KAPITEL 10
Ich sehe mein Gesicht. Von jeder dieser Scherben wird es deutlich reflektiert, doch dann verschwimmt das Bild auf einmal. Ich streiche mir über die Augen und die Sicht ist wieder klar. Warum habe ich das gemacht? Ich habe mich doch sonst unter Kontrolle, habe nie irgendetwas kaputt gemacht oder jemanden angeschrien, weil ich wütend, traurig oder verletzt war. Na ja, bis auf das eine Mal.
Wie an diesem Abend habe ich keine Ahnung mehr, was ich eigentlich getan habe, und sehe die Scherben vor mir wie diesen Typen, der sie küsste. Meine Hände zittern und das Blut rauscht in meinen Ohren.
Allein. Ich bin so richtig allein in dieser kleinen Wohnung, die unpersönlicher nicht sein könnte, auch wenn ich alle möglichen Bilder aufgehängt habe, die ich besitze. Ich schaue nach oben zur Decke, ziehe ein Knie hoch, schlucke, blinzle, atme. Es wird nicht besser. Ich kann so oft tief einatmen, wie ich will, es wird nie weggehen. Und sie ist nicht da, um mir zu helfen.
Vermissen ist etwas Scheußliches und etwas Wunderbares zugleich. Wunderbar ist es, weil ich dadurch das Loch in mir spüre, das das fehlende Puzzleteil sichtbar macht. Ich habe mir das nicht ausgedacht, es ist kein Traum, kein merkwürdiges Déjà-vu, keine Filmszene, keine Interpretation einer Songzeile, kein Kapitel in irgendeinem Buch, kein Gedichtvers und auch keine bloße, gestörte Einbildung. Es ist da und tut weh.
Ich lasse das Knie sinken und überlege, wie zur Hölle ich auf den Boden gekommen bin, wo ich mit dem Rücken gegen mein Bett lehne und mit den Fingern wie in Trance über den abgenutzten Teppich streiche. Meine Füße reichen bis zur hölzernen Kommode. Vor ihr steht normalerweise ein Stuhl, so ein klappriges Ding, das ich mir vom Sperrmüll geholt habe, und jetzt wundert es mich nicht mehr, dass man ihn dort abgestellt hatte.
In einem Anflug glühender Theatralik habe ich ihn gegen den Spiegel der Kommode geschleudert, wieder und wieder, bis ich nur noch ein hölzernes Bein in der Hand hielt. Ein paar der kleinen Scherben schnitten durch das dünne Gewebe meiner Socken in die Fußsohlen, als ich die Überreste zusammenklaubte und sie achtlos in die Ecke warf, doch ich merke die Wunden so gut wie gar nicht. Nur wenn ich wie jetzt meine Zehen bewege und dabei zusehe, wie sich das Blut den weißen Stoff entlangzieht, bekomme ich mit, dass es mir wehtun müsste.
Ich habe irgendwann mal eine Folge von Dr. House gesehen. Ich weiß nicht mehr, welche es war und wer was zu wem sagte, in welchem Ton, welcher Lautstärke oder in welchem Zimmer es stattfand. Nicht einmal, ob es überhaupt ein Gespräch war oder ein Monolog, aber darum geht es auch gar nicht. Im Endeffekt geht es nämlich um die Aussage, die in meinem Kopf hängen geblieben ist.
Es ging um das Bein von Dr. House. Dieser zynische Arzt schluckt Vicodin, wie kleine Kinder Smarties in sich reinschütten, weil ihm sein Bein so höllisch wehtut. Irgendwann, warum auch immer, wurde der Schmerz größer und ich weiß nicht mehr, wie er es tat, doch er fügte sich noch mehr Schmerzen zu, andere, die die im Bein überlagerten. Das war sein Ziel. Er wollte genau diesen Effekt erzeugen und ein neues, unerträgliches Pochen spüren, um das andere für eine Weile zu vergessen. Damit das Gehirn denkt, dass das Bein nicht das schlimmste Schmerzzentrum ist, und sich auf das andere konzentriert.
