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5 arah ließ das Autofenster herunter und genoss die schmeichelnde Luft. Im Dorf Praze-An-Beeble drosselte sie das Tempo – hinter der Kirche stand ein heimtückischer Blitzer. Die letzten Kilometer nach Camborne fuhr sie gemächlich.

Was für ein samtiger Frühling! Das hatte sie sofort an Cornwall geliebt: Durch den Golfstrom, der an Englands Küste vorbeizog, fielen die Winter mild aus, es erstarrte nicht alles wie in Berlin. Das Gras blieb das ganze Jahr über grün, der Frühling erwachte früher. Schon jetzt zogen sich knallgelbe Narzissenfelder durch die Landschaft, die Bougainvillea blühte, so wie viele andere Sträucher und Blumen, die Sarah in Trelawn Manor vorgefunden, und von denen sie noch eine Menge zusätzlich gepflanzt hatte. Nicht umsonst wurde die Gegend als Englische Riviera bezeichnet, und viele wohlsituierte Engländer ließen sich in dem schönen Landstrich nieder.

Sarah stellte den Wagen auf dem Krankenhausparkplatz ab. Am Empfang fragte sie nach der Zimmernummer von Billy Cormac. Bevor sie dort eintrat, befiel sie die unangenehme Erinnerung an die erste Begegnung mit Billys Mutter. Hätte sie die Eltern nicht vor ihrem Besuch verständigen sollen, statt überraschend aufzutauchen? Was, wenn John und Maureen gerade bei ihrem Sohn saßen? Sarah klopfte. Sie tat nichts Unerlaubtes, das Wohl dieses Jungen lag ihr am Herzen.

Billy hatte Stöpsel in den Ohren und guckte auf einen kleinen Bildschirm. Er bediente die Tastatur nur mit einer Hand, sein linker Arm war eingegipst. Selbst unter dem Schlafanzug fiel Sarah sein mächtiger Brustverband auf. Um den Kopf trug er eine weiße Binde, am Kinn war er genäht worden. Außer ihm war niemand im Zimmer.

»Hallo, ich bin Sarah.«

»Tag.« Er blickte kaum auf.

Sie schloss die Tür, ging auf die Seite des Bettes, auf der sein gesunder Arm lag, und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe mit deinem Dad telefoniert und erfahren, dass es dir wieder besser geht.«

Sarah wusste nicht recht, wie sie einem Achtjährigen erklären sollte, dass er von ihrem Wagen niedergestoßen und verletzt worden war. Sie wollte nicht mit der Erwähnung des furchtbaren Unfalls beginnen.

Er gab ihr die Hand, dann wandte er sich wieder seinem Spiel zu.

»War dein Vater heute schon hier?«

»Nein, aber Mama.«

»Was spielst du da?«

»Midgets.« Auf dem Bildschirm tauchten skurrile Zwerge auf, die ziemlich kriegerisch wirkten. Sarahs Geschenk für Billy war schwer zu verbergen; er hatte die Box schon erspäht.

»Was hast du da?«

»Im Krankenhaus zu liegen ist langweilig, dachte ich. Darum habe ich dir etwas mitgebracht.«

Sie packte es aus. »Das ist ein ProfiCube«, erklärte sie und spürte sofort, dass sie das Falsche ausgesucht hatte.

»Für einen Achtjährigen«, hatte Sarah im Spielzeugladen gesagt.

Die Verkäuferin hatte ihr verschiedene Computer-Games angeboten, ähnlich demjenigen, das Billy jetzt spielte. »Wie wär’s mit Lernspielzeug?«, hatte sie auf Sarahs Zögern vorgeschlagen.

Sarah hatte sich eingestanden, wie wenig Ahnung sie von Kindern und deren Wünschen hatte. Die Verkäuferin hatte lehrreiche Puzzles vorgestellt, Musikinstrumente, auch Kaleidoskope. Verwirrt hatte sich Sarah schließlich für dieses Ding entschieden, das ein Würfel und zugleich ein Puzzle war.

»Danke.« Billy musterte die bunte Oberfläche. Sein Desinteresse war nicht zu übersehen.

»Wollen wir es auspacken?«

»Mach du es.«

Sie ärgerte sich über ihre Gedankenlosigkeit: Wie sollte Billy mit einer Hand diesen vertrackten Würfel zusammenbauen? Sie holte die Spielteile aus der Verpackung. Als Motiv ergab sich eine Safari mit fantastischen Tieren.

»Man fängt mit diesem Teil an, siehst du, dann setzt man das dran, und immer so weiter.«

Ihr gefiel das Spiel, weil es Logik und Fantasie verband. Der Beruf der Archäologin setzte ähnliche Fähigkeiten voraus: Kombinationsgabe im Rahmen wissenschaftlicher Fakten. Die Archäologie war es gewesen, die Sarah nach England gebracht hatte, namentlich neolithische Funde an der Küste von Sussex. Auch die erste Begegnung mit Russell hatte mit ihrem Beruf zusammengehangen. Sosehr sie sich mit der Bewirtschaftung von Trelawn einen Traum erfüllt hatte, wünschte sich Sarah manchmal die stille Konzentration ihrer früheren Aufgabe zurück.

