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26 Er hatte sich ins Zeug gelegt. Daheim wartete ein gedeckter Tisch mit allerlei Delikatessen auf Sarah. Da sie beim Essen die meiste Zeit über erzählte, fiel Russell nicht auf, wie wenig sie aß. Ihr war elend zumute. Eine Fassade aufrechtzuerhalten hatte sie nie verstanden. Geradeheraus, wie Sarah war, brachte sie unangenehme Dinge gern so rasch wie möglich auf den Punkt. Russell sprühte vor Zuwendung und wollte sich totlachen, weil Sarah Mr. Algernon nicht als Archäologin, sondern als Frau umgestimmt hatte. Er war aufmerksam, goss ihr Wein nach, kaum dass das Glas halb leer war, und kam erstaunlich schnell auf die Planung der kommenden Umstellungen in Trelawn zu sprechen. Sarah war derart überrascht über so viel Entgegenkommen, dass sie mitspielte, obwohl ihr bitter bewusst war, dass es nicht ihre eigene Zukunft war, die er da plante.

»Macht dir das nichts aus, dass wir uns noch seltener sehen werden als jetzt, dass Trelawn mehr oder weniger zum Hotel verkommt?«

»Es ist doch nur vorübergehend. Ich bleibe nicht ewig in London. Und wie lang kann es schon dauern, so einen alten Keltenfürsten auszubuddeln?«

»Wenn die Fundstätte umfangreich ist, mehrere Jahre.«

»Wir machen einen Schritt nach dem anderen.« Er tat sich vom italienischen Schinken auf. »Ist es nicht wie ein frischer Wind, der durch unser Leben weht?« Über den Tisch gebeugt, küsste er sie. Als er zärtlicher werden wollte, schob sie ihn zurück.

»Nicht, du kitzelst.«

»Probier von den Würsten – die sind aus Deutschland.«

»Ein frischer Wind«, wiederholte Sarah, ohne sich etwas zu nehmen.

»Erstaunlich, wie sich in letzter Zeit alles gefügt hat. Als ob es so kommen musste!«

Es lag ihr auf der Zunge. Sie stand kurz davor, ihre Abmachung zu brechen und Russell zu eröffnen, dass es nicht so, sondern völlig anders kommen würde. Sie musste etwas unternehmen, um sich vor diesem Fehler zu bewahren. Daher holte sie ihre Kamera und zeigte Russell die Fotos, die sie in Nordcornwall gemacht hatte. Währenddessen begann er sie zu streicheln.

»Nicht, bitte.«

»Wieso?« Er biss in ihren Nacken.

»Ich bin irgendwie ausgelaugt. Es ist alles ein bisschen viel.« So wenig lügen wie möglich, nahm sie sich vor.

»Ich bringe deine Lebensgeister wieder in Schwung.« Er berührte ihre Brüste.

»Nein, Russell, wirklich.« Brüsk zog sie sich zurück. »Heute will ich nicht. Ich könnte es nicht genießen.«

Er war bereit, es von der komischen Seite zu nehmen. »Du hast also ein Verhältnis.«

Entgeistert starrte sie ihn an.

»Hat dich der liederliche Bauer doch rumgekriegt?«

»Du bist mir auf die Schliche gekommen.« Ihr Lächeln war aufgesetzt. Sie nutzte den Umstand, die Kamera wegzuschaffen, um aus Russells Nähe zu kommen.

Der Abend zog sich quälend in die Länge. Obwohl es zu früh zum Schlafengehen war, beteuerte sie, wie müde sie sei. Bei Russell hatte der Wein eine belebende Wirkung, er plauderte von Londoner Begebenheiten, erwähnte Freunde, die er getroffen hatte, erzählte, dass die Therapie bei Sam gut anschlagen würde. Sarah saß ihm auf dem anderen Sofa gegenüber, die Hände ineinander verschlungen, sie bewegte die Zehen in den Hausschuhen und bemühte sich, ruhig zu atmen. Eine halbe Stunde verstrich, und wieder zehn Minuten, irgendwann griff er zur Fernbedienung und schaute Nachrichten. Sie nahm das zum Anlass, sich fürs Bett fertig zu machen. Im Bademantel kam sie ins Wohnzimmer zurück und gab ihm einen Gutenachtkuss.

Als sie schließlich allein im Turm war, stieß sie einen lautlosen Schrei aus und starrte in den Spiegel. Sie mochte die Frau nicht, die sie dort sah. Wie sehr sie sich auch alles schönzureden versuchte – es war falsch. Sie hatte gelobt, dem Mann, der dort unten auf dem Sofa saß, die Treue zu halten, allen Widrigkeiten zum Trotz. Er war ihr – bis auf seinen Fehltritt mit Miss Moynihan, den er zutiefst bereute – ein guter Mann und inspirierender Partner gewesen, es wäre eine beruhigende Vorstellung, mit Russell alt zu werden. Sie aber log ihm ins Gesicht. Sie würde ihn verlassen, weil ein anderer ihr besser gefiel, weil er einfühlsamer und sanfter war. Dafür brach sie ihren Schwur? Am liebsten wäre Sarah in dieser Nacht aus Trelawn geflohen. Das Haus, der Turm waren eine einzige Anklage gegen sie. Jedes Bild, jeder Spiegel erinnerten sie an eine Situation ihres gemeinsamen Lebens.