»Schau nach oben. Komm schon, sieh nach oben, oder du kannst die Sterne nicht sehen.«
»Welche Sterne, Mama? Die Vorhänge sind doch zu.«
»Dann steh auf. Gib mir deine Hand und wir sehen sie uns gemeinsam an. Du kannst sie nur dann sehen, wenn es dunkel ist.«
Ich zucke zusammen, als ich das Knarren der Tür vernehme. Der Wind. Es war nur der Wind, der sich klammheimlich seinen Weg ins Zimmer gebahnt hat und sie wie von Geisterhand bewegte, und ich muss mich dazu zwingen, meinen Kopf in die Realität zurückzureißen. Kurz dachte ich wirklich, sie kommt wie damals in mein Zimmer und sagt es noch einmal zu mir. Es ist schön, sie zu vermissen, ich wollte es nicht anders haben, wenn mir schon diese Situation gegeben ist. Sie zeigt mir, wie wichtig sie mir war und immer sein wird, selbst wenn ich sie nie wiedersehen werde. Und trotzdem komme ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich diese, ich nenne sie mal, »gute Seite« der ganzen Misere nicht so deutlich sehen kann wie die schreckliche. Denn es geht nie ganz weg. Ich habe das Gefühl, es geht in meinen Gedanken zurück, eine Etage tiefer in mein Unterbewusstsein, aber nur, um von dort aus mit einem Raketenstart wieder nach vorne zu düsen, sich in den Windungen meines Gehirns zu verfangen, nein, sich festzubeißen. Ein Monster, das seine Krallen ausfährt und sie hineinschlägt, kratzt und beißt und dessen einziges Ziel es ist, mich in den Wahnsinn zu treiben. Ist es das gewesen? Ist es so auch dir ergangen?
Ich schiebe mit dem Fuß eine der größeren übrig gebliebenen Scherben zu mir und hebe sie auf, betrachte mich im Spiegel und sehe in ihr Gesicht und das meines Vaters. Wie sehr muss man jemanden vermissen, um wahnsinnig zu werden? Ich meine nicht, dass man auf einmal Amok läuft, rumschreit oder wie ich einen Spiegel mit dem Stuhl zertrümmert. Wahnsinn ist für mich nichts, das vorübergeht, das kurz ausbricht und sich dann wieder beruhigt, wenn ein wenig Zeit vergangen ist. Nein, ich meine vielmehr, dass man sich seine eigene Welt konstruiert und dort niemand anderes als man selbst Platz hat. Ein eigenes Universum, zu klein für mehr als einen Menschen, bis es auch für diese einzelne Person zu eng wird und es droht, sie zu erdrücken.
Klar, man bezahlt bei der Frau an der Kasse, wechselt ein paar Worte mit einer Freundin am Telefon und vielleicht, ja vielleicht spielt man sogar eine Runde Mensch-ärgere-Dich-nicht mit dem Sohn, aber man ist genauso einsam, als wäre man alleine. Die Welt wird einem fremd, und obwohl man den Boden unter den Füßen spürt, hat man sich schon lange von allem verabschiedet und nur noch das Gefühl des Vermissens zeigt einem, dass man existiert. Nicht einmal die Liebe zu den eigenen Kindern kann das ändern. Wie sehr muss man jemanden vermissen, den man unendlich geliebt hat?
Hast du das getan, Mama? Ihn so sehr vermisst, dass du nicht mehr konntest?
»Justus, pass auf Leon auf, ich muss jetzt gehen.«
»Dein Ernst, Mama? Er ist doch kein Kind mehr. Der kann auf sich selbst aufpassen. Ich wollte zu Felix. Er hat ein neues Spiel und …«
»Du passt bitte auf deinen Bruder auf, hast du das verstanden?«
»Ja, ist gut. Meinetwegen.«
»Gut, okay. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
»Leon?«
»Ja, Ma?«
»Du hörst auf deinen Bruder.«
»Muss ich wirklich?«
»Leon!«
»Ist gut, ich mach’s ja.«
»Alles klar. Ich muss jetzt los. Ich verlasse mich auf euch. Und stellt ja nichts an.«
»Wir bemühen uns.«
»Ich liebe euch. Bis später.«
Wie lange ist »bis später«, Mama? Das habe ich dich nie gefragt. Ist das ein anderer Ausdruck für »Wir sehen uns nie wieder«?
Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt an der Tür hängen, die ich niemals schließe. Die Tür meines Zimmers war früher immer geschlossen und wehe jemand klopfte oder kam unangekündigt rein. Was immer ich tat, war meine Sache und dabei wollte ich auch bitte ungestört bleiben. Andauernd, so kam es mir vor, klopfte meine Mutter an und fragte: »Und wie war es in der Schule? Hast du am Wochenende was vor? Wie läuft es mit Annika? Seid ihr noch zusammen? Wie war die Klausur? Willst du nicht ein bisschen rausgehen? Was machst du gerade?«
Sehr oft schaute ich an die Decke, gab einsilbige Antworten oder gab ihr auf irgendeine andere Art und Weise zu verstehen, dass sie unerwünscht war. Und jedes Mal öffnete sie am nächsten Tag die Tür, lächelte mich an und stellte die gleichen Fragen.
Alles, was ich mir in diesem Moment wünsche, ist nichts anderes als das. Dass ihre knochigen Finger gegen das Holz schlagen, sie hereinkommt, mich anlächelt und ich sie noch ein einziges Mal sehen kann. Dass ich weiß, dass es das letzte Mal sein wird, und ich nicht an die Decke starre, sondern in ihr Gesicht, das ich viel zu selten wirklich ansah. Die flinken und wachen braunen Augen, die von Lachfältchen umrahmt waren, das kurze, braune Haar, die feinen Augenbrauen, die Nase, von der sie immer sagte, sie sei zu dick, obwohl sie genau passte, und stark hervortretende Wangenknochen, weil sie immer mehr abnahm, bevor sie starb.
Wie sehr muss man jemanden vermissen, dass man sich die Halsschlagader aufschneidet, um auf die schnellstmögliche Art zu sterben, weil man es keine Sekunde länger aushält? Ich habe es gegoogelt: Etwa zehn Sekunden war sie danach noch bei Bewusstsein, eher weniger. Wie lange dauert es zu fallen? Sie wollte sichergehen, machte den Schnitt, wurde bewusstlos und fiel von der Brücke. Die Autobahn war an diesem Tag wegen Bauarbeiten gesperrt gewesen.
Wenn es dir schlecht geht, musst du anderen damit nicht wehtun.
Sehr oft hat sie diesen Satz gesagt, wenn ich irgendetwas angestellt hatte, aber erst, als man mir erklärte, was passiert war, verstand ich ihn.
Ich ziehe mir die Socken aus und sehe mir die Wunden an. Einige sind etwas tiefer, andere bluten nicht einmal mehr. Ich stehe auf, gehe ins weiß geflieste Badezimmer und mache den Alibert auf, nehme Desinfektionsmittel und zwei Mullbinden heraus und setze mich auf den Toilettendeckel. Von der Klorolle, die daneben hängt, reiße ich mir ein paar Blatt ab und tränke sie mit der klaren Flüssigkeit, streiche damit über meine Füße und verbinde sie anschließend. Nichts, es tut kein bisschen weh.
Mein Vater muss als ein verdammt glücklicher Mann gestorben sein. Unsere Mutter hat uns nie gesagt, was passiert ist, wir wissen nur, dass er krank war.
Ich erinnere mich an einen Flur, der mit Neonröhren beleuchtet ist, und an eine weiße Tür, die sich öffnet. Das Gesicht meines Vaters ist verschwommen, er sagt etwas, aber ich verstehe es nicht, und dann werden wir, Justus und ich, aus dem Zimmer geschoben und unsere Mutter weint.
Ich sehe sie vor mir, das letzte Bild, das ich von ihr habe, als sie sagte: Ich muss jetzt gehen. Da hat sie nicht geweint. Sie hatte es überstanden.
Justus hatte eine feste Anstellung bekommen, ich war sechzehn, in ihren Augen erwachsen, und Justus hatte ihr gesagt, er würde auf mich aufpassen. Das tat er, bis ich alt genug war, mir meine eigene Wohnung zu mieten, die ich von den Zinsen des Nachlasses bezahle. Ich könnte mir Besseres leisten, aber es macht mich nicht glücklich.
Das habe ich gemerkt, als die Polizei bei uns klingelte und auf den Treppen zu unserem Haus am Schlosspark in Bergedorf stand.
In der Nacht lag ich weinend im Bett und starrte in die Dunkelheit, ohne die Lichter zu sehen, von denen sie immer sprach, und mit der stetig lauter werdenden Stimme in meinem Kopf: Ich muss jetzt gehen!
