KAPITEL 18

Er

Ich liege auf meiner weichen Matratze und denke an sie. Was ist in den letzten Tagen nicht alles passiert?

Finn brachte mich gestern nach Hause und wollte noch mit mir reden. Fragen über Fragen, auf die ich keine Lust hatte.

Er ließ mich mit Viola in Ruhe, wahrscheinlich hatte er auch ohne Worte verstanden, dass ich noch nicht in der Lage war, darüber zu reden. Ich war nicht in der Lage, über irgendwas zu reden. Etwas ist bei mir, bei uns, gründlich schiefgelaufen und ich denke nicht, dass es nur einen Grund dafür gibt. Es ist eine Kette, jedes Glied greift in das nächste und am Ende legen wir sie uns selbst um den Hals.

Stattdessen klärte er mich über den Abend auf, als ich ihn einfach bei mir zu Hause stehen ließ, weswegen ich mich immer noch mies fühle. Ich konnte gar nicht glauben, was er mir alles erzählte. Zuerst klärte er mich darüber auf, wie ich nach Hause gekommen war. Irgendjemand, vielleicht sogar ich selber, was ich für eher unwahrscheinlich halte, weil ich dazu bestimmt nicht mehr in der Lage war, antwortete auf eine Nachricht von ihm, wo ich sei, die auf meinem Handy angezeigt worden war, und bat darum, mich abzuholen. Er kam zur Reeperbahn, zog mich aus einem der zahlreichen Schuppen heraus, nahm mir die Schlüssel ab und brachte mich nach Hause.

Ob ich irgendetwas Schlimmes gemacht hätte? Nein. Er habe mich nicht aus den Armen irgendeiner Tussi gerissen, aber ich hätte nach Alkohol und Zigaretten gestunken und fast in mein eigenes Auto gekotzt, das er noch zusammen mit mir holte, weil ich einfach nicht lockerlassen wollte.

Nachdem wir zu Hause angekommen waren, zog er mich aus und hievte mich in die Wanne, um mich immerhin ein bisschen sauber zu bekommen und den Gestank wegzuwaschen. Daher auch die Ordnung in meinem Zimmer. Der Gestank war mir gar nicht aufgefallen, aber erstens schätze ich, dass er ohnehin überwiegend aus meinem Mund kam, und zweitens hat Finn meine Klamotten bestimmt mit Deo eingesprüht, so wie er es immer mit seinen Sportsachen tut, damit seine Sporttasche nicht nach Schweiß riecht. Er habe mir dann in mein Zimmer geholfen, mich aufs Bett gewuchtet und zugedeckt und mich dann alleine gelassen.

Es ist nichts Neues, jedes Jahr um diese Zeit drehe ich durch und ich erinnere mich kaum noch an einen einzigen dieser Abende, so gut bin ich im Verdrängen geworden. Ich weiß nur, dass Finn immer da war. Wie hält er das aus? Und jetzt, wo ich noch mehr durchdrehe als sonst, wie kann er das ertragen? Ich bin so ein Idiot, schlechtester bester Freund des Jahres, vier Jahre in Folge.

Jetzt liege ich auf meinem Bett, starre zur Decke, wechsle zum Fenster und bleibe für einen kurzen Augenblick an dem Rahmen hängen, in dem sich einmal ein Spiegel befand.

Es ist aus, oder? Bitte pass gut auf dich auf. Kam das wirklich aus meinem Mund? Ja, so ist es wohl.

Es ist mir ein Rätsel, wie Liebe funktioniert. Ich habe das Gefühl, dass ich nichts über sie weiß.

Sie wohnt nicht da, wo sie uns die Tür aufschloss, eine Wohnung in Winterhude. Nahezu jeden Tag hatten wir Kontakt, sie machte mir sogar Vorwürfe, wenn ich mich nicht meldete, spielerisch, neckisch, aber dennoch Vorwürfe, die man, das weiß man, immerhin ein bisschen ernst nehmen sollte. Dann geht sie auf einmal? Es passte nicht zu ihr. Sie ist wechselhaft, impulsiv, ein Dickkopf, überstürzt Dinge und liebt leidenschaftlich. Und dann erfahre ich, dass dieses Puzzleteil in einen ganz anderen Kontext gehört, und frage mich, mit wem ich die ganze Zeit über zusammen war. Auf einmal hat sich diese Flucht aus meiner Wohnung so gut eingefügt und es wundert mich, wie sie es überhaupt überlebt hat, so erniedrigt zu werden.

Mit Jonas hat alles angefangen. Diese grauenhafte Geschichte habe ich Wort für Wort in meinem Kopf abgespeichert. Wie er seine Freundin, wie er Vio beschrieb und was er mit ihr gemacht hat und es jagt weiter Kugeln durch den Fetzen, der einmal mein Herz gewesen ist.

