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4 In Gegenwart von Elaine Peck kam Sarah sich schlank und filigran vor. Elaine ähnelte einer Erdgöttin, rund und fest, dabei sehr weiblich, mit einem klugen Lächeln. Sie arbeitete von früh bis spät und war das Rückgrat des Vermietungsbetriebs. Ohne sie hätten Sarah und Russell Trelawn Manor nicht am Laufen halten können. Die dynamische Lady hatte manchmal Hilfe von einem Mann aus Rinsey, der den Garten pflegte, ansonsten bewirtschaftete sie das Anwesen allein.

Es war Sonnabend, Sarahs Kurztrip nach Berlin und Bibis Geburtstagsparty lagen erst einen Tag zurück. Heute wurden in Trelawn die Wohnungen Nummer 4 und 6 frei; der Übergabetag gestaltete sich jedes Mal als Kampf mit der Zeit. Die Gäste wurden zwar gebeten, die Ferienwohnungen um zehn Uhr morgens zu räumen, aber das klappte selten. Entweder die Kinder wollten noch einmal ans Meer, irgendein Requisit war unauffindbar, oder die Familie tat einfach so, als hätte sie die Hausordnung nicht gelesen.

Mit Elaine brauchten sie das gar nicht erst zu versuchen. Punkt zehn Uhr rollte der Staubsauger an, wurde der Müll aus der Tonne geholt, dabei spähte sie ungeniert durch die Fenster, um herauszufinden, wann mit dem Aufbruch zu rechnen sei. Die neuen Gäste würden bereits um fünfzehn Uhr anrücken, urlaubshungrig, neugierig auf die Landschaft und ihre schöne Ferienwohnung.

Den Gegebenheiten des Hauses entsprechend, hatte Sarah die einzelnen Apartments individuell gestaltet, doch in jedem war das Zentrum der offene Kamin. Zwar gaben die alten Feuerstellen kaum Wärme, trotzdem hatte jeder Urlauber das Gefühl, ein behagliches Heim zu betreten, wenn er den fireplace sah, in dem Elaine Späne und Holz vorbereitet hatte. Die Bäder von Trelawn Manor waren modern. Wo die traditionellen Böden zu retten gewesen waren, lief man auf grauem Schiefer, sonst auf Teppich. Auch wenn es vom Energieverbrauch her teurer kam, hatte Sarah sich von Russell überzeugen lassen, Elektroheizungen einzubauen; ein Knopfdruck, und es wurde warm.

Es ging auf Mittag zu, Zimmer Nummer 4 war bereits fertig. Bei Nummer 6 waren die Holländer so spät ausgezogen, dass Sarah Elaine zur Hand gehen musste. Sie tat es ungern. Nummer 6 war für sie so etwas wie das unheimliche Zimmer aus dem Märchen, in dem es spukte. Es weckte unangenehme Erinnerungen. Sie versuchte das Gespenst zu verjagen, indem sie Elaine von Bibis Geburtstagsparty erzählte.

»Die meisten aus Papas Bekanntenkreis sind seit dem letzten Mal älter, gebückter, irgendwie leiser geworden.«

Gemeinsam breiteten sie das Spannlaken über das Bett aus der Zeit Königin Victorias.

»Das war aber nur anfangs so. Ein paar Gläschen Rotwein, und die Stimmung taute auf. Bald ging es hoch her. Die junge Kellnerin vom Catering-Service hatte alle Mühe, sich die alten Herren vom Leib zu halten.«

»Und deine Mutter? Ist sie auf die Party gekommen?« Elaine war in die Details der Trennung von Sarahs Eltern eingeweiht.

»Ja, und Bibi benahm sich wie ein aufgeregter junger Liebhaber.« Nachdenklich bezog Sarah das Kissen. »Er begrüßte sie nicht als die Frau, mit der er Jahrzehnte zusammengelebt hatte, sondern als seine große Liebe. Es war zauberhaft und traurig zugleich. Sie hat ihren neuen Freund mitgebracht.«

»Den Italiener?«, schnaufte Elaine, die unter dem Bett nach Abfall stöberte.

»Mama und er verstehen sich blendend.«

»Ich könnte das nicht.« Sie kam hoch. »Zuschauen, wie meine Frau und ihr Neuer auf meiner Geburtstagsparty turteln. Das ist doch krank.« Elaine öffnete die Tür. »Du machst die Küche, ich das Bad?«

»Einverstanden.«

Jede der beiden verschwand in einem anderen Zimmer. Als Sarah allein war, atmete sie einmal tief durch. Sie hätte Nummer 6 am liebsten versiegelt und nie mehr betreten. In der schlimmsten Phase ihrer Ehe hatte Russell hier Trost gesucht und gefunden.

