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28 Wenn Trelawn Sarahs volle Aufmerksamkeit forderte und Erledigungen für den großen Besitz sie in Anspruch nahmen, gelang es ihr, ihre Gefühle beiseitezuschieben. Morgens allerdings, wenn sie die Augen aufschlug, war es hart. Sie beeilte sich dann aufzustehen und sich den üblen Gedanken nicht hinzugeben. Sie floh aus dem Bett, duschte und machte sich sorgfältiger zurecht als sonst; äußere Zeichen waren ihr jetzt wichtig, die Fassade gab ihr etwas Halt. Die zweite Tasse Tee auf der Terrasse versagte sie sich – nur nicht nachdenken, Grübeleien waren gefährlich.

So brachte Sarah das Kunststück zustande, die ersten Tage nach der Trennung mit Anstand zu bewältigen. Das galt für die Zeit, bevor die Sonne sank. Abends ließ sich keine Ablenkung, kein eingespieltes Ritual mehr finden, das sie von ihrer Traurigkeit ablenken hätte können, dann war es kaum auszuhalten. Sie kochte nicht, da sie keinen Appetit hatte. Zum Lesen fehlte ihr die Konzentration, fernsehen fand sie öde, es blieb nichts, als in ihr Zimmer im Turm hinaufzusteigen und zum wiederholten Mal die Unterlagen von Bossiney durchzugehen und die Fakten mit denen anderer Ausgrabungsstätten in der Nähe zu vergleichen. Es half, zu arbeiten.

Ausgerechnet in diesem ungewissen Projekt lag Sarahs größte Hoffnung. Hier wollte sie sich verwirklichen, hier gab es die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Einmal rief sie Algernon an und vergewisserte sich, dass er zu seinem Wort stand. Er freue sich, wenn sie endlich wiederkommen und auf seinem Hof zu graben beginnen würde, sagte er.

An diesem Freitag tauchte Russell schon am Nachmittag auf. Seit Sarahs letztem Treffen mit John sahen sie sich nun zum ersten Mal. Sie brauchte vor ihrem Mann keinen Geliebten mehr zu verheimlichen und fragte sich, wann der richtige Zeitpunkt sei, Russell die Affäre zu beichten. Zuerst wollte sie selbst darüber hinweg sein, beschloss sie.

Es wurde ein ruhiger Nachmittag, er plauderte über seine Londoner Erlebnisse, und Sarah war froh, nicht viel erzählen zu müssen. Nach dem Abendessen, sie hatte gerade die Teller weggebracht, zog er sie zu sich auf den Schoß.

»Was ist los, mein Mädchen?«

»Was meinst du?«

»Du scheinst gar nicht richtig da zu sein.«

»Ich bin nur ein bisschen erschöpft. Wir haben heute im Garten …«

»Bedrückt dich etwas?« Er streichelte ihren Nacken, fuhr unter ihre Bluse und strich sanft über ihren Rücken.

»Mir bereitet die Sache mit Bossiney ein bisschen Sorge. Ich habe lange nicht gearbeitet, die Organisation zwischen dort und hier, das wird es wohl sein.« Sarah wollte aufstehen.

Sanft hielt er sie fest. »Du wirst nichts davon gehört haben, aber der Mann, mit dem wir den Unfall hatten, wurde verhaftet.«

Sie saß stocksteif da.

»John Cormac. Erinnerst du dich an ihn?«

»Verhaftet, woher weißt du das?«

»Alec hat bei Gericht davon erfahren. Sie werden dem Burschen wohl den Prozess machen.« Russell verwöhnte sie mit einer kleinen Rückenmassage. Sie war froh, ihn nicht ansehen zu müssen.

»Was wird ihm vorgeworfen?« Sein Griff wurde kräftiger, sie zuckte zusammen.

»Zu fest? Entschuldige. Er soll nachts mit seinem Schiff ein anderes Boot gerammt haben und einfach weitergefahren sein. Fahrerflucht auf See ist besonders übel, finde ich.«

»Vielleicht war er es gar nicht.«

»Der Staatsanwalt ist davon überzeugt, sagt Alec. Übrigens auch der Richter. Da kommen wohl harte Zeiten auf Mister Cormac zu.« Er streichelte Sarahs Arme. »Der Typ scheint mir der klassische Pechvogel zu sein.«

»Wieso?«

»Ist das nicht auffällig? Zuerst lässt er zu, dass sein Junge fast überfahren wird, dann produziert er eine Karambolage auf See – nicht gerade vertrauenerweckend, oder?«

»Nicht besonders.«

»Wollen wir ins Schlafzimmer?« Mit frechem Grinsen knöpfte er Sarahs Bluse auf.

