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21 Im Osten Englands wurde über Wasserrationierung diskutiert; die großen Wasserreservoirs rund um London meldeten den niedrigsten Pegelstand seit Jahren. Sarah rechnete nach, wann es bei ihnen das letzte Mal richtig geregnet hatte – als sie und John in Lostwithiel gewesen waren. Das lag nun über einen Monat zurück. Sie goss die Goldfruchtpalme und das Zyperngras mit dem Gartenschlauch. Sogar Pflanzen, die nicht so viel Feuchtigkeit brauchten, ließen die Köpfe hängen.

»Wir müssen die Bewässerung anwerfen«, sagte sie zu Elaine. »Das machen wir sonst erst im August.«

»Dieses Jahr ist alles anders.«

Sarah versorgte den Bewässerungscomputer mit einer neuen Batterie, prüfte die Schlauchleitungen und ließ es im Garten künstlich regnen. Bald war die Luft erfüllt von feinen Wassertröpfchen, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen, kleine Regenbogen, wohin man schaute.

Sie hatte die Tage genutzt, um sich über archäologische Projekte in der Umgebung zu informieren. Meistens handelte es sich um die Instandhaltung bereits geleisteter Ausgrabungen, die Dokumentation für die Öffentlichkeit, das Erstellen von Informationsmaterial. Ohne konkrete Bewerbung hatte sie sich bei der Archäologischen Gesellschaft nach offenen Stellen erkundigt. Sie waren spärlich, meist Jobs im Archiv, für die man Praktikanten einer erfahrenen Archäologin vorzog. Die Arbeitslosigkeit war in Cornwall ein aktuelles Thema, und auch in ihrem Beruf bekam Sarah das zu spüren. Sie erwog, sich einem Projekt ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen – des Geldes wegen tat sie es ja nicht. Die Resonanz war mäßig.

Nach einer halben Stunde schaltete sich der künstliche Regen ab. Sarah half Elaine, die Schmutzwäsche in den Waschkeller zu tragen, danach setzte sie sich an den Schreibtisch. Nach Silberschneiders Besuch hatte sie im Internet zu dem Verein Der Schatz von Bossiney recherchiert, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Heute rief sie dort an und erreichte eine ältere Frau namens Cindy, die sich über Sarahs Interesse hörbar freute und bereitwillig Auskunft gab.

»Unser Plan ist es, dem Bauern eine Abfindung anzubieten, damit er die Grabungen auf seinem Grundstück endlich erlaubt.«

»Hat er schon eine Forderung genannt?«

Nachdem Sarah die Summe erfahren hatte, wunderte sie sich über den ungebrochenen Enthusiasmus der Vereinsmitglieder.

»Es ist ein Liebhaberprojekt«, sagte Cindy. »Wir, die den Schatz von Bossiney heben wollen, lassen uns durch solche Schwierigkeiten nicht abschrecken.«

»Wie sieht es mit öffentlichen Geldern aus?«

Cindy wiederholte, was Silberschneider bereits berichtet hatte, dass die Archäologische Gesellschaft eine Unterstützung erst in Betracht ziehen wollte, wenn ein Fund von außergewöhnlichem Umfang gewährleistet war.

»Eines verstehe ich nicht«, sagte Sarah. »Wenn die Spurensuche bisher unmöglich war, woher nehmen Sie die Zuversicht, dass in Bossiney wirklich etwas liegt?«

»Von den Zeichnungen in Boterel Quoit. Dort ist die Siedlung vermerkt.«

»Boterel? Sie meinen das Portalgrab aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, die Felsenzeichnungen?«

»Genau.« Lebhaft berichtete Cindy, dass die Zeichnungen eine Siedlung in unmittelbarer Nähe vermerkten. Die Berechnungen mehrerer Fachleute hätten als Standort den Bauernhof ergeben.

»Könnten Sie Hilfe gebrauchen?«, fragte Sarah spontan.