»Justus! JUSTUS!«, rief ich und schluchzte und er kam keine zehn Sekunden später ins Zimmer gestürmt.
»Leon! Was ist los? Ich bin hier!«
»Hol Mama, es ist was passiert! HOL SIE, SCHNELL!«
Und dann legte er sich zu mir, er und nicht meine Mutter, und hielt mich fest. Nie standen wir uns so nahe wie in diesem Moment, unsere Narben griffen perfekt ineinander.
Niemand kann die eigenen Eltern ersetzen. Es ist eine Liebe, die du nicht erzeugen kannst. Sie ist einfach da und du erinnerst dich an keine Sekunde, in der du sie dir ernsthaft weggewünscht hättest. Du kannst sie nicht löschen, unmöglich.
Ich stehe auf, verlasse das Bad und gehe zurück in mein Zimmer, wo ich mit meinen Narben alleine bin, den alten und den neuen, die ich von Viola habe.
Ich stoße die Tür auf und habe die Augen auf einmal geschlossen, gehe rückwärts hinein, weil ich mein Mädchen küsse und sie mit mir ins Schlafzimmer ziehe. Ich schließe die Tür zum ersten Mal seit Jahren. Dort überall lag sie, unsere Kleidung, wo jetzt die Überreste des zersplitterten Stuhls verteilt sind. Ihre Bluse, die Jeans, die auf links gedrehten Strümpfe, ihr Top, ihr BH, ihr Slip. Und da lag mein Pullover, mein Hemd, meine Hose, die Socken, meine Boxershorts. Wo lagen unsere Schuhe? Sie zog ihre als Erstes aus, ich weiß es genau, aber wo lagen ihre Schuhe? Und was ist mit meinen? Ich weiß, wie ich ihr alles auszog, damit sie näher bei mir sein konnte, damit uns nichts trennte, kein Stoff, keine Luft, nichts, das irgendwie vermeidbar wäre. Ich berührte sie überall, war endlich eins mit ihr und wollte die beste Version von mir sein; für sie, für uns. Der Wunsch war immer da, jemand zu werden, auf den ich irgendwann zurückblicken kann, um dann zu sagen: Damals habe ich angefangen der Mann zu sein, der ich heute bin. Und an diesem Abend, dachte ich, passierte es. Ich sah eine Seite von mir, die tot zu sein schien, wie es meine Mutter und mein Vater sind, aber da merkte ich, dass noch Leben in mir steckte.
Ich bin kein Idiot. Ich vögel sie nicht, lege sie nicht flach, erzähle keinem meiner Freunde von meiner neuen Eroberung oder dass ich die Schlampe endlich genagelt habe. Nein, kein Spruch dergleichen, der ihren Wert in irgendeiner Weise mindert, nicht in einer Million Jahren würde mir einfallen, eine dieser Äußerungen ehrlich zu gebrauchen und sie auf diese Art zu erniedrigen. Ich bin aufrichtig und mit ganzem Herzen dabei, und nun liegt genau dieses Herz in ihren Händen und davon weiß sie nichts. Sie kann nicht einmal die Wahl treffen, ob sie es haben will oder nicht, dazu müsste sie mir erst einmal glauben, dass ich kein egoistischer Mistkerl bin.
Ich lerne sie kennen, verliebe mich, warte ab und dann ist die Sekunde gekommen, ihr all das zu zeigen. Ich habe es richtig gemacht. Doch dann sagt sie, ich sei wie alle anderen. Sie löscht sich einfach so aus meinem Leben, den einzigen Menschen, den ich wirklich liebe. Auch wenn sie das Loch in mir nicht gegraben hat, so hat sie sich damit doch eine Schaufel genommen, um mich der Hölle noch ein Stückchen näher zu bringen. Ich hielt das nicht für möglich, nicht bei ihr, mit der ich mich so leicht fühlte.
Du sagtest, genau wie meine Ma, dass du mich liebst. Liegt es an mir? Bin ich der Grund? Heißt es, dass wenn man mich liebt, man sich aus meinem Leben löschen muss?
