeit an. Trotzdem schiebt er den Tod seines Bruders von sich und erfindet ein Phantom namens Gwydyon.«
Sie sah ihn an. Eine ungewohnte Mattigkeit überschattete Johns Augen. »Was ist mit dir?«
Mit eingesunkenen Schultern stand der große Mann neben ihr. »Ich bin traurig, das ist alles. Die Dinge sind, wie sie sind, aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich kann mir mein Gefühl nicht herausschneiden. Wenn ich morgens aufstehe, ist es da, und wenn ich nachts neben Maureen liege, ist es stark und erdrückend. Ich will mit dir zusammen sein, mit niemandem sonst. Wenn es zu schlimm wird, analysiere ich unsere Lage so nüchtern wie möglich, und finde doch keinen Ausweg.« Er lachte hart. »Auch ich kann mit meinem Phantom nicht umgehen.«
Sarah rührte seine Ehrlichkeit. »Das hört sich an, als ob du das erste Mal unglücklich verliebt wärest.«
Er nahm ihren Kopf mit beiden Händen. »Es brennt. In mir brennt es wie beim allerersten Mal. Wir lieben uns und dürfen es nicht zulassen. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll.«
Noch nie hatte John, der sonst so wortkarg war, derartig viel über seine Gefühle gesprochen. »Ich bin auch verzweifelt«, gestand Sarah. »Da sitze ich allein in meinem schönen Haus, und niemand ist um mich, außer Elaine. Den Gästen gehe ich aus dem Weg, weil ich keine Lust habe, die muntere Schlossherrin zu spielen. Währenddessen führt Russell in London eine Art Junggesellenleben. Er wohnt im Club, trifft sich mit seinen Kumpels und ruft abends an, ob im Haus alles in Ordnung ist.« Sie lächelte. »Noch nie wäre es so einfach gewesen, ein Verhältnis zu haben. Trotzdem geht es nicht.«
»Es geht nicht.«
Sie küssten sich. Er schaute auf die Uhr.
»Musst du zurück?«
»Abendessen mit der Familie.« Er zuckte die Schultern.
»Ist Maureen eine gute Köchin?«
»Wenn es dich nicht verletzt, muss ich dir sagen, sie ist eine fantastische Köchin.«
»Das verletzt mich nicht – das nicht.«
»Wollen wir zusammen hochgehen?« Er zeigte zum Felsenpfad.
»Geh du schon mal vor, ich muss erst meine Schuhe holen.«
»Natürlich.«
Ein letzter Kuss, mit großen Sprüngen bewältigte er die unteren Felsen und hatte die Straße rasch erreicht. Allein am Strand, hing Sarah ihren Gedanken nach. Nach einer Weile wischte sie die Tränen ab und lief dorthin zurück, wo ihre Schuhe standen.