Ich habe eine gefühlte Ewigkeit gewartet. Ein Warten darauf, dass ich sie wiedersehe, auf eine Antwort, darauf, dass etwas passiert. Und im Endeffekt stehe ich jetzt da und habe nichts. Offenbar kenne ich sie wirklich überhaupt nicht.

Immer wieder balle ich meine Hände zu Fäusten, strecke sie, dann wieder Fäuste. Meine Hände, die alles von ihr so genau kennen. Ihr Gesicht, ihre Lippen, ihren Körper und ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie jeder einzelne Finger über ihre Haut strich. Ich drückte sie enger an mich und wollte nie wieder von ihr getrennt sein. Was war das? Ich weiß, was ich fühlte, weiß, dass es richtig war, das zu fühlen, aber ich erkenne sie nicht mehr. Auf einmal sehen wir uns wieder und alles ist anders. Und es ist hart, sie so zu sehen und nicht zu wissen, was in ihr vorgeht.

Ich freute mich, wie man sich nach einem langen Winter auf die ersten Sonnenstrahlen freut, jedes Mal, wenn ich sie wiedersah. Sie war mein kleines Licht, das ich wie ein Glühwürmchen behandelte, nicht drauftreten, es bewundern, es beschützen. Ich habe gewartet und gehofft, dass es sich lohnt, auch wenn das wie Berechnung klingt. Ich wollte, dass irgendwann was aus uns wird, küsste sie das eine Mal, als sie mit David Schluss gemacht hatte und ich nach dem Besuch auf dem Friedhof von der Einsamkeit überrollt wurde. Sie blockte ab, ich nahm die Schuld auf mich und handelte damit so, wie mein Glühwürmchen es wollte, obwohl ich mich mehr nach ihr sehnte als je zuvor und ihre Nähe brauchte. Es war, als würde ich auseinanderfallen, wenn ich sie nicht mehr berührte. Ich wollte das Licht in dem ausweglosen Tunnel in meinem Kopf nicht ausgehen sehen und dachte nicht wirklich darüber nach. Vielleicht, weil ich irgendwo in ihren Augen gelesen hatte, dass sie gerade genauso große Schmerzen auszuhalten hatte wie ich.

Ich hätte besser hinsehen und es erkennen sollen, es benennen. Möglicherweise hätte ich dann verstanden, dass ich das Licht nur sehen konnte, weil sie mir den Rücken zudrehte und mir den größten Schmerz ihrer Seele verheimlichte.

Ich folgte diesem kleinen Schein, der mich entflammte, und als ich dachte, dass wir zusammen brennen, entzog sie mir den Sauerstoff. Vielleicht ist es doch besser, wenn es aus ist und wir uns nicht mehr sehen. Vielleicht.

Ich drehe mich im Kreis, hänge ihr Foto an eine Wand und habe vor, ihm den Rücken zuzukehren, bis es vergilbt ist und ich in Erinnerungen schwelgend wieder einen Blick darauf werfen kann. Doch ich schaffe es nicht ganz, mich umzudrehen, bin viel zu schnell zurück an dieser Wand und reiße das Foto los. Auf einmal ist es keine Farbaufnahme mehr, es ist plötzlich schwarz-weiß wie der Mensch, den ich (nicht) kenne, und es gibt die Farben nur noch in meiner Erinnerung. Wenig später beginnt dasselbe Spiel wieder von vorne.

Draußen ist es dunkel, doch ich bin nicht müde. Wie spät es wohl ist? Doch das ist unwichtig. Es ist Samstag, ich war heute in der Bib, habe hier zu Hause über meinen Büchern gesessen und mein Soll für den Tag erfüllt, sodass ich jetzt hier liegen kann und nachdenken darf. Deswegen kann es mir egal sein, wie spät es ist.

Finn sagte, er sei immer für mich da und ich könne ihn anrufen, wenn ich ihn brauche, doch ich tue es nicht und halte mich von ihm, oder ihn von mir, fern. Ich weiß, dass er meint, was er sagt, nur habe ich keine Ahnung, was er tun kann. Die Zeit zurückdrehen kann er nicht und weder ihr noch mir diese Schmerzen nehmen.

O Gott, ich gehe verloren in der ganzen Sache. Wie viel Zeit ist vergangen, seitdem ich hier liege? Ich kann es nicht einschätzen und habe mich in diesem Geflecht verheddert. Ich will sie – oder nicht? Und wie soll ich ihr wieder nahekommen, wenn das doch unmöglich ist? Ich drehe mich zur Wand, hänge das Bild auf, reiße es runter und immer so weiter. Wie komme ich da nur raus?

Das Licht der Mondsichel erhellt das Zimmer, ich sehe den leeren Rahmen des Spiegels und vermisse sie, liebe sie und bin verwirrt. Was denkt sie? Warum ist sie nicht bei mir? War es richtig zu sagen, dass es zwischen uns aus ist? Ich habe nicht mit ihr Schluss gemacht, sondern nur mit der Ungewissheit. Hätte ich ihr das sagen sollen? Dass ich sie, jetzt, wo ich alles weiß, trotzdem noch will?