»Russell, ich will …« Aus verzweifelten Augen sah sie ihn an.

»Willst du es etwa gleich hier auf dem Stuhl machen?« Ein Griff, und ihr BH-Verschluss war offen.

Vor ein paar Tagen noch hatte sie Russell hinter sich lassen wollen, ihre Ehe sollte Vergangenheit sein. Sie hatte sich bemüht, Distanz zu ihm aufzubauen, war überzeugt davon gewesen, dass ihre Wege sich bald trennen würden. Nun hatten die Dinge sich geändert, und Russell war ihr plötzlich wieder so nah. Würde sie ihre Zukunft weiter mit ihm bestreiten? Hatte sie noch Zweifel daran? Gab es einen Grund, sich etwas anderes einzureden? Aufs Äußerste verwirrt, drehte Sarah sich um und küsste ihn auf den Mund. Sie fasste in sein Haar, küsste sein Gesicht, seinen Hals, sie riss die Krawatte auf und fasste unter sein Hemd. Zugleich begann sie sich auf seinem Schoß zu bewegen. Sofort spürte sie seine Erektion.

»Das ist der Grund für deine Bedrückung?«, keuchte er. »Du brauchst ein bisschen Liebe? Das können wir beheben.« Er streichelte ihre Brüste und bedeckte sie mit Küssen.

»Nicht hier.« Sie sprang auf, zog ihn die Stufen ins Wohnzimmer hinauf und dort auf den Teppich. Sie zogen einander im Stehen aus. Sarah öffnete seine Hose und küsste sein Glied. Er lehnte sie gegen die Wand und drang im Stehen in sie ein. Sie starrte in seine Augen. Das ist mein Mann, dachte sie, mein Mann, ich muss zu ihm zurückfinden. Sie sanken auf den Teppich und liebten einander lange und leidenschaftlich. Sarah sehnte sich danach, alles Bedrängende und Verwirrende hinter sich zu lassen. Sie waren Mann und Frau, und in diesem Bewusstsein gab sie sich ihm hin.

Danach war es still im Künstlerturm, nur der Kühlschrank brummte. Russell verschwand in der Küche und kam mit einer Flasche Wein zurück. Sarah zog das nächstbeste Kleidungsstück heran, sein Hemd, und zog es über. Sie tranken Wein und schwiegen.

»Ich beneide dich«, sagte er.

»Wieso?«

»Du kannst ganz von vorn anfangen. Das Projekt im Norden, dort stehen dir alle Möglichkeiten noch offen.«

»Alle Möglichkeiten …« Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Willkommen daheim, Russell«, flüsterte sie leise. Während der Wein sie durchwärmte und sie den Körper ihres Mannes umarmte, spürte sie, wie die Traurigkeit in ihr aufstieg. Nach allem, was passiert war, würde der Schritt zurück nicht einfach sein.

»Der Staatsanwalt ist sicher, dass Cormac schuldig ist«, hatte Russell gesagt. Seine Informationsquelle war zuverlässig: Alec, ihr Anwalt, hatte beste Beziehungen zur Justiz. Es würde John also schwerfallen, seine Unschuld zu beweisen. Sarah sträubte sich gegen ihre Gedanken. Was ging es sie noch an? Zwei Wochen waren verstrichen, doch Johns Schicksal beschäftige sie mehr denn je. Mochte diese Liebe, die so umwälzend gewesen war, auch zu Ende sein, sie hatte tiefe Spuren in Sarah hinterlassen. Es gab viele Momente, in denen sie an ihren verlorenen Traum erinnert wurde. Die Whiskyflasche, aus der John sich beim Abschied eingeschenkt hatte, die Stelle an der Weidenmauer, an der er Sarah aufgelauert hatte, täglich fuhr sie daran vorbei. Manchmal waren es Farben am Himmel, die sie an John erinnerten, Gerüche des Meeres ließen die Bilder ihres Strandspaziergangs wieder aufleben. Wenn draußen ein Schiff vorbeiglitt, das seinem Kutter ähnelte, wurde ihr das Herz schwer. Es gelang ihr nicht, ihn einfach seinem Schicksal zu überlassen. Sollte er unschuldig verurteilt werden und ins Gefängnis kommen? Sollte seine Familie ihn abermals verlieren?

Eines heißen Tages hatte Sarah etwas in Lostwithiel zu erledigen und brach frühmorgens dorthin auf. Anders als die Tour zu Wasser dauerte die Autofahrt kaum eine Stunde. Der Termin im Auktionshaus dauerte nur ein paar Minuten, daraufhin setzte Sarah ihren Weg nach Fowey fort. Als sie das Hinweisschild zum Golfhotel passierte, in dem John und sie so glücklich gewesen waren, atmete sie tief durch, um ihrer Tränen Herr zu werden.