»Wir nehmen jede Hilfe, die wir kriegen können.«

Sie sprachen eine halbe Stunde miteinander. Hinterher war Sarah ernüchtert von den Schwierigkeiten, doch zugleich angespornt. Erich hatte sie richtig eingeschätzt: Ein Berg Arbeit wartete auf denjenigen, der die Schatzsuche in Bossiney in Angriff nehmen würde.

Am Freitagabend kam Russell nach Hause. Seit er in London für seinen Freund einsprang, wirkte er wie ausgewechselt. Er sprühte vor Lebendigkeit, packte gleich nach der Rückkehr im Garten mit an, machte seine Scherze mit Elaine und plauderte mit den Gästen. Abends beim Dinner hatte er einen Riesenappetit und bediente sich dreimal bei den Kartoffeln.

»Früher wurde ich angemeckert, wenn es deutsche Hausmannskost gab.« Sarah aß nur wenig.

»Weil ich kein fetter Hahn werden wollte.« Er grinste. »Aber bei dem, was ich zurzeit um die Ohren habe, brauche ich ein paar Reserven. Es schmeckt super.«

»Berliner Rezept.«

Alles schien wie früher zu sein, bevor sie nach Trelawn gezogen waren. Russell erzählte von der Firma, vom Aktienmarkt, von Aussichten und Risiken.

»Wie geht es Sam?«, fragte sie, da er selbst nicht davon anfing.

»Die Ärzte mixen ihm gerade seinen Chemo-Cocktail. Er nimmt es erstaunlich gelassen. Wenn die Therapie nicht anschlägt, müssen sie allerdings operieren.«

Sarah räumte ab, Russell entschied sich zum Nachtisch für Käse statt etwas Süßem. Während er aß, legte er eine Zigarre bereit.

»Du rauchst wieder?«

»Nur zu genussreichen Anlässen.« Er knipste die Spitze ab und holte die Streichhölzer vom Kamin.

»Warum verwendest du nicht Miss Moynihans Feuerzeug – für Russell?«

Sie rechnete mit einer genervten Reaktion, doch nichts konnte ihn aus seiner sonnigen Stimmung reißen. Er war wieder der Überflieger, der ihr während ihrer ersten Verliebtheit so imponiert hatte. Wenig später zog er Sarah ohne Umstände ins Schlafzimmer, und sie ließ es geschehen, fest entschlossen, ihrer Ehe noch eine Chance zu geben. Ihre Beziehung zu John hatte keine Zukunft – darin waren sie übereingekommen.

Russell verführte sie mit einer Heiterkeit wie zu Zeiten, bevor sie die Kinderproduktion in Angriff genommen hatten. Er war ein guter Liebhaber, sie schlief gern mit ihm. Zugleich nährte es ihre Zweifel, ob sie sich ihre Ehekrise nur einbildete. Schien nicht alles in schönster Ordnung zu sein? Ihr Mann hatte Spaß an seiner Arbeit, war ein aufmerksamer Partner und ein engagierter Liebhaber. Was konnte sich eine Frau noch wünschen? So wunderbar die Liebesnacht mit John gewesen war, rückte sie immer weiter in die Ferne. John und sie waren auf den Pfad der Vernunft zurückgekehrt und lebten ihr altes Leben weiter – und das war richtig.

Nachdem Sarah sich wieder angezogen hatte, brachte sie das Projekt in Bossiney zur Sprache. Russell bestärkte sie darin, die Sache in Angriff zu nehmen. Sollte sich das Ganze als Hirngespinst erweisen, könnte sie immer noch die Finger davon lassen. Bei einem Glas Wein saßen sie auf der Couch. Geduldig, wie es sonst nicht seine Art war, ließ sich Russell vom Stand der Dinge berichten.