Sie wollte sich beruhigen. Ihr fiel ein, dass sie noch eine ungeöffnete Flasche Schwarzwälder Kirschschnaps im Schrank hatte, das Geschenk eines deutschen Besuchers. Eine Nacht wie diese war geschaffen dafür, sich zu betrinken.

Sie erwartete nicht, dass John sich am nächsten Tag melden würde, doch am darauffolgenden begann sie darauf zu warten. Als ein weiterer Tag verstrich, ohne dass etwas passierte, wurde sie unruhig. Ihr Gang durch das Haupthaus, die Gespräche mit den Gästen, selbst die alltäglichen Verrichtungen mit Elaine fielen ihr schwer. Mehrmals nahm sie ihr Telefon zur Hand, um John zu fragen, ob alles in Ordnung sei, zugleich wollte sie ihn nicht unter Druck setzen. Hatten sie nicht eine klare Vereinbarung? Es gab keinen Grund, irgendetwas in Zweifel zu ziehen. Und doch war ihr bewusst, dass John schlimmere Zweifel durchzustehen hatte als sie selbst – wenn er mit seiner Tochter spielte oder mit Billy Schularbeiten machte, wenn Maureen ihm das Abendessen auf den Tisch stellte. Verblasste der wunderschöne Nachmittag im Seagull Hotel bereits wieder, bereute er seinen Vorschlag?

Als eine weitere Nacht verstrichen war, ohne dass sie von ihm hörte, schickte sie ihm einen liebevollen Gruß. Sie erhielt keine Antwort.

Ihre Sorge war nun erdrückend, und ihre Ahnung drohte zur Gewissheit zu werden. Diesen Morgen ließ Sarah noch verstreichen, dann zog sie sich in den Turm zurück und rief ihn an. Es dauerte eine Weile, bis er abnahm.

»Hallo, John«, sagte sie bemüht harmlos. Als die Antwort nicht gleich kam, fürchtete sie, seine Familie sei in der Nähe. »Störe ich?«

»Du störst nicht, aber ich kann im Moment schlecht sprechen.« Seine Stimme klang gedämpft, wie von weit weg.

»Bist du umringt von gackernden Japanerinnen, die ihren Reiseführer sexy finden?« Sarah saß ein Kloß im Hals.

»Ich bin nicht auf dem Boot.«

»Wo bist du?« Sie versuchte, Hintergrundgeräusche auszumachen.

»Man hat mich verhaftet, Sarah.«

Sie glaubte, sich verhört zu haben. »Was?«

»Ich bin in Polizeigewahrsam.«

Unfähig zu begreifen, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Meer. »Was ist passiert?«

»Man wirft mir etwas vor, das ich nicht getan habe. Es wird sich alles aufklären«, setzte er rasch hinzu. »Im Augenblick bespricht Maureen gerade, ob wir uns besser einen eigenen Anwalt nehmen oder einen Pflichtverteidiger stellen lassen.«

»Was ist vorgefallen?«

Er schien die Hand über den Hörer zu decken. »Ich muss wirklich gleich Schluss machen.«

»Sag mir nur, worum es geht.« Sie sprach mit dem Mann, mit dem sie ein neues Leben beginnen wollte, und fühlte sich ausgesperrt und nutzlos. Sie konnte nichts für ihn tun.

»Fahrerflucht«, antwortete er. »Man wirft mir vor, ich hätte jemanden mit dem Boot gerammt und wäre danach abgehauen.«

»Das ist absurd.«

»Ich weiß.«

»Man kann an deinem Boot bestimmt feststellen, ob du jemanden gerammt hast. Wann soll das gewesen sein?«

»Vor vier Nächten.«

»Das wäre ja – zwei Tage bevor wir uns getroffen haben. Du hast bestimmt ein Alibi?« Sie merkte, wie sinnlos es war, von ihrem gemütlichen Zimmer aus einen Fall zu besprechen, von dem sie nicht das Geringste wusste. »Wann können wir uns sehen?«

»Nicht so bald, fürchte ich. Die sperren mich ein. Ich soll dem Richter vorgeführt werden. Der entscheidet, ob ich in Haft bleibe oder …« Jemand schien John zu rufen. »Ich komme. Sorry, aber ich muss wirklich aufhören. Ich melde mich.« Ohne Abschied beendete er den Anruf.