Die Werft von Fitzmaurice war leicht zu finden, ein gutes Stück davor drang der Lärm der Maschinen bereits zu Sarah. Sie zweifelte nicht daran, dass Polizei und Staatsanwaltschaft den Fall gründlich geprüft hatten, doch vielleicht waren sie im Bemühen, den Schuldigen rasch zu finden, anderen Spuren gar nicht nachgegangen. Wenn sie als Privatperson Erkundigungen einzog, musste das merkwürdig wirken, doch sie wollte es nicht unversucht lassen.

Die Werft lag halb zu Wasser, halb auf dem Land, sie hatte mehrere Slipkräne, Gerüste für Schiffe im Trockendock und einen Hangar für Innenarbeiten. Funkensprühend fraßen sich Flexmaschinen durch Stahl, übertönt von einem Elektrohobel, mit dem eine Beplankung bearbeitet wurde. Sarah ging ins Büro und fragte die beiden Frauen hinter dem Schalter nach ihrem Chef. Wenig später stand Peter Fitzmaurice vor ihr.

»Was kann ich für Sie tun?«

Er war kräftig, nicht in der Art eines Arbeiters, Fitzmaurice wirkte eher wie ein Kraftsportler. Er hatte sein Haar kurz abrasiert, im Ohr trug er einen Silberring.

»Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Wenn’s schnell geht«, antwortete er nicht besonders freundlich.

»Vielleicht in Ihrem Büro?«

Der Chef warf seinen Angestellten einen vielsagenden Blick zu. »Sie machen es spannend, Miss …«

»Mrs. Henley.«

Er ging ihr ins hintere Zimmer voraus. Auf dem Schreibtisch türmten sich Reparaturaufträge und Ersatzteilbestellungen. Er bot ihr einen Stuhl an.

»Sie waren noch nie hier. Darf ich raten: Sie suchen einen Segler, was Kleines, einen Jollenkreuzer vielleicht?«

»Falsch.« Sie lächelte. »Obwohl ich schon mit mancher Jolle Kurs aufgenommen habe.«

»Nicht in unserer Gegend.«

»Stimmt. Es war …« Sie wollte nicht gleich damit herauskommen, dass sie Deutsche war. »Sie handeln also auch mit Booten?«

»Manchmal verkaufe ich für einen Freund ein Schmuckstück.« Er riet zum zweiten Mal. »Sie haben schon ein Boot, stimmt’s?«

»Ich nicht. Mein Mann.«

»Welcher Typ?«

»Ein Verdränger, zwanzig Meter, Innenborder.«

Er pfiff durch die Zähne. »Kunststoff?«

»Holz. Darauf ist Russell stolz.«

»Was hat das gute Stück für Probleme?« Er stütze sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch.

»Ich bin nicht wegen unseres Bootes hier, Mister Fitzmaurice.« Sie fasste sich ein Herz. »Ich bin eine Bekannte von John Cormac und mache mir Sorgen um ihn.«

»Was John betrifft, gibt es durchaus Grund zur Sorge. Ich mag den Mann, ein guter Kunde, wir kennen uns schon lange.«

»Trotzdem haben Sie ihn angezeigt.«

Die Sehnen an seinem Hals traten hervor. »Sekunde mal, Mrs. Henley, Sie schneien hier einfach rein und behaupten …«

»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Ich frage mich nur, ob John als Einziger für die Tat in Frage kommt.«

»Das habe ich nicht zu beurteilen. Als Werftbetreiber muss ich melden, wenn mir etwas merkwürdig erscheint. Und diesen Unfall, Johns Boot und was er unternommen hat, um es zu reparieren, fand ich ziemlich auffällig.«

»Dennoch könnte es ein unglückliches Zusammentreffen von Zufällen sein, und jemand anders hat den Unfall zu verantworten.«

»Theoretisch, ja.«

»Haben Sie das auch der Polizei gesagt?«

»Die Jungs von unserer Wasserpolizei sind ziemlich ausgeschlafen. Die haben Johns Kutter eingehend untersucht.«

»Haben sie Partikel des anderen Bootes am Bug gefunden?«

»Nein, er hat ja die Beplankung ausgetauscht. Alles ist gründlich beseitigt worden.«

»Obwohl man nichts gefunden hat, steht John trotzdem unter Anklage?« Sarah fand mit einem Mal, dass ihre Fahrt nach Fowey vielleicht doch sinnvoll gewesen war.