»Ich möchte hinfahren und mir ein Bild machen.«

»Es hört sich ziemlich nebulös an, aber wer weiß, vielleicht bist du wirklich diejenige, die diesen Schatz heben wird.«

»Sollte die Sache konkreter werden, läge mein Arbeitsplatz allerdings zwei Stunden von Trelawn entfernt.«

»Das kannst du dir überlegen, wenn es so weit ist. Jetzt fährst du erst einmal hin und kratzt an den Fundamenten dieser Farm.«

Dass Russell nicht den geringsten Einwand hatte, weckte Sarahs Misstrauen. War er etwa froh, wenn sie aus dem Weg war? Sie schämte sich für diesen Zweifel. Russell begriff wohl einfach, dass sie beide mehr Freiraum brauchten, um ihrer Partnerschaft neue Impulse zu geben.

»Okay«, sagte sie. »Dann fahre ich nächste Woche in den Norden.«

»Warum nicht schon Sonntag?«

»Willst du mich loswerden?«

»Unsinn, aber ich haue Sonntagnachmittag selbst wieder ab. Ich dachte nur, am Wochenende haben die Leute dort vielleicht mehr Zeit für dich. Und die Straßen sind nicht so voll.«

Sie trank aus. »Na schön, machen wir es so. Und Elaine kümmert sich so lange um unsere Burg.«

Sarah fand es albern, ihr Handwerkszeug mitzunehmen. Mehr als eine Besichtigung und ein Sondierungsgespräch würde es schließlich nicht geben. Doch nach der langen Pause fühlte sie sich nur als richtige Archäologin, wenn sie entsprechend ausgerüstet war. Sie packte Spachtel, Pinsel und Vermessungsgeräte in ihr Etui und steckte es, zusammen mit ihren Recherchen über das Portalgrab von Boterel Quoit und dem unerlässlichen Handbuch Cornwalls Archäologie in ihre Aktentasche.

Die Route führte über Helston nach Camborne, wo die krummen Straßen endeten und man auf der A30 schnell vorankam. Hinter Wadebridge zweigte die Straße zur Nordwestküste ab. Dort begannen die Hinweistafeln auf Tintagel, die sagenumwobene Burg von König Artus. Obwohl erwiesen war, dass jenes Schloss am Meer nicht Camelot sein konnte, weil es erst fünfhundert Jahre nach Artus’ Tod erbaut worden war, zog Tintagel viele Touristen an. Der Weiler Bossiney lag ein paar Kilometer dahinter, Sarah würde um den Touristenrummel nicht herumkommen. Es wäre schon eine kleine Sensation, dachte sie, wenn man in der Nähe dieses erfundenen Kultortes eine tatsächliche Ausgrabung von Bedeutung machen würde. Sie fuhr ohne Eile, versponnen in ihre Gedanken. Von außen betrachtet waren ihre Lebensumstände absolut erfreulich. Sie konnte arbeiten, war aber nicht dazu gezwungen. Ihr Mann stand ihren Plänen verständnisvoll gegenüber. Die kurze Liaison mit John war auf Eis gelegt. Warum fühlte sie sich dann so beklommen? Wieso kam ihr alles so labil vor, als wäre nur ein kleines Ereignis nötig, um alles zum Einsturz zu bringen?

Ein Werbeschild kündigte den magischen Ort Tintagel an. In Merlins Zaubergarten, hieß es, würde man den Geheimnissen von Camelot auf die Spur kommen. Als Sarah Tintagel erreichte, war keine Magie zu spüren, stattdessen regnete es, allen Voraussagen zum Trotz. Das Dorf, das sich praktisch nur an der Hauptstraße entlangzog, lag wie ausgestorben da. Die Schilder für Merlin’s Pub, Merlin’s Spielzeugladen oder das Hotel King Arthur wirkten wie ein Hohn auf sich selbst. Die Abzweigung zur Burgruine konnte man im Regen leicht übersehen.

Sie fuhr nach Bossiney und öffnete die Wagentür. Es war unmöglich auszusteigen, ohne klitschnass zu werden. Bei dem Wetter würde sie weder das Portalgrab noch die Farm besichtigen können. Cindy zu treffen, ohne sich vorher selbst ein Bild gemacht zu haben, erschien ihr wenig sinnvoll. Ohne rechtes Ziel fuhr Sarah weiter.