Damals, vor zwei Jahren, waren sie an einem Tiefpunkt gewesen. Er war genervt gewesen, weil ihre Sexübungen nach Terminplan etwas Entwürdigendes bekommen hatten. In den Tagen, die sie als ihre fruchtbaren errechnete, waren Fragen nach Lust oder Leidenschaft nicht von Bedeutung. Russell musste einfach mit ihr schlafen, ob er wollte oder nicht. Sarah versuchte das Verbissene an der Sache mit leckeren Essensrezepten, Alkohol und weiblichen Tricks zu überwinden. Manchmal brachen sie während ihrer unermüdlichen Bemühungen in Gelächter aus, zugleich veränderte sich etwas Entscheidendes zwischen ihnen. Durch ihre verkrampfte Jetzt-oder-nie-Haltung, dem Wunsch, endlich ein Kind zu bekommen, verlor Sarah Russells wahres Wesen aus den Augen. Er liebte sie aufrichtig und hatte sich fest vorgenommen, mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen, doch zugleich war Russell jemand, der Zwang nicht ertrug. Früh hatte er sich selbständig gemacht und war stets sein eigener Herr gewesen. Er hatte entschieden, wann sie aus London wegziehen und in Cornwall neu anfangen würden. Russell hielt gern die Zügel in der Hand. Als Zuchthengst auf Abruf taugte er nicht. Sarah spürte das, verschloss aber die Augen davor und beharrte darauf, dass sie es vor ihrem vierzigsten Geburtstag schaffen müssten.

Der Vierzigste kam und ging, und sie hatten es nicht geschafft. Bald darauf war eine aparte Frau aus Edinburgh mit ihrer vierjährigen Tochter in Nummer 6 eingezogen, Sarah hatte den Begrüßungsobstkorb für sie arrangiert. Miss Moynihan war Geschäftsfrau, arbeitete in Amsterdam und liebte es, ihren Urlaub in Südengland zu verbringen. Sie war Mitte dreißig, geschieden, selbstbewusst, ausgeglichen und sportlich. Es war für Sarah nicht neu, dass Russell attraktiven weiblichen Gästen Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Sie gönnte ihm seine Auftritte als englischer Landjunker. Wie vielen anderen Gästen zuvor zeigte er auch Miss Moynihan sein Schiff und fuhr mit ihr und ihrer Tochter aufs Meer. Die Geschäftsfrau hatte nur eine Woche gebucht, danach war sie abgereist.

In der Zeit darauf fiel Sarah auf, dass Russell ungewöhnlich oft SMS-Nachrichten verschickte. Es war nicht seine Art, ständig in das kleine Gerät zu tippen, er kommunizierte lieber per Telefon.

Auf seinen Trip nach Paris wäre Sarah gern mitgekommen, doch Russell versicherte ihr glaubhaft, kein Weib dürfe die Runde der alten Londoner Freunde stören. Sie hatte ihm lächelnd viel Vergnügen gewünscht.

Im Frühling darauf kam Miss Moynihan wieder, diesmal ohne Tochter. Es gebe keinen schöneren Fleck auf Erden als Trelawn, versicherte sie und zog verabredungsgemäß wieder in Nummer 6 ein. Sarah hatte nie beachtet, dass das Apartment vom Künstlerturm am weitesten entfernt lag; man konnte nicht sehen, wer in Nummer 6 ein und aus ging.

Russell und Miss Moynihan hatten sich zwei Wochen lang täglich getroffen, gestand er Sarah später. Im Apartment oder auf dem Schiff, im Freien, einmal fuhren sie sogar in ein Hotel nach Penzance. Sarah entging nicht, wie unruhig Russell während der Zeit war, wie übellaunig, doch nie hätte sie es der Anwesenheit dieser Frau zugeschrieben. Betrug war in ihrer Ehe bisher kein Thema gewesen. Russell hatte so vehement um Sarah geworben und sie, nachdem sie Ja gesagt hatte, so sehr auf Händen getragen, dass sie immer noch glaubte, sie sei für ihn der Inbegriff aller Frauen.

Hinter Sarahs Rücken wurde Miss Moynihan zu Russells Liebesgöttin. Nachdem sie abreiste, verfiel er regelrecht. Er hatte nie zu Grübeleien oder Eremitentum geneigt, doch von nun an zog er sich zurück, sagte, er müsse allein sein und über manches nachdenken, er brauche Freiraum. Größerer Freiraum als auf einem Gut wie Trelawn war kaum vorstellbar, Sarah verstand seinen plötzlichen Rückzug nicht.

Das Naheliegende erschien ihr als das Plausibelste: Russell steckte in der Midlifecrisis. Sie hatten seinen Fünfzigsten pompös begangen, und Sarah hatte geglaubt, er sei ein Mann, der diese Klippe mühelos umschiffen werde.