Mit dem ProfiCube konnte sie bei Billy nicht punkten. Sie war eine Fremde für ihn und schneite einfach in sein Zimmer herein. Hatte sie angenommen, sie würden gleich Freundschaft schließen? Durch ihren Besuch und das Geschenk wollte Sarah gutmachen, was nicht wiedergutzumachen war. Nun bekam sie die Quittung dafür.

»Ich bin in dem Auto gesessen, mit dem du den Unfall hattest.« Sie zog einen Stuhl heran. »Ich wollte dir sagen, dass es mir sehr leidtut, dass diese Sache passiert ist.«

Er sah sie zum ersten Mal richtig an. »Papa sagt, wir hätten beide besser aufpassen müssen.«

»Was wolltest du eigentlich auf der Straße? Du hättest am Strand viel schöner spielen können.«

»Ich wollte zu Gwydyon.«

»Wer ist Gwydyon?«

»Mein Bruder.«

»Ich dachte, du hättest bloß ein Schwesterchen. Heißt sie nicht Chloé?«

»Chloé ist jünger als ich«, antwortete er.

»Und dein Bruder?«

»Gwydyon ist tot.«

Sarah hatte sich gerade setzen wollen, nun sank sie langsam auf den Stuhl.

»Tot? Das hat mir John – dein Vater nicht gesagt.«

Sie überlegte, ob der Name Gwydyon möglicherweise aus dem Sagenreich stammte, oder sprach Billy von einer realen Person?

»Papa glaubt, dass Gwydyon wirklich tot ist«, sagte der Junge. »Aber er hat sich nur verwandelt.« Er nahm eins der Puzzleteile und steckte es geschickt mit einem anderen zusammen.

»Wann ist Gwydyon gestorben?«

Er tat, als interessiere er sich nur noch für den Würfel. »Ich habe euer Auto nicht kommen sehen. Gwydyon aber schon.«

»Wie meinst du das?«

»Er hat es mir gesagt.«

Sarah beugte sich zu ihm. »Moment mal. Du behauptest, du bist vom Strand hochgelaufen, weil du oben deinen Bruder gesehen hast?«

»Genau.«

»Wie sah er aus?«

Sarah hatte die Erfahrung gemacht, dass man trügerische Schlussfolgerungen am besten ausschaltete, wenn man möglichst viele Details kannte. Die Summe der Details ergab meistens die Wahrheit.

»Wie er immer aussieht«, antwortete Billy.

»Was hatte er an? Trug er Schuhe, war er barfuß?«

»Gwydyon kommt in Schwarz.«

»Vom Strand bis zur Straße ist es eine ziemliche Entfernung. Es hätte auch jemand anders dort stehen können.«

Eins der Teile wollte sich nicht einfügen, Billy versuchte es mit Gewalt.

»Warte. Ich helfe dir.«

»Das ist meins!«, rief er so laut, dass sie zurückzuckte.

»Ich wollte dir nur zeigen …«

Er beruhigte sich augenblicklich wieder und legte die Teile auf die Bettdecke.

»Was geschah, nachdem du Gwydyon erreicht hattest?«

»Er hat mir gesagt, dass gleich etwas passieren wird.«

»Wenn er es dir vorausgesagt hat, warum bist du dann nicht ausgewichen?«

Der Junge sah sie abwesend an, als ob er die Frage nicht verstanden hätte. Er ließ sich zurücksinken und schloss die Augen.

»Vielleicht erzählst du es mir ein andermal.«

»Kommst du wieder?«, fragte er müde, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Wie lange musst du im Krankenhaus bleiben?«

»Nicht hier. Komm zu uns.« Er sprach leise.

»Wo wohnt ihr?«

»Am Wasser.«

Sarah beobachtete, wie er einschlief. Sein Atem wurde regelmäßig, das Spielzeug entglitt seiner Hand. Sie hätte aufstehen und gehen können, doch sie blieb noch. Sie wusste wenig über kindliche Fantasien. War es normal, dass er sich den Unfall auf diese Weise erklärte? Vermischten sich Märchengeschichten und Realität? Sarah betrachtete das schlafende Gesicht. Hatte Billy wirklich einen Bruder gehabt, der gestorben war? Im Grunde ging sie das alles nichts an. Sie war eine Fremde, die Unfallgegnerin, sie hatte in der Familiengeschichte der Cormacs nicht zu schnüffeln.

Mit einem Seufzer stand Sarah auf. Gekommen war sie, um Billy eine Freude zu bereiten, sie ging, belastet mit einem Geheimnis. Sollte sie Russell davon erzählen? Für ihn war die Sache mit dem Unfall abgeschlossen. Dem Jungen ging es besser, Russell traf keine Schuld – wozu sich weiter Gedanken machen?

Sie sah auf die Uhr. Elaine war wahrscheinlich schon heimgefahren, das sollte sie jetzt auch tun. Am ersten Abend in der Ferienwohnung hatten neue Gäste oft Fragen, wie Dinge funktionierten, wo man Fahrräder leihen konnte und Ähnliches. Sie hätten bloß die Mappe aufzuschlagen brauchen, die Sarah zusammengestellt hatte, da stand alles drin. Meistens klingelten die Gäste aber bei ihr, manchmal bat sie sie zu einer Tasse Tee herein.

Sie verließ das Krankenzimmer und schloss die Tür so leise wie möglich. Auf der Heimfahrt sann sie über den merkwürdigen Namen nach. Gwydyon … Es klang keltisch.