Hinter Bossiney führte die Straße leicht bergab und tauchte in einen Wald ein. Es wurde so dunkel, als ob die Nacht hereinbräche. Wasser troff von den Bäumen, die einen geschlossenen Baldachin bildeten. Nebel stieg vom Asphalt auf. In der Kehre, die sich am tiefsten Punkt befand, wäre Sarah beinahe mit einem Laster zusammengestoßen. Beim Ausweichen entdeckte sie ein verwittertes Schild, das auf ein Bed and Breakfast hinwies. Sie bog in den morastigen Weg ein. Nach ein paar Metern versperrte ein Weidegatter den Weg, und Sarah stieg aus, um es zu öffnen. Ihre Schuhe versanken im Schlick, der Wind wehte Regen von den Ästen. Während sie sich mit dem Riegel abmühte, entdeckte sie den Namen des Besitzes; er war ins Holz des Gatters geschnitzt: Trevillet Mill.

Sarah fuhr auf das Grundstück. Dort stand die alte Mühle, die Nebengebäude waren zu Cottages umgebaut worden. Sie hielt vor dem Eingang, stieg aus und klopfte. Das erstaunte Gesicht eines jungen Mannes mit Brille tauchte im Fenster auf. Er öffnete.

»Ja, bitte?« Er mochte kaum zwanzig sein, hatte langes, dunkles Haar und war eleganter gekleidet, als man es bei diesem Wetter erwarten konnte. Er hielt einen Stift in der Hand.

»Ich suche eine Übernachtungsmöglichkeit.«

»Haben Sie reserviert?«, fragte er mit feiner Stimme.

»Ich bin zufällig vorbeigefahren.« Sie wandte sich um, nirgends stand ein anderes Auto. »Sind Sie ausgebucht?«

»Das nicht.« Er warf das Haar aus der Stirn. »Aber ich mache die Zimmer nur bei Vorbestellungen zurecht.«

»Ich warte gern.«

Sarah wünschte sich, in eine Decke gehüllt auf dem Sofa zu sitzen und etwas Warmes zu trinken.

»Ich könnte Ihnen St. Nectan’s herrichten.« Der junge Mann wies auf das nächstgelegene Cottage.

»St. Nectan’s hört sich ausgezeichnet an.«

»Wenn Sie sich ein paar Minuten gedulden?«

Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sie nicht ins Haupthaus bitten würde. Nachdem er einen Schlüssel geholt hatte, zog er die Tür hinter sich zu und verschwand im Cottage. Sarah setzte sich ins Auto. Eine Viertelstunde später gab er ihr zu verstehen, sie könne nun hereinkommen. Sie nahm ihren kleinen Koffer und die Aktentasche und lief ins Häuschen. Sie war entzückt. Das Sofa war groß und bequem, gegenüber stand ein Holzofen mit Sichtfenster, der in den ehemaligen offenen Kamin eingebaut worden war.

»Wunderbar. Jetzt möchte ich nur noch wissen, wo ich etwas zu essen kriege.«

»In Tintagel haben Sie die Auswahl zwischen mehreren Restaurants.«

»Ich glaube, ich werde lieber hier einen gemütlichen Abend verbringen.«

»In dem Fall finden Sie in Bossiney einen Supermarkt.«

In Deutschland hätte Sarah nun die Frage erwartet, wie es sie in diese Gegend verschlagen habe. Die englische Zurückhaltung jedoch verbat solche Neugier. Als sie nach der Bezahlung fragte, erklärte er, sie hätten kein Kreditkartengerät. Sarah zahlte bar.