»Genau. Wegen des Zufalls.«

»Welcher Zufall?«

»Dass er ausgerechnet nach der Nacht des Unfalls zu mir kam und, kaum dass sein Kutter aus dem Wasser war, selbst daran herumgebastelt hat. Das muss man schon merkwürdig finden.«

»Man kann es auch folgerichtig finden. John nutzte die Gelegenheit, Schäden zu reparieren, die normalerweise unter der Wasserlinie liegen. Ist es nicht andersrum unlogisch, wenn jemand nach so einem Unfall sein Schiff an Ort und Stelle in Reparatur gibt? Würde derjenige nicht versuchen, den Schaden zu vertuschen?«

»Möglich.« Er fuhr sich über den Schädel. »Ich habe bloß meine Meldung abgesetzt, mehr kann ich zur Aufklärung nicht beitragen.«

»Doch, das können Sie.« Kerzengerade saß Sarah da. »Kennen Sie die Familie Cormac?«

»Ob ich sie kenne? Ich bin mit Maureen zur Schule gegangen. Auf ihre Empfehlung brachte John sein Boot in meine Werft.«

»Glauben Sie wirklich, dass dieser Mann abhauen würde, nachdem er ein Boot gerammt und die Insassen in Lebensgefahr gebracht hat?«

»Eigentlich nicht. Aber man kann in die Menschen nicht reinschauen.«

»Sie haben John da reingeritten.« Als Fitzmaurice widersprechen wollte, hob sie die Hand. »Sie sollten wenigstens versuchen, ihn auch wieder rauszuhauen.«

»Wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich nehme an, Sie kennen jede Werft, jeden Schiffsbauer, ja, sogar fast jeden Bootsbesitzer in der Nähe.«

»Ich kenne viele. Alle nicht.«

»Wenn jemand im Umkreis in letzter Zeit Arbeiten an seinem Boot vorgenommen hat, die – na, sagen wir – ungewöhnlich sind, könnten Sie das wahrscheinlich herauskriegen, oder?«

»Versuchen könnte ich es«, sagte Fitzmaurice auf seine knorrige Art. »Ich habe allerdings eine Menge um die Ohren.«

»Wir müssten es bloß schaffen, bevor der Prozess gegen John beginnt.«

»Wir?« Fitzmaurice lächelte. »Welches Interesse haben Sie eigentlich daran? Sind Sie der Schutzengel des netten Mister Cormac?«

Sie spürte, wie sie rot wurde. »Ich finde es nur schlimm, wenn jemand für etwas büßen soll, das er nicht …«

Das Büro begann sich plötzlich zu drehen. Wohin Sarah schaute, verwarf sich der Raum, oben und unten gerieten durcheinander. Sie ließ ihre Autoschlüssel fallen und hielt sich am Schreibtisch fest.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?« Fitzmaurices Gesicht entfernte sich, wurde von der Wand verschluckt, dann kam es wieder auf sie zu.

»Entschuldigung, mir ist …«

»Sie sollten an die frische Luft.«

Als sie aufstehen wollte, kippte der Boden unter ihren Füßen weg, und sie drohte zu stürzen. Bevor sie es sich versah, war Fitzmaurice neben ihr. Der kräftige Mann fasste sie unter den Achseln und führte sie zur Tür. Sie hielt sich am Türstock fest. Er machte den Sekretärinnen ein Zeichen, etwas Trinkbares für die angeschlagene Dame zu besorgen, und führte Sarah ins Freie.

Draußen wurde es besser. Sie fand sich auf einem eisernen Poller wieder, auf den der Werftbesitzer sie gesetzt hatte.

»Haben Sie so etwas öfter?«

»Nein, nie.«

Das stimmte nicht ganz. Als junge Frau war sie mehrmals, scheinbar ohne Grund, hingefallen. Ihre Mutter hatte sie zum Arzt gebracht, der eine Schwächung des linken Innenohres festgestellt hatte.

Fitzmaurice war hineingegangen und kam mit einem Glas Brandy zurück. »Wird Ihnen guttun.«

»Ich muss noch fahren.«

»Das Schlückchen macht Ihnen nichts.« Er setzte das Glas kurzerhand an Sarahs Mund, sie trank und schaute zu ihm hoch. Er hatte ein ehrliches Gesicht.

»Werden Sie tun, worum ich Sie gebeten habe?«

»Ich glaube nicht, dass es was bringt, aber ein bisschen telefonieren kann ich ja. Falls ich etwas hören sollte – wo erreiche ich Sie?«

Sarah hinterließ ihre Nummer und kehrte auf wackeligen Beinen zum Auto zurück. Auf der Heimfahrt versetzten das Erlebte und ihr leichter Schwips sie in eine sonderbar heitere Stimmung.