Nach Miss Moynihans Abreise nahm er in kürzester Zeit zehn Pfund ab und ließ sich einen Bart stehen. Er unternahm endlose Spaziergänge, ohne hinterher sagen zu können, wo er gewesen sei. Auf dem Höhepunkt der Krise zog er sogar vom Künstlerturm ins Kutscherhäuschen; er konnte Sarah nicht mehr in die Augen sehen.

Dann endlich rückte er damit heraus: Er habe sich verliebt. Für Sarah war es der berühmte Schlag aus heiterem Himmel. Russell gestand, dass es Miss Moynihan sei, dass sie sich in Paris getroffen hätten, gestand die wollüstige Zeit, die er mit ihr unter seinem eigenen Dach verbracht hatte. Und er gestand noch mehr: dass er sie wiedersehen müsse, er müsse einfach mit ihr zusammen sein, er könne nicht anders.

Nachdem Sarah den Wunsch nach Kindern insgeheim aufgegeben hatte, ohne mit Russell darüber zu sprechen – ihrer beider sexuelle Abstinenz sagte mehr als Worte –, sollte sie nun verkraften, mit Anfang vierzig sitzen gelassen zu werden.

Russell machte ernst und reiste ab; über das Danach hatten sie nicht gesprochen. Er hatte lediglich gesagt, dass er im Fall einer Scheidung großzügig sein würde. Sarah wusste, dass Russell nach Amsterdam fuhr. Sie stellte sich alles, was dort geschah, auf das Fürchterlichste vor und wurde fast wahnsinnig angesichts des Unbegreiflichen. Drei Tage später kehrte Russell zurück und kroch zu Kreuze. Miss Moynihan hatte ihn zurückgewiesen. Sie wolle eine gute Ehe nicht zerstören, hatte sie gesagt und Russell geraten, er solle in sich nach seinen Gefühlen für Sarah forschen, die er gewiss noch empfinde. Der Sex mit ihm sei prima gewesen, die Zeit in Trelawn aufregend, mehr konnte sich Miss Moynihan mit Russell aber nicht vorstellen. Zutiefst gedemütigt hatte er gefürchtet, dass Sarah ihn nicht mehr zurücknehmen würde. Er hatte ihr angeboten, ihm jede noch so ungewöhnliche Bedingung aufzuerlegen, wenn er nur nach Hause kommen dürfe.

Als Sarah nun mit verschränkten Armen in der Küche von Nummer 6 stand und sich diesen Moment vergegenwärtigte, fragte sie sich, warum sie ihm die Rückkehr so leicht gemacht hatte. Liebte sie ihn so sehr? Wahrscheinlich war sie einfach erleichtert gewesen, dass nicht alles zusammenbrach, was sie ihr Leben nannte. Ihr Leitspruch war ihr eingefallen: Trelawn ist mein Herz. Ich muss dort leben, wo mein Herz ist. Auch um des Hauses willen hatte sie gewollt, dass es weiterging. Sie hatte Russell ermöglicht, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen und mit ihr neu anzufangen. Wie tief verletzt, wie verunsichert sie war, hatte sie sich damals nicht eingestanden. Die Wunde war erst in der Zeit danach aufgebrochen, für Russell unsichtbar. Manchmal hatte sie seinen Anblick, seine Gegenwart nicht länger ertragen, dann war sie in ihren Wagen gestiegen und in die Hügel von Long Rock gefahren oder an die zerklüftete Küste der Halbinsel. Dort war sie gelaufen, gelaufen, bis sie so müde gewesen war, dass sie ihren Schmerz nicht mehr gespürt hatte. Es hatte nicht immer geholfen, doch wenn sie heimgekommen war, war ihr die Ehe mit Russell oft wieder folgerichtig erschienen, sie war froh gewesen, ihn zu haben.

»Du bist in der Küche ja noch kein bisschen weitergekommen«, sagte Elaine mit gespieltem Vorwurf.

»Sorry, Elaine. Ich habe über etwas nachgedacht.«

Ob Elaine die wahren Verhältnisse kannte? So gut wie nichts, was auf Trelawn geschah, blieb vor ihr verborgen. Hatte sie Russell vielleicht sogar beobachtet, als er mit Miss Moynihan in Nummer 6 das große Glück suchte?

»Jetzt muss ich mich beeilen«, sagte Sarah.

Elaine legte ihr die Hand auf den Arm. »Geh schon mal rüber, und fang zu kochen an; ich hab das hier in einer halben Stunde geschafft.«

»Danke, Elaine.«

Sie war froh, Nummer 6 wieder verlassen zu können.