»St. Nectan?«, fragte sie. »Ist das der Heilige, der das keltische Christentum verteidigt hat, als die Angelsachsen England eroberten?«

»Das ist mir leider nicht bekannt.« Er sah sie über den Brillenrand hinweg an. »Das Cottage wurde so genannt, weil sich etwas weiter oben der Wasserfall befindet, der St. Nectans Namen trägt.«

»Hier ist das?«, rief Sarah erfreut. »Das will ich mir ansehen.«

»Bei dem Wetter bräuchten Sie andere Schuhe.«

»Keine Sorge.« Dass sie für die Besichtigungen Gummistiefel dabeihatte, behielt sie für sich. Er zeigte ihr noch die Handhabung des Ofens.

»Ich bin Bryan. Falls Sie irgendetwas brauchen, klingeln Sie bitte drüben.« Er ging.

Sie zog die Schuhe aus, lief in den ersten Stock und fand ein gemütliches Schlafzimmer mit Himmelbett und Blick auf den Garten vor. Der Nebel verwehrte den Blick in den umliegenden Wald.

Sarah setzte sich aufs Bett. Der letzte Gast hatte auf dem Nachttisch einen Wälzer zurückgelassen. Als sie ihn aufschlug, fiel ein Lesezeichen heraus, eine Postkarte mit der Ansicht von Tintagel. »Liebe Maureen« stand auf der Rückseite. Jemand hatte an eine Maureen schreiben wollen, die Karte aber nie abgeschickt.

Sarah sank gegen das Kissen. Was für eine Ehe führten die Cormacs eigentlich? Durch schwere Schicksalsschläge waren sie geprüft worden, John hatte seine Stellung verloren und war gezwungen gewesen, einen anderen Beruf zu ergreifen. Wahrscheinlich hatte er sich eingeredet, es sei nur vorübergehend, doch die Zeit war vergangen, und er schipperte immer noch Touristen die Küste entlang. Ihr älterer Sohn Glen war krank geworden und langsam, vor den Augen seiner Eltern, gestorben. Für Billy und Chloé hatten die Cormacs die Normalität aufrechterhalten müssen. Trotzdem hatte sich der Junge in die Vorstellung geflüchtet, dass sein Bruder in Gestalt von Gwydyon wiedergekehrt sei. Sarah legte die Beine aufs Bett. Und John? Er belog seine Frau. Bei ihrem ersten Rendezvous hatte er absichtlich einen Streit vom Zaun gebrochen, um sich mit Sarah zu treffen. Belog er Maureen öfter?

Du solltest vor deiner eigenen Tür kehren, dachte sie. Trotz deiner großen Ankündigungen hast du es nicht über dich gebracht, Russell die Wahrheit zu sagen. Du spielst die Rolle der Ehefrau, der Herrin von Trelawn, während dir die Wirklichkeit zwischen den Fingern zerrinnt. Du weißt nicht, an welcher Lebenskreuzung du falsch abgebogen bist, seitdem hangelst du dich von Lüge zu Lüge.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Was sollten die trüben Gedanken? In dieser reizenden Bleibe wollte sie nicht Trübsal blasen. Sie trat ans Fenster. Ein Wetter, das zu diesem Haus und diesem Wald passte, doch ihr schien, der Regen war schwächer geworden. Vor dem Einkaufen wollte sie einen Spaziergang machen. Sie holte Gummistiefel und Regenjacke aus dem Auto, zog sich um und verließ das Haus durch den Garten.

Schwertlilien, Glockenblumen, Narzissen – entlang des Flüsschens waren viele Blumen gepflanzt worden. Nachdem Sarah eine morsche Holzbrücke überquert hatte, wandelte sich das Bild. Hier war nichts mehr kultiviert, durch den triefenden Wald ging es bergauf. Abgestorbenes Holz moderte, die Bäume waren meterhoch von Moos überzogen. Flechten bedeckten Felsen und Baumstrünke. Der Weg schien selten benutzt zu werden, er war weitgehend zugewachsen. An steilen Stellen hatte man Geländer errichtet, doch durch die Feuchtigkeit waren sie brüchig geworden. Zwischen den Baumkronen versuchte Sarah zu erspähen, ob das Licht schon schwand. Wurde es Abend? Sie wollte nach Bossiney, bevor der Lebensmittelladen schloss. Dennoch stieg sie weiter und weiter hinauf; ehe sie den Wasserfall nicht gesehen hatte, würde sie nicht umkehren.