Ich hebe die Scherbe auf, die ich auf dem Boden liegen gelassen habe, als ich ins Badezimmer ging, und schneide mit einem Ruck durch meine linke Handfläche. Scharf ziehe ich die Luft ein und nehme den Schmerz wahr, doch viel zu schnell wird er zu einem dumpfen Pochen, kaum der Rede wert. Blut sickert aus der Wunde und ich muss gegen meinen Willen grinsen. Achtlos werfe ich die Scherbe auf die Bettdecke.
Warum verlasst ihr mich? Ertragt ihr es nicht? Ertragt ihr mich nicht?
Das Blut tropft aus meiner Hand auf den Boden, versinkt in den Fasern des Teppichs und färbt sie rot. Wie viel Blut muss ein Mensch verlieren, damit er stirbt? Keines, es reicht, wenn er sein Herz verliert.
Ich gehe in die Küche und hole Handfeger und Schaufel aus dem Fach unter dem Spülbecken. Ich fege die Scherben auf und passe auf, dass ich mich nicht erneut schneide. Dann hole ich den Staubsauger aus dem Nebenzimmer, das eigentlich als zweites WG-Zimmer gedacht ist, aber ich zahle mehr Miete, damit ich die Wohnung für mich alleine haben kann. Ich sauge in allen Zimmern, hole Handschuhe und einen Eimer, den ich mit Wasser und Spülmittel fülle, und mache so gründlich sauber wie lange nicht mehr.
Immer die gleiche Prozedur nach diesen Tagen, die gleichen Gedanken, die gleichen Handlungen. Ich achte nicht auf die Zeit; wenn die Sonne untergeht, weiß ich, dass es spät genug ist, um ins Bett zu gehen und den Tag bis zum siebten März nächsten Jahres zu vergessen.
Als es dämmert, bin ich fertig, werfe die Handschuhe zu dem auseinandergenommenen Stuhl in die Ecke und muss, als ich auf meinem Bett sitze, feststellen, dass nicht alles so ist, wie die letzten vier Jahre. Ich ertrage mehr. Ich merke ganz deutlich, dass ich sie alle noch nie so sehr vermisst habe. Ich habe sie nacheinander verloren, vermisse sie aber alle gleichzeitig, und das ist eine bittersüße Tragödie, deren Skript ich niemals umschreiben würde. Das zeigt mir nur, wie unersetzlich sie waren, jeder Einzelne. Und da dort dieses eine leise Pochen in mir ist, das ich endlich wieder spüren kann, dessen Puls ich in meiner aufgeschnittenen Hand fühle, begreife ich langsam, dass es falsch ist, dass ich etwas unternehmen muss. Viola ist nicht tot. Digital hat sie sich gelöscht, aber ich habe sie schon einmal gefunden, vielleicht schaffe ich es wieder? Aber was soll ich mir dann anhören? Noch mal, dass ich wie jeder andere bin?
»Sei nett zu denen, die dir etwas bedeuten, und tu ihnen nicht weh.«
»Ja, ich hab’s ja verstanden. Kannst du jetzt bitte gehen?«
Neben meiner Hand liegt nach wie vor glänzend und mit meinem angetrockneten Blut ein verlorenes Überbleibsel des Spiegels. Die Scherbe, die ich mir am liebsten in den Kopf rammen will, wenn es denn helfen würde. Und das alles nur, weil ich einer von den Guten bin, wie meine Mutter es wollte. Alles für ein Mädchen, das mich trotzdem nicht als solchen ansieht. Ich erinnere mich an den Kuss, als ich nicht anders konnte, als sie einfach zu küssen und zu mir zu ziehen, als mir die Lagen an Kleidung zwischen uns zu viel Abstand waren. Ich liebe ihre Lippen, ihr Haar, das mich verrückt macht, die kleinen, weißen, schlanken Finger, die Wärme ihres Körpers, wie wunderbar jeder Kuss schmeckte und wie sie sich mir dann entriss. Wenn man der Gute ist, glaubt es einem niemand, und wenn man der Böse ist, ist man wie alle anderen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, ich kann nur scheitern. Das Einzige, auf das ich wirklich Einfluss habe, ist, wie ich diesen Schmerz betäube und meinen Kopf aus der Schlinge ziehe, die mir ansonsten die Kehle zuschnüren wird. Ich überlege und mein Kopf tut weh.
Dann klingelt mein Handy.