Ich melde mich. Kein Wort über das, was war, was sein sollte, kein Ich liebe dich. Mach dich nicht lächerlich, rief Sarah sich zur Vernunft. John ist in ernsten Schwierigkeiten, und du willst Liebesgesäusel von ihm hören? Das Telefon in der Hand, stand sie am Fenster. Wie heimtückisch das Leben war. Von einer Sekunde zur nächsten hatte sie sich von seiner Geliebten zu einer völlig Außenstehenden gewandelt. Sie konnte, sie durfte John nicht helfen. Wäre Russell in der gleichen Situation, sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, ihn freizubekommen. Für sie beide wäre das leicht, sie hatten Geld. Für jemanden wie John konnte so etwas schlimme Folgen haben; die Anwaltskosten, der Verlust des Leumunds. Er ist unschuldig, beruhigte sich Sarah, der Falsche wurde verhaftet, das Missverständnis wird sich aufklären. John kann seine Unschuld gewiss beweisen.

Mit dem Boot gerammt – wie war so etwas möglich? Bei Tageslicht sah man, was einem in den Weg kam, und in der Nacht fuhren nur die Fischer hinaus. John war nachts bestimmt nicht auf dem Meer gewesen. Weshalb konnte ihm Maureen kein Alibi geben oder die Kinder?

»Sarah?«, hörte sie aus dem Erdgeschoss.

»Ja?«

»Die Mieter von Nummer 4 haben eine Frage«, rief Elaine.

Unwillig wandte sie den Kopf. »Kannst du ihnen nicht weiterhelfen?«

»Es geht um eine Marmeladensorte. Sie wollen wissen, wo man die hier bekommt.«

»Marmelade.« Sarah steckte das Handy ein. Auf dem Tischchen stand die Schnapsflasche. Sie hatte gestern einiges konsumiert. »Ich komme.« Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht.

An diesem Nachmittag nahm sie eine Lieferung von der Baumschule entgegen, telefonierte wegen einer schadhaften Dachrinne und beschrieb neuen Gästen den Weg nach St. Austell. Sie tat es wie jemand, der die Vogelperspektive einnimmt und sich selbst von oben betrachtet. Sie setzte sich über die Unterlagen aus Bossiney, doch es war ihr unmöglich, sich darauf zu konzentrieren. Einmal schaltete sie die Nachrichten ein, um zu sehen, ob der Lokalsender etwas über den Vorfall mit dem Boot brachte. Im Grunde lächerlich, sie wusste nicht einmal, ob jemand zu Schaden gekommen war; wahrscheinlich handelte es sich um ein Bagatelldelikt, unangenehm, zeitraubend, mehr nicht. Es ist nur ein Aufschub, sagte sich Sarah, ein unerwartetes Ärgernis, der Vorfall ändert nichts an unseren Plänen. Zugleich versteht es sich von selbst, dass John nicht ausgerechnet jetzt seine Familie verlassen kann. Und was mache ich so lange? Das Gleiche wie bisher, lautete die zermürbende Antwort. Sarah widmete sich ihren Tagesgeschäften.

Es wurde zu einem der schlimmsten Tage, an die sie sich erinnern konnte. Im Geist hatte sie den Sprung bereits gewagt, den größten in ihrem ganzen Leben. Nun hinderte die Wirklichkeit sie daran, ihn zu vollziehen. Es war, als ob man mit gepackten Koffern vor der Tür stand und erfuhr, dass die Reise geplatzt war. Besonders machte ihr zu schaffen, dass sie keinen Weg sah, an Informationen über Johns Schicksal heranzukommen. Sie konnte schlecht bei der Polizei anrufen: »Hallo, ich bin die Geliebte von Mister Cormac. Können Sie mir sagen, wann er wieder freikommt? Das wäre schrecklich nett von Ihnen.«

Als Sarah in der Halle auf Elaine traf, war sie zum zweiten Mal versucht, die vertraute Seele einzuweihen. Stattdessen ließ sie sich von Elaines Zahnbeschwerden erzählen und bemerkte, der Westflur müsse bald einmal gestrichen werden. Als es endlich dämmerte und Sarah die Stunde herbeisehnte, in der sie schlafen gehen konnte, fiel ihr auf, dass diese Wendung der Dinge auch eine gute Seite hatte. Es war die Gelegenheit, alles noch einmal zu überprüfen. Es erinnerte Sarah an Geschichten aus alten Romanen. Wenn zwei junge Menschen sich verliebt hatten, ihre Eltern aber gegen die Verbindung waren, zwang man das Paar, eine bestimmte Frist verstreichen zu lassen, ohne einander zu sehen. Die Eltern hofften, nach dieser Zeit würde die Liebe verflogen sein. Bei Teenagern mag das funktionieren, dachte Sarah, aber was passiert bei einem reiferen Kaliber wie mir? Mit einem Apfel setzte sie sich auf die Terrasse und beobachtete, wie das letzte Licht des Tages schwand.