Und hatte ich das nicht schon? Ist mir nicht genau dieser Gedanke schon etliche Male durch meinen Kopf gejagt? Ich stelle mir die Frage, wann er den Ausgang endlich findet, den Irrgarten durchquert und das Ziel erreicht, sodass mir ein Licht auf- oder eben ausgeht, weil sie sich endlich umgedreht hat. Es muss doch einen Ausweg geben, warum sonst liege ich hier in der Dunkelheit und zerbreche mir den Kopf darüber? Und das alles fing nur mit dieser anfänglich so harmlosen Nacht an, in der ich scheinbar endlich bekam, was ich wollte! Ich kann einfach nicht glauben, dass all die Küsse, jede Berührung, der Duft ihres Haars, ihre kleinen Hände auf meinem Rücken, die Fingerspitzen, die sich an meine Haut schmiegten, ihr gehauchtes »Ich liebe dich«, jede kleinste Bewegung, die wir zusammen taten … Ich will nicht glauben, dass das das Ende von uns war. Ein sehr übel gelaufener Start, ja, aber kein Ende.

Sie arbeitet mit Finn zusammen, jetzt kann sie mir nicht mehr entgleiten und ich nehme das als Zeichen, dass es weitergehen wird. Wenn meine Wut verraucht ist, mein Kopf klar und ich weiß, dass ich jede Version ihrer Geschichte hören, ertragen und verstehen kann, dann werde ich sie sehen und sie mit allem beschützen, was ich habe. Diese Aussicht ist so wohltuend, dass ich für einen kurzen Moment vergesse, dass ich ihre Finger nie wieder auf meinem Rücken spüren werde.

Ich drehe mich zur Seite, erblicke die offen stehende Tür und sehe, wie du durch sie hindurch verschwindest. Es ist Wochen her, ich habe die Bettwäsche gewechselt und etliche Male geduscht, aber ich nehme es ganz deutlich wahr, dass du hier warst. Auf einmal sehe ich uns, wie wir uns in diesen Laken wälzen, ich über dir, in dir, und gehöre ganz und gar dir. Ich spüre dich, du spürst mich und wir sehen uns in die Augen, wissen, dass es richtig ist, dass wir dasselbe fühlen. Ich küsse dich, du erwiderst es und führst mit deinen Händen diesen Tanz auf meinem Rücken auf, den ich ewig auswendig kennen werde. Deine Küsse machten mich vom ersten Augenblick an süchtig. Sogar als ich sie noch nicht schmeckte, sondern sie nur in meiner bloßen Vorstellung existierten. Der zarte Geruch deines Haars ist meine Droge. Ich liebe dich und kann mich nicht wehren. Ich liebe dich, selbst wenn es mich zerfrisst. Selbst die Hölle, durch die wir seitdem gegangen sind, kann daran nichts ändern.

Damit lande ich wieder in der Wirklichkeit und stelle fest, dass ich alleine im Bett liege und die Tür nicht geschlossen ist.

Es ist knapp sieben Wochen her, Dinge haben sich geändert, das Zimmer ist anders als in der Nacht, als sie hier war, doch ich habe das gleiche Gefühl, den gleichen Duft in meiner Nase und das gleiche pochende Herz in meiner Brust wie in dem Moment, als ich feststellte, dass sie fort war. Hoffnungslos bewege ich mich in diesem Teufelskreis.

Ich habe mich dem Bild zugewandt und es heruntergerissen, erkenne schon wieder, dass es plötzlich schwarz-weiß ist, und während ich noch in der Erinnerung schwelge, die es eigentlich gar nicht gibt, reiße ich mir einen neuen Streifen Tesafilm ab, um es der Wand zurückzugeben. Auf einmal wird das Foto farbig und die Person darauf entwickelt sich zu dem Mädchen zurück, das ich nicht kenne, und ich versuche, mich von ihr wegzudrehen. Vergeblich.

Meine Augen sind nach wie vor auf die offene Tür gerichtet, durch die sie verschwunden ist. Soll ich ihr hinterher oder nicht? Und während ich mich das frage, höre ich das Fauchen des wütendes Tieres, das mich durch die Hölle jagt und sich schon für die nächste Runde bereit macht. Vollkommen ruhig streiche ich durch sein Fell und warte nur darauf, dass es losgeht.

Ich weiß genau, dass ich es tun musste, meine Entscheidung richtig war und wir nicht zusammen sein sollten, aber es dauert länger als nur eine Nacht, das zu akzeptieren. Bis dahin sehe ich dabei zu, wie sich die Sanduhr meiner Gedanken ununterbrochen dreht, und muss ertragen, dass sich die Hoffnung in regelmäßigen Abständen zurück in meinen Kopf schleicht. Es tut weh, weil ich weiß, dass wir rein gar nichts ändern können, um es besser zu machen.

Immer noch liege ich auf meiner Matratze und denke an sie. Was ist in den letzten Tagen nicht alles passiert?