Er rauschte schon seit einiger Zeit über ihr, sie musste dem Fall bereits nahe sein. Die dichte Wildnis machte ihn unsichtbar. Ab einem bestimmten Punkt war das Areal eingezäunt. Dem Steilhang folgend zog sich der Maschendraht in die Höhe, von Stacheldraht verstärkt. Nectans Heiligtum sollte nur der betreten, der auch dafür bezahlt hatte. Grund genug für Sarah, sich darüber hinwegzusetzen. Sie brauchte nicht lange zu klettern, bis sie eine gestürzte Fichte fand, mit deren Hilfe sie den Zaun überwand. Jetzt wurde es noch steiler. Mit Händen und Füßen arbeitete sich Sarah voran, hielt sich an Grasbüscheln fest, manchmal fasste sie in Morast, um nicht abzurutschen. Sie keuchte vor Anstrengung – ihren Forschungsausflug nach Bossiney hatte sie sich anders vorgestellt.

Der Wasserfall tauchte so unvorhergesehen auf, dass sie der Sprühregen ins Gesicht traf. Sarah hatte sich der Sehenswürdigkeit von der Seite genähert. Über ihr stürzte weißgrau das Wasser herab, sammelte sich in einem ausgeschwemmten Naturbecken und ergoss sich durch ein kreisrundes Felsenloch in die Tiefe, wo es im flachen Bett gezähmt wurde und als Bach weiterfloss.

Sie war von oben bis unten nass. Von ihrem Gesicht perlten mikroskopisch kleine Tröpfchen ab und rannen auf die Jacke. Plötzlich schien der Himmel sich aufzuhellen, und die Sonne wagte den Versuch, das Grau zu durchbrechen. Lichtstrahlen glitzerten in den Büschen jenseits der Kaskade, durchzogen von Wasserdampf. Sarah konnte den Blick nicht von dem Schauspiel wenden. In diesem Moment fühlte sie sich von der Gewissheit durchdrungen, dass etwas Schönes auf sie zukommen würde. Sie hätte nicht sagen können, was es sein sollte, doch das Bild, das aus dem Zusammenwirken von Wasser und Licht entstand, gab ihr für einen Moment ein Gefühl des Glücks und der Zuversicht.

Schon kurz darauf zog sich die Sonne wieder zurück, das Licht schwand, grau und tosend stürzte das Wasser zu Tal.

Mit einem Bein hatte Sarah sich auf dem Abhang abgestützt. Plötzlich gab ein Erdklumpen nach, sie rutschte und versuchte sich festzuhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sich das Szenario verändert. Sie war hinter einen Busch gerutscht, der Wasserfall war von hier aus nicht mehr zu sehen. Still und erschöpft, dabei von Glück durchdrungen, machte sie sich an den Abstieg. Es war nicht ungefährlich, sie stützte sich an den Bäumen ab, erreichte den Pfad, den flacheren Wald, die morsche Brücke. Bald war sie wieder bei der Mühle angelangt.

Ohne noch einmal ins Haus zu gehen, setzte sie sich ins Auto und fuhr nach Bossiney. Der sogenannte Supermarkt war ein mieser Laden, der nur Dosenkost führte. Der Verkäufer musterte Sarah merkwürdig. Sie blickte an sich hinunter – wie das Monster aus dem Moor sah sie aus. Trotzdem fuhr sie nach Tintagel weiter, fand einen Gemüseladen, kaufte auch Brot ein und kehrte in die Mühle zurück. Sie duschte ausgiebig, machte Feuer und aß vor dem flackernden Ofen zu Abend. Mehrmals hielt sie lächelnd im Kauen inne. An diesem Abend war Sarah sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein.