1.
Dies ist mein Versuch aufzuzeichnen, was ich in jener eigenartigen Weihnachtsnacht erlebt habe. Wir schrieben damals das dritte Weihnachten im Zweiten Weltkrieg.* Die Zeit vergeht, und die Tage und Nächte, die auf diesen Weihnachtsabend folgten, brachten noch viel Leid und Elend über uns. Dennoch blieb mir die Erinnerung an diese Begegnung im Herzen und im Bewusstsein lebendig. Die Nachrichten, die von der Zerstörung ganzer Städte kündeten, der Zweifel und die Beklemmung, die zu dieser Zeit vielen Menschen das Herz mit Sorge um die Zukunft füllten, all das viele Unglück von übermenschlichem Ausmaß war nicht grausam und wirkungsvoll genug, um in meinem Bewusstsein die Erinnerung an diese Begegnung auszulöschen. Was ich erfuhr, offenbarte nicht das Schicksal von Völkern und Erdteilen, sondern nur das eines einzelnen Menschen. Aber die Macht des Schicksals kann einen einzelnen Menschen genauso treffen wie ein ganzes Volk.
Natürlich war es der Zufall, der diese weihnachtliche Begegnung arrangierte, wie alle wesentlichen und überraschenden menschlichen Situationen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass im Winter, wenn das Badeörtchen verlassen ist, in einer billigen Pension im Jagdhausstil ohne jeglichen zeitgenössischen Komfort, Z. mein Zimmernachbar sein würde. Der berühmte Z., der große Musiker, der noch wenige Jahre zuvor in den Konzertsälen der Weltstädte von einem internationalen Publikum gefeiert worden war. Unsere Begegnung erschütterte mich zutiefst, denn der Mann, der in dem aus rohem Kiefernholz gezimmerten Speiseraum der kleinen Pension im siebenbürgischen Hochgebirge vor mich trat, war nur noch ein Schatten des berühmten Mannes, dessen Name noch vor nicht allzu langer Zeit einer der ersten in der Welt der Musik war. Als lebendiger Beweis für die Vergänglichkeit von Ruhm und Ehre hätte mich seine Erscheinung betroffen gemacht, wenn Z.s Art und Benehmen mich nicht im Augenblick unserer Begegnung davon überzeugt hätten, dass dieser Mann sein schweres Schicksal nicht nur mit großer Geisteskraft, sondern auch mit Ruhe und Heiterkeit trug. Das Unglück hatte ihn weder verletzt noch erniedrigt oder gebrochen. Er war ruhig geblieben, und dieser Ruhe fehlte jeglicher Trotz; er spielte nicht den gekränkten Coriolan, den barbarische Kräfte aus seiner wahren Heimat, der geheimnisvollen Provinz der Musik, vertrieben hatten. Diese sonderbare Ruhe spiegelte sich in seinem Blick wie der sanfte Strahl eines inneren Lichtes. Im ersten Augenblick des Wiedersehens schlug er – mit dem Instinkt des Musikers – einen Ton an, der mich beruhigte und mir sagte, dass ich hier einem Mann gegenüberstand, der sich seines Schicksals vollkommen bewusst war und es trug, ohne aufzubegehren, und dass mich nichts dazu berechtigte, ihn zu bemitleiden. Die ruhige Würde seines Wesens, seine sanfte und ernste Menschlichkeit beruhigten und zwangen mich zugleich zu einer unwillkürlichen Zurückhaltung. Ich spürte, dass ich seine Einsamkeit und sein bescheidenes Verhalten, das jede Anteilnahme zurückwies, achten musste, dass ich nicht das Recht hatte, sein seelisches Gleichgewicht zu stören, indem ich ihn aus Höflichkeit bedauerte.
All das spürte ich bereits im Augenblick unserer Begegnung – aber in meiner Erinnerung wurde mein Taktgefühl in den folgenden Tagen hart auf die Probe gestellt. Die Bergpension bot dazu hervorragend Gelegenheit: Morgens, mittags und abends trafen wir uns in dem einzigen Gemeinschaftsraum, dem tannenduftenden Speisezimmer, am Bauernofen, wo sich die wenigen Gäste im nicht gerade blendenden Lichtkegel der Petroleumlampe um den runden Tisch einfanden, um mit Lesen, Kartenspielen, Gesprächen und Quälen des batteriebetriebenen Radios die Zeit totzuschlagen. Denn die sonderbare Größe Zeit erwies sich hier auf dem Gipfel des Berges als gefährlicher Gegner: Seit Tagen ging ein starker Schneeregen nieder, und jetzt, Mitte Dezember, hatte in den Bergen die Schneeschmelze eingesetzt, und mächtige, schmutzig graue Schneelawinen rollten ins Tal. An einen Spaziergang war nicht zu denken. Aus dem Dorf, das am Bach des Tales errichtet und noch mehrere Stunden Fahrt von der nächsten Bahnstation entfernt war, erklomm jeden Mittag ein belustigend zotteliges, gedrungenes Pferdchen mit Wagen, geführt von einem verschlafenen rumänischen Hirten, den rutschigen, lebensgefährlichen Weg und brachte die Post, das Fleisch und alles, was in der Speisekammer der Pension gerade fehlte. Der nasse Nebel bedeckte die Berggipfel wie eine erstickende Rauchwolke nach einer Feuersbrunst oder einem Bombenangriff die Wolkenkratzer einer Großstadt. In den Zimmern hatte sich die Nässe eingenistet, die Bettwäsche, die Handtücher, ja die Kleidungsstücke in den Schränken hatten den schmutzigen Nebel in sich aufgesaugt – die Gäste flohen schon in den frühen Morgenstunden aus ihren engen und unbequemen Stuben, in denen sie nur die allernötigste Zeit verbrachten: bei Kerzenlicht im Finstern arbeitend, auf klammen Betten bibbernd, in blechernen Eimern sich waschend. Durch Berg und Tal brauste ein warmer Wind, der Schirokko. Das Thermometer zeigte um die Mittagszeit manchmal acht Grad plus – ein aberwitziges Wetter hier in den Bergen, im Dezember! All das, was wir, die in der kleinen Gebirgspension gestrandet waren, uns vorgestellt hatten, als wir uns aus unseren städtischen Behausungen auf den Weg gemacht hatten – eisig funkelnde Gipfel im kalten Sonnenschein, Ultraviolettstrahlung auf verschneiten Feldern, prächtige Spaziergänge im knirschenden Schnee in tausendfünfhundert Meter Höhe unter duftenden, mit Schnee gezuckerten Weihnachtsbäumen in dichten Nadelwäldern, und dann friedliche und ruhige Abendstunden im Gesellschaftsraum der Pension, dessen vertraute Einsamkeit das Foto im Reisebüro so verführerisch darbot! –, all das erwies sich in Wirklichkeit als nervenzermürbende, erbärmliche und ungesunde Zeitverschwendung. Die Arbeit, die ich mir mitgebracht hatte, ruhte am Boden meines Koffers, denn weder in meinem Zimmer, das einer Zuchthauszelle ähnelte, noch in dem Gesellschafts- und Speiseraum konnte ich in Ruhe meine Aufzeichnungen ausbreiten. Den größten Teil der Bücher, eingepackt als geistiger Proviant, hatte ich in den ersten vier Tagen dieses erzwungenen Stubenarrestes verzehrt, und wie Noahs Reisegefährten in der Arche drängten wir uns nun von früh bis spät in dem warmen, stickigen, vom Menschen- und Speisengeruch dunstigen Gesellschaftsraum, aßen vor Langeweile überflüssig viel und spülten die fettigen Speisen mit einem sauren, kratzenden Wein hinunter. Zu den Bewohnern der Arche gehörten natürlich auch vierbeinige Lebewesen: ein struppiger, alter Hirtenhund, eine schmarotzerhafte Katze mit ihren Jungen, ein Eichelhäher in einem Käfig am Ofen, ein Eichhörnchen, das in seinem Käfig wie wahnsinnig das Laufrad trat, eine wahre Schar von Haustieren belebte unsere Gemeinschaft; mit der natürlichen Vertraulichkeit von Lebewesen, die aufeinander angewiesen sind, steckte von Zeit zu Zeit sogar ein alter Ziegenbock seine bärtige Visage zum Türspalt herein. Der überhebliche Alterspräsident aller Haustiere der kleinen Siedlung stand blinzelnd und mit zitterndem Ziegenbart in der Türöffnung, als erinnerte er sich noch an die paradiesische Idylle des Zusammenlebens von Mensch und Tier und wartete auf die Aufforderung, seinen Platz in unserem Kreis einzunehmen. Doch dieses wenig erfreulich duftende Tier verjagten sogar die Hausbesitzer.
So lebten wir Zweifüßler zu siebt in der Arche und warteten auf das Ende des Regens und die ersten Sonnenstrahlen. Sieben Gäste, der Hausbesitzer und seine Frau – Rumänen aus dem Altreich, ein gutmütiges und hilfsbereites Paar, korpulent und schwerfällig, des Ungarischen nur gebrochen mächtig – und das Personal: zwei junge Mädchen und ein Hirte aus dem Tal, der im Winter das Amt des Hausdieners der Hütte bekleidete. Denn in Wirklichkeit war dieses »Kurhotel im Hochgebirge« nur eine einfache Hütte; von all dem, was in der verlockenden Anzeige beschrieben war, entsprachen nur das Gebirge und die Landschaft den Verheißungen. Und jetzt war auch diese Wirklichkeit vom Nebel verhüllt und vom Schneeregen aufgeweicht. Nur bei kaltem, klarem Winterwetter beschenkte diese Landschaft den Wanderer tatsächlich. Sogar durch den Nebel hindurch waren der frische Geschmack und Duft der Luft zu spüren. Aber drinnen im Zimmer, im Elend dieser Quarantäne, waren schon am vierten Tag all mein guter Wille und meine Geduld aufgebraucht. Mit Tieren und Menschen in einem stallartigen Raum zusammengesperrt, wo es nicht einmal für den traurigen Luxus der Einsamkeit reichte, in der stickigen Zimmerluft, mit dem trostlosen Anblick des feuchten und matschigen Geländes vor dem Fenster: all das war ein spöttischer Beweis dafür, wie aussichtslos die Unternehmungen und Pläne des Menschen in Wirklichkeit sind. Die stille Woche, die ich gehofft hatte auf dem Berggipfel verbringen zu können, die feierliche »Weihnachtswoche im Hochgebirge«, wie ich sie mir in meinem städtischen Heimweh vorgestellt hatte, schien mir jetzt eher eine Strafe zu sein als eine Belohnung – eine Strafe, die abgesessen werden musste.
Was tut der Gefangene, wenn er sein Schicksal erkennt und die Aussichtslosigkeit seiner Lage hervortritt? Er zerbricht sich natürlich den Kopf über Flucht. Drei Tage waren eine lange Zeit, in der ich jede menschenmögliche Gelegenheit meiner Umgebung erkunden konnte. Nicht einmal alte Ehepaare lebten in so zwanghafter körperlicher Vertrautheit wie wir, die wildfremden Gäste der Bergpension. Durch die dünnen Bretterwände war jeder Atemzug der Nachbarn zu hören, die sich ebenfalls langweilten, im Gemeinschaftsraum verrieten wir vor Monotonie und Ungeduld schon am dritten Tag unweigerlich die verdrießlichen Züge unserer Natur. Die Gesellschaft versprach keine besonderen menschlichen Überraschungen. Ein grau melierter Herr in Tiroler Kniehosen und kurzer Lederjoppe, von dem wir nur wussten, dass er Beamter in einer nahen Stadt war, klebte den lieben langen Tag Fotografien in ein Album mit Lederdeckel – seine Bewegungen, seine schnaubenden Bemerkungen, seine argwöhnischen und zornigen Blicke vermittelten das Bild eines besessenen und unsicheren Menschen. Und siehe da, das war er auch, einer der zahllosen städtischen Nervenkranken, die sich in ihren Bürokäfigen Zwangsbilder von der Natur erschaffen, ein Pflanzenfresser und Tourist, der sonntags mit seinem Rucksack die Berge durchstreift und alle Berggipfel und Lichtungen, die ihm über den Weg stolpern, mit ängstlicher Sorge abfotografiert. Mit einem Wort, ein Verrückter. Einen netten Gegensatz zu diesem kodakbewaffneten Don Quichotte der Berge bildete ein joviales Jägerpaar, zwei Pálinka und Wein trinkende, Shagpfeifen rauchende Gutsverwalter oder bessere Inspektoren, die hier auf dem Berggipfel Auerhähne suchten; ihre Jagdsäcke und Waffen, die sie tagein, tagaus fetteten und reinigten, hatten sie stets bei der Hand, auch wenn sie becherten. Diese beiden Jäger – eine lebendige Ausgabe von Stan und Ollie: einer baumlang und dürr, der andere gedrungen und fett – waren der klare Beweis für die These, dass die Natur überall und immer, so auch in menschlichen Beziehungen, auf den Ausgleich der Gegensätze bedacht ist. Die dramatischen Wetterumschläge nahmen sie mit dem Gleichmut der an die Launen der Natur gewöhnten Menschen hin. Sie begehrten nicht auf, sondern lasen alte Theaterzeitschriften, sprachen beständig dem Wacholderschnaps zu, traten von Zeit zu Zeit ans Fenster, stellten fachmännisch fest, dass das »Mistwetter« die Auerhähne hartnäckig vor ihnen verbarg, und schworen dem Wild, das sich unter der Nebelkappe des Schneeregens versteckte, unter halb verschluckten Jägerflüchen fürchterliche Rache. Diese beiden Nimrods, gleichsam eingehüllt in den Geruch von Pálinka und Shag, waren jedoch alles in allem eher sympathisch. Sie benahmen sich bescheiden und jovial und ertrugen die Strapazen des gemeinsamen Schicksals mit männlicher Geduld. Anders das Ehepaar, das in dem einzigen Balkonzimmer der Pension Quartier genommen hatte.
Sie waren nur selten zusammen zu sehen. Wie die Figuren aus dem Wetterhäuschen erschien einmal der Herr, ein anderes Mal die Dame im Gesellschaftsraum; der jeweils andere blieb dann im Balkonzimmer – dem Zimmer, das den Vorzugsgästen des Hotels vorbehalten blieb. Am fünften Tag der Gebirgsquarantäne hatte ich unter unerwarteten und traurigen Bedingungen Gelegenheit, einen Blick in dieses Zimmer zu werfen: ausgewählte städtische Möbel in russischem Adelsstil, ein Doppelbett, ein spiegelbesetzter Schrank, Spuren eines gewissen östlichen, bunten Luxus mischten sich hier; das Zimmer bewohnte das Wirtspaar aus dem rumänischen Altreich selbst, nur in Ausnahmen überließ es den Raum vornehmeren Gästen. Das Paar, das das Balkonzimmer jetzt belegt hatte, war einen Tag nach mir angereist. Sie kamen mit dem Automobil, das sie am Bahnhof der Talbahn gemietet hatten. Auffällig waren weniger sie selbst als ihr Gepäck. Sie führten überraschend viele Koffer und Taschen von ausgesuchter Qualität mit sich. Die Hutschachteln der Frau und ihre mit Etiketten ausländischer Hotels beklebten Gepäckstücke verrieten, dass sie viel gereist und an das Leben in der großen Welt gewöhnt war, man brauchte keinen besonderen geheimpolizeilichen Scharfblick, um zu erkennen, was nicht nur ihre Gepäckstücke, sondern auch ihre Kleidung und ihr Benehmen bestätigten: Sie war ein anspruchsvolles Leben gewohnt. Umso verwunderlicher war es – natürlich kamen wir erst nachträglich darauf, uns so richtig zu wundern! –, was dieses zerbrechliche, nicht mehr junge Geschöpf von kränklichem Aussehen mit seinen vielen vornehmen Koffern hier oben in den Bergen suchte, im Schneeregen, in den primitiven und unbequemen Räumen der Bergpension. Sie reisten an, als wollten sie sich für lange Zeit auf dem Berggipfel niederlassen. Die Frau mochte fünfzig Jahre alt sein – später entnahmen wir ihren Dokumenten, dass sie tatsächlich im vergangenen Frühjahr fünfzig geworden war –, der Mann, kahl und etwas beleibt, sah mit seinem traurigen und sorgenschwangeren Blick etwas älter aus; bald darauf erfuhren wir jedoch, dass er in Wirklichkeit drei Jahre jünger war als sie. Nach ihrer Ankunft verschwanden sie in dem Zimmer für die auserwählten Gäste und kamen auch zu den gemeinsamen Mahlzeiten nicht herunter in den Gesellschaftsraum; sie speisten auf ihrem Zimmer, und nur selten erschien die Frau oder der Mann in den späten Nachmittags- oder Abendstunden, um wortlos, abseits der anderen, mit finsterer Aufmerksamkeit die Tagesnachrichten im Radio zu hören. Niemals kamen sie gemeinsam, aber diesen abwechselnden Radiodienst hielten sie sorgsam ein. Es war zu sehen, dass sie etwas beschäftigte, beunruhigte und bedrückte – vielleicht der Lauf der Welt, vielleicht ein unbekanntes Geheimnis ihres individuellen Schicksals. Sie saßen vor dem Radio, als warteten sie beklommen auf eine Nachricht, eine Antwort auf eine unbekannte Frage. Und wenn der Ansager mit der Aufzählung der Tagesnachrichten fertig war, stand die diensthabende Hälfte sogleich auf, grüßte stumm und eilte die knarrende Holztreppe hinauf ins Zimmer des Obergeschosses.
Dieses Benehmen war gerade auffällig genug, dass wir anderen, die Hausbewohner und Gäste, gründlicher auf sie achteten – und eines Abends, als die Frau den Dienst am Radio versah, setzte sie sich neben mich auf die schmale Holzbank, die den Ofen umgab. Solange das Radio mit maschineller Gleichgültigkeit schreckliche Kriegsphrasen drosch – nur gelegentlich klang durch die Stimme des unbekannten Ansagers eine blutrünstige Genugtuung durch –, während es monoton die Zahlen der tragischen Tagesbilanz der vernichteten Städte, gesprengten Brücken, dem Erdboden gleichgemachten Krankenhäuser, Kirchen und Schulen, versenkten Schiffe und abgeschossenen Flugzeuge wiederholte, hatte ich Gelegenheit, mir meine Nachbarin gründlicher anzusehen. Sie trug ein aus vornehmem Material, und auf Kaninchenwolle, gestricktes Kleid, Bluse und Rock waren pastellfarben und flauschig, und sie hatte sich ein sehr feines, blassgrünes, seidenartiges Tuch aus fremdländischem Stoff um die Schultern gelegt. Nervös rieb sie die Seidenfransen zwischen den blutlosen, knochigen weißen Fingern, während sie Radio hörte. Ihre Opanken – mit den schnabelförmigen Spitzen ein typisches osteuropäisches Schuhwerk – mussten beim besten Schuster hergestellt worden sein, in den empfindlichen Friedenszeiten, als die Städter anspruchsvoll von ihren Schustern forderten, dass man für ihre Füße Schuhe herstelle, die weicher und feiner wären als Handschuhe. An ihrem kleinen Finger blitzte auf dem einzigen Ring ein erbsengroßer Diamant. In dem blonden, glatt gekämmten, in der Mitte gescheitelten Haar schimmerten weiße Fäden. Aus dem schmalen, blassen Gesicht mit den ruhelosen Zügen, das nicht einmal durch seine trotzig kindliche Weichheit das wahre Alter verbergen konnte, blitzten graublaue, eisig geschnittene Augen. Diese Augen waren wie kalte östliche Edelsteine mit bläulichem Glanz – manchmal sprühten sie Funken, doch dann erlosch ihr Licht sofort wieder. Jede Bewegung der Frau verriet die Unruhe von Verfolgten oder Nervenkranken, die glauben, dass ihnen feindliche Mächte auf den Fersen sind. Ihr Körper, ihre Manieren, ihre Kleidung, alles zeugte davon, dass sie ein verwöhntes Wohlstandsgeschöpf war. Die rauen und gefährlichen Nachrichten aus der Welt hörte sie sich gleichgültig an, in ihren kalt leuchtenden blauen Augen blitzte erst ein Zeichen von Leben und Interesse auf, wenn der Ansager die unbedeutenderen Nachrichten des Tages herunterzurattern begann: die einfache, alltägliche Chronik der Unfälle, Vermissten, Verstorbenen. Sie hob den schmalen Kopf, ihre Nasenlöcher weiteten sich, ihre Augen funkelten, und einige Minuten lang war sie aufmerksam wie ein wildes Tier, wenn es Gefahr oder Beute wittert. Nach den Nachrichten erhob sie sich sofort von der Bank und nickte kurz; mit mädchenhaftem Gang ließ sie auf der obersten Treppenstufe die schlanken Fesseln hervorblitzen und verschwand im Dunkel des Obergeschosses.
Das war die Frau: nicht mehr jung, offensichtlich krank. Vielleicht hatte sie ein Lungenleiden oder suchte für ihre geschädigten Nerven hier auf dem Gipfel des Berges Linderung, dachte ich. Natürlich konnten mich in der elenden Gefangenschaft des Eisregens weder diese Frau noch ihr Mann übermäßig interessieren – und am dritten Abend begann ich ernsthaft, Fluchtpläne zu erwägen. Der Mann der fremden Frau – was sollte ich sonst von diesem kahlen, stämmigen Mann denken, der zusammen mit dem kränklichen, älteren Geschöpf hier war – saß nachmittags oder gegen Abend manchmal stundenlang in dem Gemeinschaftsraum, rauchte Pfeife, wechselte mit niemandem ein Wort, wies die wohlwollende Annäherung der Nimrods zurück und war auch nicht zum Kartenspiel zu bewegen. Zeitung oder Bücher las er nicht, er saß nur am Radio, sah dem Rauch seiner Zigarre hinterher und schaute düster an die aus rohen Kiefernstämmen gezimmerte Decke. Ein Mann, der Sorgen hatte, ein älteres bürgerliches Ehepaar, das sich hier auf den Berggipfel zurückgezogen hatte, weil die Frau krank war und sie vielleicht hofften, billig Heilung zu erkaufen – das war alles, was mir in ihrer Gegenwart einfiel. Mich interessierte hier niemand. Der weihnachtliche Zauber der Berge hatte mich schändlich betrogen; das Klügste, was ich tun konnte, war, meine Siebensachen zu packen und am Mittag mit dem struppigen Pferdchen zur nahen Bahnstation zu zuckeln, von wo mich ein Personenzug fortbringen würde. Fortbringen, doch wohin?
Wir schrieben den Tag vor Heiligabend; ich sah ein, dass ich vergeblich grollte, ich war in die Falle geraten. Wäre ich zurück in die Hauptstadt gefahren, wäre ich mit dem Mitternachtszug genau am Heiligen Abend in meiner Wohnung angekommen, wo mich jedoch niemand erwartet hätte. Meine Haushälterin hatte ich in den Urlaub in ihr Dorf geschickt; bei der Familie von Bekannten, wo ich in der Vergangenheit einige angenehme Weihnachtsabende verbracht hatte, konnte ich unmöglich um Mitternacht mit Gepäck in der Hand auftauchen. Und auch die Wahrscheinlichkeit anderer, kleinerer Unannehmlichkeiten zwang mich, auszuharren. In diesem Abschnitt des Krieges fuhren nachts keine Automobile mehr, insbesondere nicht am Weihnachtsabend, und in der Zeitung hatte ich gelesen, dass nach acht Uhr am Abend auch die Straßenbahnen nicht mehr verkehrten. Zu Fuß durch die frostige Nacht zu spazieren, in die ungeheizte und leere Wohnung zu kommen, all das schien mir sinnlos. Ich musste die Stunde der Befreiung abwarten und mich wohl oder übel damit abfinden, dass ich den Weihnachtsabend hier in dieser klammen, rauchigen Umgebung im Geruch von Speisen und durchgeweichten Kleidungsstücken verbringen würde, unter wildfremden Menschen, die sich gnatzig und mit ungeschickten Scherzen die Langeweile des Stubenarrestes zu vertreiben versuchten; unter Menschen, mit denen ich keine Lust hatte auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Ich konnte auf einen Wetterumschwung hoffen – die Hausbesitzer versicherten den Gästen unbeholfen schuldbewusst, als wären sie persönlich verantwortlich für diese wilden Launen der Natur, dass das Wetter auf dem Berggipfel von einer Stunde auf die andere umschlagen könne. Sie stellten mitten im Speiseraum einen riesigen Gebirgsweihnachtsbaum auf, und der vom Schneepuder glänzende, kerzengerade Baum zerstreute die allgemeine Niedergeschlagenheit ein wenig. Am Abend vor Weihnachten machten wir, Gäste und Hausbewohner, uns daran, den Baum mit Lebkuchen, Äpfeln und vergoldeten Nüssen zu schmücken, die Jäger sprachen ihrem Wacholderpálinka zu und unterhielten sich und die Gäste mit schelmischen Anekdoten, und der rumänische Gastwirt beteuerte, dass uns gewisse Wetterzeichen, die »niemals lügen«, eine Überraschung und weiße Weihnachten versprachen. Die Überraschung blieb an diesem Weihnachtsfest für die Gäste der Pension wahrhaftig nicht aus – vermutlich geschah nicht alles ganz so, wie es sich die Natur und dieser montane Fachmann der Gastbetreuung vorgestellt hatten, aber eine Überraschung war es auf jeden Fall, und zwar eine weitreichende und gründliche.
Ich blieb also; und jetzt, da ich mich dazu entschlossen hatte, versuchte ich mich in Tonfall und Stimmung der kleinen Gesellschaft anzupassen, ich becherte mit den Jägern, erkundigte mich nach dem Gedenkbuch des grau melierten Herrn, der vom Fotografierzwang gepeinigt wurde, band rote Äpfel an den kerzengeraden Baum und hörte mir die wortreichen Pläne des Gastwirts und seiner Frau an, natürlich träumten sie von Zentralheizung und einem Gasthaus aus Beton mit einer Sonnenterrasse und »Danßing« – so sagten sie –, wo in besseren Zeiten die bergbegeisterten Großstadtpaare bei rotem Licht tanzen würden. Das Paar aus dem prunkvollen Zimmer und Z. fehlten. Am Abend erfuhr ich, dass Z. bereits den dritten Monat auf dem Berggipfel lebte – die Gastwirte sprachen mit großer Verehrung vom »Professor«, dessen Fach sie aber nicht kannten; sie hielten ihn jedenfalls für einen Schriftsteller oder Gelehrten und erzählten mitteilsam, er sei ein sehr »feiner Mann«, der »immer schweigt« und »die Musik nicht mag«. Diese Feststellung überraschte mich ein wenig, gerade im Zusammenhang mit Z., der in der Welt der Musik noch immer zu den Ersten gehörte, aber natürlich hütete ich mich, den Hausbewohnern und Gelegenheitsgästen Z.s Geheimnis zu enthüllen. Er hatte gewiss einen triftigen Grund, inkognito hier im Gebirge zu leben – einen Grund, sie nicht die Wahrheit erfahren zu lassen, nämlich, dass er einer der großartigsten Musiker auf Erden war. Jedenfalls war er zumindest einer der berühmtesten Instrumentalisten der Welt gewesen, selbst in der jüngsten Vergangenheit – und jetzt, als ich beim Weihnachtsbaumschmücken, beim Anbinden von Lebkuchen hören musste, dass dieser ungewöhnliche Gast schon den dritten Monat hier oben auf dem Berg weilte, dass ihn weder die Widrigkeit des Wetters noch die Primitivität der Unterbringung störten, dachte ich darüber nach, was ich eigentlich über diesen außerordentlichen Menschen wusste. Unsere Begegnung im Gebirgshotel war linkisch gewesen. Wir kannten uns, obwohl es acht, ja zehn Jahre her war, dass wir uns in derselben Gesellschaft öfter getroffen hatten, im Salon einer Dame von großer Bildung, wo Z. – dessen Name in jenem Jahr in der Öffentlichkeit bekannt geworden war – manchmal etwas auf dem Klavier vortrug. Ich erinnerte mich verschwommen, dass die Flüsterpresse den Namen dieser sehr gebildeten und außergewöhnlich vornehmen Dame mit dem Namen des berühmten Komponisten und Klaviervirtuosen verband – aber jene Erinnerung war als Gesellschaftsklatsch durch das Sieb der Zeit gerieselt. Diesen Zusammenkünften, deren geistigen und gesellschaftlichen Wert man schwer leugnen konnte, war ich bald ferngeblieben, meine Arbeit rief mich, die Jahre gingen auch mit mir nicht immer nachsichtig um, für das gesellschaftliche Leben blieben mir immer weniger Zeit und Lust. Weniger seine Person als vielmehr der Begriff, für den Z. stand und der immer mehr begeisterte Anhänger und Wortführer fand, beschäftigte mich weiter. Lange Jahre waren ohne ein persönliches Treffen vergangen, aber kein Monat war verstrichen, ohne dass mich die Zeitungen, die Zeitschriften und der mündliche Klatsch und Tratsch, der lebendiger und wirkungsvoller ist als jede gedruckte Meinung, der Person und Werk eines schaffenden Menschen stets umgibt und ins Bewusstsein der Zeitgenossen dringt, darauf aufmerksam gemacht hätten, dass es Z. gab, dass er schuf und arbeitete und dass bereits die gesamte gebildete Menschheit weit über die Landesgrenzen hinaus sein Werk aufmerksam verfolgte. Dann – aber das verstand ich erst jetzt, am Abend vor der vierten Kriegsweihnacht – lag eine sonderbare, dichte Stille über Z.s Namen. Als hätte man plötzlich im Lärmen der Welt einen Schalldämpfer auf den Sturm der Begeisterung gedrückt, mit dem bislang jede Äußerung dieser Persönlichkeit aufgenommen worden war. Aber dieses Verstummen, diese unerwartete Stille war so zurückhaltend, so verschämt, dass ich ihr Geheimnis nicht zu ergründen vermochte. Z. war nicht »durchgefallen«, nicht von seinen Gegnern mit irgendwelchen erlogenen oder berechtigten Beschuldigungen niedergestochen worden. Er war nur eben von den ungarischen und internationalen Konzertbühnen verschwunden, Jahre vergingen, ohne dass sein Name zu hören oder zu lesen war. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich in diesen Jahren etwas über ein im Entstehen befindliches, größeres Werk gehört hatte; ich rätselte, ob es möglich wäre, dass der Grund für dieses tiefe Schweigen eine Art größerer Anstrengung sei – vielleicht erlebte der große Künstler jetzt Jahre des Kräftesammelns und der stillen Arbeit? –, aber ein Gefühl, das ich nicht erklären konnte, flüsterte mir unmissverständlich zu, dass ich auf der falschen Fährte war. Z.s Schweigen, sein taktvolles und selbstbewusstes Verschwinden musste einen anderen Grund gehabt haben – und diesen Verdacht empfand ich jetzt, nach so vielen Jahren, als wir uns hier auf dem Berg begegneten, als wahr. Sein Schweigen, ja sein Verschwinden war nicht vom Rauschen des Trauerorchesters der öffentlichen Meinung begleitet – ich hatte niemals gelesen, dass der große Künstler »sich zurückgezogen« habe, und ich erinnerte mich auch nicht an schadenfroh bedauernde Nachrichten über die »Müdigkeit« des berühmten Musikers, mit anderen Worten darüber, dass sein Talent versiegt war, dass keine weiteren Werke, musikalische Erlebnisse von ihm zu erhoffen waren. Nach allem, was ich wusste – ich musste die Erinnerungen jetzt aus den Bruchstücken winziger, verblasster Meldungen zusammensetzen –, war Z. auch heute noch Professor an der Musikhochschule, wohin man ihn in den schönsten Augenblicken seines Ruhms berufen hatte, ich erinnerte mich, dass er junge Künstler unterrichtete. Aber seit Jahren hatte die Welt kein einziges Konzert dieses wunderbaren Musikers mehr gehört, und auch unter den Händen anderer Künstler waren keine neuen Melodien des Komponisten Z. erklungen.
Sicher war nur, dass er schwieg und – wie das Gastwirtpaar sagte – »Musik nicht mochte«, und bald musste ich erfahren, dass der brave Volksglaube mit dieser Vermutung eigentümlicherweise recht hatte. Z. hatte, auf seine einfache und stille Weise, in dem Gebirgsgasthaus nur gegen die schlichte Musik aus dem Radio protestiert, gegen die Tanzmusik, die modischen großstädtischen Liedchen, von deren Gedudel die Mehrheit der Gäste nicht genug bekommen konnte. Sein Protest war tolerant und konsequent. Wann immer einer der Gäste in seinem Hunger nach billiger Musik das Radio einschaltete, stand Z. von seinem Platz auf und verließ uns ohne Aufsehen. Auch sonst hielt er sich selten und nur für kurze Zeit im Gesellschaftsraum auf. Meist blieb er auf seinem Zimmer – auch an diesem Abend, als wir anderen den Weihnachtsbaum schmückten. Offenbar störte ihn die grobe Ausstattung des Zimmerchens nicht, das einfacher und unbequemer war als eine Klosterzelle, und er war lieber allein als unter den »Musik liebenden« Menschen. Am häufigsten trafen wir ihn beim Mittagessen; er grüßte alle wortlos mit einem freundlichen Lächeln, setzte sich an den Fenstertisch mit der blau gestreiften Decke aus Bauernleinen, der für eine Person gedeckt war, und vertiefte sich in das mitgebrachte Buch. Nach dem Essen verabschiedete er sich mit einem freundlichen, unpersönlichen Lächeln von den Anwesenden und verließ mit ruhigen Schritten den Raum. Er ging in sein Zimmer oder zog sich die Lederjacke an und trat hinaus auf die Promenade der vom Schneeregen durchweichten Landschaft und kehrte längere Zeit nicht zurück. Ihn störte hier offensichtlich nichts, weder die Menschen noch das Wetter, noch die grobe Einfachheit des Gebäudes. Menschen, besonders Menschen vom Schlage Z.s – hatten wir uns auch im Lauf der Jahre voneinander entfernt, so viel glaubte ich doch von Z.s seelischer Verfassung und Natur zu wissen –, sind natürlich nur dann so geduldig und bescheiden, wenn eine große seelische Erschütterung alle ihre Ansprüche an die Welt abgestumpft hat. Bei unserer Begegnung grüßte er mich mit natürlicher Freundlichkeit, drückte mir lange die Hand, erkundigte sich mit einigen höflichen und gutmütigen Worten nach der Dauer meines Aufenthalts und tröstete mich gütig wegen des ungünstigen Wetters, das uns alle betraf – all das sagte er mit dem Takt eines Mannes von Welt und eines großen Künstlers, mit der feinen Gleichgültigkeit, mit der jemand in einer unerwarteten Situation zugleich grüßt und zurückweist, als wollte er sagen: »Wir sind uns begegnet, ich kenne dich, aber frage nichts. Helfen wir einander, mit gutem Benehmen und Schweigen.« Selbstverständlich geschah es auch in den folgenden Tagen so: Ich achtete Z.s freundliche Einsamkeit, und einige gleichgültige, höfliche Worte waren alles, was wir während der Mahlzeiten wechselten. Zu einem Gespräch kam es nicht, bis in das Leben in der Bergpension am fünften Tag eine Veränderung trat, die auch Z. die Notwendigkeit zum Gespräch sehen ließ. Und da sparte er nicht mit Worten. Die Erinnerung an dieses Gespräch möchte ich auf diesen Seiten treu aufzeichnen.
Am Abend des Vortags war auch ich früh auf mein Zimmer gegangen; ich verstand Z.s plötzlich ausgebrochenen Musikhass, denn die Nimrods konnten – dank der Wirkung des im Tal gebrannten Wacholderpálinkas – nicht genug bekommen von dem dünnen Gebräu der »Unterhaltungsmusik«, die aus dem Radio rieselte, also improvisierten sie eine Art Chorlied und wiederholten auf diese Weise die modische Großstadteinlage, die ich an jenem Abend zum ersten Mal gehört hatte. Das erfolgstrunkene Geträller stammte, wie ich von den Jägern erfuhr, aus einem Singspiel jenes Jahres; und schon verabschiedete ich mich von meinen weihnachtlichen Schicksalskameraden, ging die Treppe hoch und tappte im Dunkeln zu meinem Zimmer, während der Gesang des kleineren, dicken Nimrod hinter mir herposaunte. Er repetierte:
Zur Liebe braucht man keine Schönheit,
Zur Liebe braucht man keinen Geist,
Zur Liebe braucht man gar nichts weiter,
Nur die Liebe, die muss sein.
Ich blieb im Dunkeln stehen und musste lachen. Das war die korrekte Fassung. Das Holzhaus tönte von dieser melodischen Gossenweisheit. Ich ging am Balkonzimmer und an der Tür zu Z.s Zelle vorbei, hörte aber keinerlei Geräusch. In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf den Rand des klammen Bettes und dachte über die erstaunlichen Fügungen des Lebens nach. In der Nachbarschaft, einige Bretterwände weiter, wachte oder schlief ein Mann, dessen zauberhafter Anschlag vor Kurzem noch eine ganze Welt betört hatte und der so geheimnisvoll von der Bildfläche der Öffentlichkeit verschwunden war, als hätte ihn der rätselhafte Mechanismus einer unterweltlichen Versenkung in einer anderen Welt versteckt. Ich hatte eine unruhige Nacht. Meine Gedanken kreisten um Z., das menschliche Schicksal, das Weihnachtsfest und die schweren, erbarmungslosen Gesetze des Krieges, die uns alle betrafen. So schlief ich ein, und noch im Halbschlaf hörte ich aus der Ferne die heisere, überzeugende Aussage der ausgelassenen Jäger:
Zur Liebe braucht man keine Schönheit …
Am Morgen regnete es. Herrgott, wie es regnete! Der rumänische Gastwirt zeigte beim Frühstück mit der verzagten Handbewegung eines durchgeweichten Jahrmarktgauklers auf den trostlosen Anblick der nassen Tragödie, die sich hinter dem Fenster abspielte. Nein, solch ein Weihnachten habe auch er hier auf dem Berg noch nicht erlebt – sagte er aufrichtig klagend –, es sei doch offensichtlich, dass das Wetter mit dem Krieg zusammenhänge. Nichts sei mehr an seinem Platz, Weihnachten sei nicht mehr das verschneite, glänzende Fest von früher, als Menschheit und Natur noch in Harmonie lebten, und der Sommer spiele verrückt und sei launisch wie eine Schwangere. Der Krieg! – klagte er verzweifelt, als wären Berge, Wolken und Wind heimliche Verbündete der Kriegsmächte. Dann sagte er etwas über die Bombardierungen und über das Radio. Und tatsächlich wurde zu dieser Zeit oft gemeint, dass die großen Explosionen, die künstlichen Blitzwellen die Ordnung der Natur durcheinandergebracht hätten. Ich trat ans Fenster und betrachtete die Landschaft, die von schmutzigen, feuchten Laken überzogen war. An den eitlen und plumpen Hochmut des Menschen dachte ich, wie er zu glauben wagte, dass die schmutzigen Geschäfte seiner blutigen Hände eine Auswirkung auch auf die Gesetze der unendlichen Welt haben könnten. Nein, wahrscheinlicher ist es, dass der Mensch nur das Opfer der Weltenkräfte sei – überlegte ich – und die kosmischen Strahlungen, die in der Welt der Natur Jahreszeiten durcheinanderbringen, auch in der menschlichen Natur Erregung hervorrufen. Daran glaubte ich irgendwie, wenn ich es auch nicht erklären konnte, darauf vertraute ich eifrig und war bemüht, die Verantwortung für diese riesigen Ereignisse auf die Weltenkräfte abzuwälzen, als müsste ich beim Jüngsten Gericht Antwort und Verteidigung auf die schrecklichen Anklagen stammeln, die gegen die menschliche Rasse und ihre Selbstvernichtung erhoben wurden. Der Mensch ist Spielzeug von Kräften und Absichten, deren wahre Natur wir nicht kennen, Marionette von Leidenschaften, die über das Spektrum des menschlichen Verstandes hinausflimmern, so brütete ich vor mich hin. Aber der Anblick des weihnachtlichen Wolkenbruches drückte mich nieder. Es regnete, als ginge eine neue Sintflut auf die sündige Welt hernieder. Der Bergbach, der sonst vor dem Hotel rieselte, stürzte nun als grau schäumender Strom ins Tal hinab und wälzte schmutzige, geschmolzene Schneefelsen über die Steilhänge seiner gewundenen Bahn. Die Bäume dampften in Nebel und Regen, und der rumänische Gastwirt machte sich ernsthafte Sorgen, ob das mürrische Pferdchen es an diesem Tag schaffen würde, den Wagen heraufzuziehen, der mit Lebensmitteln für das Weihnachtsessen bepackt war. Mehrere von den Bewohnern des Hotels hatten sich bereits in der frühen Vormittagsstunde an den Tischen des gemeinsamen Gesellschaftsraumes versammelt, aber die Stimmung war an diesem Morgen allgemein eisig. Was zu viel ist, ist zu viel, sagte düster der schlaksige Nimrod und stellte seine Waffe, an der es nichts mehr zu ölen und zu pflegen gab, mit einer unwilligen Bewegung in die Ecke; das Batterieradio funktionierte an diesem Tag auch nicht, wahrscheinlich hatte das außergewöhnliche Wetter Luftraumstörungen verursacht, die verhinderten, dass es von einer weiteren Großstadt Kunde gab, der die Gedärme heraushingen, oder von der Existenz einer Liebe, für die man nichts brauchte als einfach nur Liebe. Ich stand mit verschränkten Armen am Fenster und spürte durchs Halbdunkel des stickigen Zimmers hindurch im finsteren Schweigen meiner Gefährten die Wut, die jene vom Schicksal gezeichneten Menschen selbst in ihrer ohnmächtigen Stille in die Welt hinausschrien. Das Schicksal, dieses weihnachtliche Allerweltsschicksal, war jetzt beinahe lächerlich, auf alle Fälle aber feucht, nass und langweilig. Aber das Schicksal zeigt sich manchmal auch unter lächerlichen Bedingungen – das spürten wir alle, die wir gleichsam eingepökelt waren in der herben schlechten Laune dieser klammen Situation. In Augenblicken wie diesem beginnen Matrosen auf Schiffen zu revoltieren – und irgendwie überraschte mich nicht, was dann geschah.
Z. öffnete die Tür und trat in den Raum. Er kam vom Flur, der in die bewohnten Zimmer führte; mit einer raschen Bewegung drückte er energisch die Klinke hinunter, trat beinahe lautlos herein und blieb auf der Schwelle stehen. Barhäuptig verharrte er eine Zeit lang ruhig und reglos, aus halb zusammengekniffenen Augen suchte er im Rauch und im Halbdunkel jemanden, dann erkannte er den Gastwirt, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Kommen Sie«, sagte er einfach und ruhig. Und als sich der Gastwirt, überrascht und verlegen, nicht rührte, äußerte er ruhig und gefasst: »Einer lebt noch.« Eigenartigerweise brauchte er diese Worte nicht zu erklären, alle, die wir im Zimmer herumsaßen, verstanden sie richtig. Als hätten wir seit Tagen diskutiert, was Z. jetzt aussprach. Wir standen auf und gingen stumm und ohne zu fragen die dunklen Treppen hinauf ins Obergeschoss, Z. und dem Gastwirt hinterher. Diese stumme Folgsamkeit und Zustimmung wirkten etwas schaurig. Wieder einmal musste ich erfahren, dass das Material meines Handwerks, das Wort, kein so unbedingtes Zubehör menschlicher Berührungen war, wie die Schriftsteller manchmal in ihrem verblendeten Hochmut glauben; in Krisenaugenblicken verstehen die Menschen auch ohne Worte oder mit nur sehr wenigen Worten das Wesentliche. Im Gänsemarsch schritten wir die knarrende Treppe hinauf, voran Z., ruhig, selbstbewusst und sonderbar überlegen, als wäre er, der Künstler, allein berufen, im Durcheinander der menschlichen Herde vorübergehend Ordnung zu schaffen; unmittelbar hinter ihm der Gastwirt, der im stummen Entsetzen vorerst nur stöhnte und sich räusperte, die beiden Jäger, ich und zum Schluss der Herr, der die Fotografien mehr als alles andere mochte. Kein Wort wurde gesprochen, keine Frage gestellt. Alle Mitglieder der kleinen Gruppe hatten den wahren Sinn von Z.s Worten vollkommen verstanden. Ohne zu fragen, wussten wir, dass den Bewohnern des Prachtzimmers ein verhängnisvolles Unglück widerfahren war, aber dass »einer noch lebte«; und eigenartigerweise überraschte diese unheilvolle Ankündigung niemanden. Als hätten wir seit Tagen auf diese Nachricht gewartet, als wäre es das Natürlichste der Welt, als hätte es gar nicht anders geschehen können, als hätten wir uns eigentlich im Schneeregen auf dem Berggipfel versammelt und pökeln lassen, damit diese Tragödie eintreten konnte und wir Zeugen dieses verhängnisvollen Augenblicks sein konnten. Im Bewusstsein dieser stummen Komplizenschaft stiegen wir die Treppen hinauf. Später, als ich an diese Szene zurückdachte, schien mir in der Reihe der widrigen und traurigen Bilder die Erinnerung an dieses wortlose Hinziehen eine geheimnisvolle, unerklärliche und dennoch sehr natürliche Erscheinung zu sein. Das Warten in der Ahnung des baldigen Geschehens löst bei den Menschen in ihrem Staunen und Schaudern eine viel größere seelische Spannung aus als das »Ereignis« selbst, das dann aus dieser gemeinsam erlebten Szene unumgänglich folgt. Die Wirklichkeit ist hier, gleich werden wir sie sehen, dachten wir und schwiegen. Niemand schnappte nach Luft, niemand rätselte über die Umstände der Tragödie. Und ich glaube, ich irre nicht in der Annahme, dass auch meine Gefährten in diesem Augenblick jene sonderbare Erleichterung durchdrang, die ich spürte. Entsetzen und Erleichterung, als wäre jetzt endlich alles sinnvoll, was bisher geschehen war. Als wären wir ein Bündnis eingegangen, damit dieser Moment Wirklichkeit werden konnte. Sowohl nachher als auch vorher habe ich dies bemerkt, diese schuldbewusste Komplizenschaft zwischen Menschen im Augenblick großer Gefahren.
Z. blieb vor der Tür des Balkonzimmers stehen. Er beugte sich zur Klinke herab und horchte. Wir hörten nichts. Aber genau da verstanden wir alle, dass Z. Geräusche anders hörte als wir anderen – ja, er hatte ein anderes »Gehör« als die Musik liebenden Jäger. Wo wir mit unseren Holzohren keinerlei Geräusch wahrnahmen, hörte Z. mit seinem sensiblen Hörsinn sogar durch Tür und Wand das pianissimo des Todesröchelns. Mit der vollkommenen Ruhe und dem sachlichen Interesse eines Fachmanns stand er etwas gebeugt vor der Tür, ungefähr so, wie sich ein Dirigent in die Tiefe beugen kann, über das Orchester, und auf den fernen Klang eines leisen Instrumentes lauscht. Das leise Instrument war in diesem Augenblick ein Mensch, der starb. Lange Zeit verging so, vielleicht Minuten. Dann richtete sich Z. aus seiner gekrümmten Stellung auf. Seine Augen glänzten – diese sonderbaren Augen mit dem trüben Licht, über deren Iris wie ein feiner Star ein Schleier lag, und die immer anderswohin zu sehen schienen, in eine andere Welt, wo sich das Sein nicht in Gestalt von Gegenständen und Formen, sondern von Tönen und musikalischen Gebilden äußerte; dieses fürchterliche Augenpaar mit dem bezaubernden Strahlen leuchtete jetzt triumphierend. »Ich habe es schon vor einer Stunde gehört. Ich dachte, sie schlafen. Aber sie schlafen nicht. Einer lebt noch«, sagte er laut und energisch. Und wie ein Arzt, der eine Krankheit zweifelsfrei diagnostiziert und damit seine Pflicht erfüllt hat, trat er beiseite, ließ den Gastwirt in die Nähe der Klinke und wartete mit verschränkten Armen reglos, dass wir in unserer Verlegenheit und unserer erschrockenen, ratlosen Erregung all das anstellten, was in dem Moment zu tun war.
Was folgte, war nichts anderes, als was in dieser Situation, die an einen Polizeibericht erinnerte, zu erwarten war. Der Gastwirt klopfte lange an der Tür – zuerst höflich, später mit der Faust –, und als keine Antwort kam, warf er sich mit der Wut einer gereizten Bestie gegen die geschlossene Tür. Dann geschah alles so, wie erwartet. Ein Jäger eilte hinunter in die Küche und holte eine Axt, ihm auf den Fersen erschienen die Hausfrau, die zwei Dienstmädchen und der junge Mann, der im Schuppen und beim Putzen half, und als hätte die Tür nur darauf gewartet, dass die Zahl der Anwesenden sich vervollständigte, gab sie den Axthieben nach und brach mit großem Getöse ein. Einzeln betraten wir den halbdunklen Raum, feierlich und höflich auf Zehenspitzen; der Gastwirt ging zum Fenster und zog die Rouleaus hoch. Die Mitglieder der Gesellschaft stellten sich im Halbkreis um den Ofen auf, in achtungsvoller Entfernung von den Betten. Wir waren viele in dem engen Zimmer und drängten und reckten uns stumm, mit der wichtigtuerischen Aufmerksamkeit von Augenzeugen und zugleich mit neugierigem Abscheu. Das Bild, das wir sahen, betrog unsere selbstvergessenen Erwartungen nicht.
Im Bett lag das ältere Ehepaar – noch immer bezeichneten wir dieses Paar in Gedanken so – in bewusstlosem oder vielleicht schon leblosem Zustand. Bald erfuhren wir, dass Z. recht gehabt hatte. Der Mann war schon tot, als wir die Tür aufbrachen, die Frau atmete noch. Besonders überraschte uns die Ordnung, die uns in diesem Zimmer empfing. Das Paar lag in Nachtgewändern in den Kissen, so starr und feierlich, als warteten sie auf den Geistlichen, der ihnen die Letzte Ölung geben würde, ihre Tageskleidung lag in ernster und sorgsamer Anordnung auf zwei Stühlen an den beiden Seiten des Bettes, die blank geputzten Schuhe standen auf Schuhleisten gezogen vor dem Ofen. Und überall diese ängstliche Ordnung, auf der Frisierkommode, wo die Tiegel und Flakons der Frau aufgereiht waren, im Schrank, dessen Tür sie offen gelassen hatten und in dem sich Herren- und Damenkleider in paariger Reihenfolge auf den Bügeln abwechselten, überall eine auf den Zentimeter eingeteilte, beinahe wahnwitzige Ordnung. Neben dem Waschbecken türmten sich die ausgewählt feinen Koffer, die Schlüssel waren mit dünnen Bändern an die Griffe der Gepäckstücke gebunden, als wollten sie mit höflicher Voraussicht demjenigen die Kontrolle und Durchsuchung erleichtern, der bald gezwungen sein würde, sich damit zu befassen. Auf dem Nachtschränkchen stand auf der Seite der Frau ein Marienbild in edlem Goldrahmen, daneben lag ein Brief; auf dem Tischchen an der Seite des Mannes flackerte noch immer die Kerze; dieses schwache Licht hatten sie vergessen, oder sie waren schon zu kraftlos gewesen, um es zu löschen. Und diese vollkommene Ordnung überall, um diesen Tod herum, eine peinliche, eine verdächtige, ängstliche, geisteskranke Ordnung. Hier hatte sich jemand auf die endgültige Unordnung vorbereitet, auf das große Nichts, auf die vollständige Vernichtung, auf den Tod, und zuvor noch alle kleinen Gegenstände und alles Zubehör um sich herum sorgfältig geordnet, das spürten wir alle und schwiegen erschrocken. Denn diese große Ordnung war schrecklicher als der Anblick des toten Mannes und der sterbenden Frau. Diese Ordnung zeigte die Aussichtslosigkeit aller menschlichen Unternehmungen, die der Mensch noch in den letzten Augenblicken mit so krampfhafter Anstrengung zu verwirklichen bemüht ist. Eine ernsthafte und traurige Sehnsucht spiegelte sich in diesem fruchtlosen Bemühen, die Sehnsucht, die große Unordnung des Lebens in Ordnung zu bringen – und diese Sehnsucht war, als wir die Gesichter des im Bett ruhenden Paares sahen, eben doch ergreifend. Sie hatten auf ihre Weise Ordnung gemacht – das spürte ich. Aber diese Ordnung war nicht vollkommen, weil einer von ihnen noch lebte.
Alles, was auf die ersten, gelähmten Augenblicke der Befangenheit und Erschütterung folgte, war zu lärmend, zu schwärmerisch und zu primitiv, als dass es wert wäre, als Erinnerung detailliert bewahrt zu werden. Die Empörung des Gastwirtes ist freilich schwer zu vergessen. Wie alle einfachen Menschen empfand er das Außergewöhnliche und Unbequeme als ein Attentat gegen seine eigene Person, und mit den ersten Bewegungen und Worten brach er in sinnlose Beschuldigungen aus. Er rannte im Zimmer auf und ab, sah unter das Bett, als suchte er einen unbekannten Täter, hob die Arme gen Himmel und fluchte. In wechselndem, erschrockenem und anklagendem Tonfall schimpfte er auf das Wetter, den Krieg und die Selbstmörder, die sich von allen Ecken der Welt ausgerechnet sein Gebirgshotel ausgesucht hatten, um dieses Jammertal zu verlassen. Seine Wut schlug bald in Ratlosigkeit um, klagend sagte er immer wieder, dass »er nichts dafürkönne«, er habe doch »alles getan«, den Fremden sein schönstes Zimmer zur Verfügung gestellt, und er lispelte noch mehr ähnliche Sinnlosigkeiten. Wir hörten seine Jeremiade wort- und tatenlos an. Eigenartigerweise eilte niemand der sterbenden Frau zu Hilfe – gebannt standen wir am Ofen, hilflos und neugierig, hörten die Klagen des Gastwirtes und sahen auf das feierliche Bild: Z. stand, die Arme vor der Brust verschränkt, im Gesicht einen sehr aufmerksamen Ausdruck, stumm am Bett der Frau und blickte auf das reglose Menschenpaar, das tief und ruhig zu schlafen schien.
Die Frau lebte noch. Aber Z. war der Einzige im Zimmer, der in diesem wächsern gelben, toten Gesicht noch ein Zeichen des Lebens sah. Wir anderen, Augenzeugen und Zuschauer, hörten keinerlei Röcheln und bemerkten auch keine anderen Lebenszeichen. Z. dagegen stand mit verschränkten Armen da, beugte sich manchmal hinab zu der Frau, prüfte ruhig und sachlich das Gesicht mit den geschlossenen Augen, hob mit den Fingerspitzen die schlafenden Lider an und beobachtete die Reflexe der starr blickenden Augen. Dann schüttelte er den Kopf, als wäre er allein im Zimmer – allein mit den Toten, über die nur er etwas Sicheres wusste. Er ging zweimal durchs Zimmer, blieb am Tisch stehen und begann, die auf der Tischplatte aufgehäuften leeren Giftröhrchen und verstreuten Gegenstände zu prüfen und zu sortieren. Vierzig kleine aufgebrochene Phiolen zählte er, angesichts der Glasscherben nickte er befriedigt, als hätte er genau das erwartet. Neben den leeren Giftphiolen lagen eine kleine Spritze mit einer Kanüle und zwei Briefe, deren Beschriftung – der eine war an den Gastwirt gerichtet, der andere an die Gendarmerie – die Handschrift des Mannes zeigte. Das war alles. Z. nahm die Briefe, reichte den einen dem Gastwirt und ging mit dem anderen Brief in der Hand langsam, ohne Eile, beinahe wie ein Flaneur, ans Bett der Frau. Mit zerstreutem Blick sah er sich im Zimmer um; er erkannte und winkte mich mit einem Augenzwinkern zu sich. »Die Frauen ertragen es besser«, sagte er leise und vertraulich. Flüsternd fragte ich, ob er nicht denke, dass wir ihr noch helfen könnten? Vielleicht gab es im Haushalt des Gastwirtes eine Hausapotheke, wir könnten ihr einen starken Kaffee kochen oder es mit künstlicher Beatmung versuchen. Er hörte mir geduldig zu, als hätte er es mit dem Quengeln eines Kindes zu tun, und sagte dann höflich und ruhig: »Überflüssig.« Verwirrt erinnerte ich ihn daran, dass die Frau noch lebe und dass es unsere Pflicht sei, auch mit unseren unprofessionellen, primitiven Methoden der Sterbenden zu Hilfe zu eilen. »Sie lebt«, sagte er geduldig, »aber sie schläft schon. Aus diesem Schlaf gibt es kein Erwachen. Vielleicht in einer Klinik, wo die Ärzte allerlei starke Mittel, herzanregende Heilmethoden zur Hand haben, dort könnte man ihr vielleicht noch helfen.« Jetzt beugte er sich wieder über das Gesicht der Frau. »Nein«, sagte er dann, leise und entschlossen. »Wir können nichts tun. Auch in der Klinik könnten sie sie nicht mehr aufwecken. Dieser Schlaf ist schon der Tod. Sehen Sie«, sagte er jetzt lauter, lebhaft, streckte die Hand aus und wies auf die Gesichter der Selbstmörder, »wie ruhig sie schlafen! Man stirbt nicht auf einmal.« Jetzt flüsterte er wieder, vertraulich, als hielte er nur mich für wert, dieses Geheimnis zu erfahren, und als hätte er keine Lust, auch die anderen in sein Wissen einzuweihen. »Der Tod kommt nicht so, dass man tief aufseufzt und stirbt. Der Tod ist eine Serie von Erscheinungen, zuerst fehlt ein Reflex, dann der nächste. Der ist gestorben«, sagte er und wies auf den Mann. »Und jetzt ist auch die Frau schon drüben, aber es dauert noch einige Minuten oder Stunden, bis sie sich vollkommen beruhigt.« Wir schwiegen. Z. prüfte mit vorsichtigen Fingern abermals das Augenlid der Frau. »Tot«, konstatierte er dann ruhig und richtete sich auf. Und als hätte er hier nichts mehr zu tun, wandte er sich um, würdigte weder die Toten noch die Lebenden eines Blickes und ging mit aufrechter Haltung und ruhigen Schritte aus dem Zimmer.
Die Gendarmen kamen gegen vier Uhr am Nachmittag, das Summen der kleinen Gesellschaft hatte sich bis dahin schon etwas beruhigt. Jeder »wusste alles«, der Gastwirt hatte die im Briefumschlag verschlossene Nachricht des toten Mannes gelesen, und die Gendarmen, die mit dem Automobil aus dem Tal heraufkamen, sorgten dafür, dass die Leichen, in Laken gewickelt, auf den Sitzen des Automobils untergebracht wurden. Der Gendarmerieoffizier, der die traurige Operation leitete, improvisierte eine kurze Vernehmung, er fragte den Gastwirt und die Dienerschaft aus, wechselte höflich einige Worte mit Z. und allen, die in dem Zimmer waren, als die Selbstmörder gefunden wurden. Ein Protokoll wurde erstellt, unsere Namen und Anschriften notiert, die leeren Giftröhrchen, die Spritze und die Gepäckstücke wurden ins Automobil geladen, die Tür des Totenzimmers versiegelt. Der Gendarmerieoffizier setzte sich ans Lenkrad und fuhr mit seinen stummen Reisenden in die nahe Kleinstadt hinunter ins Tal. »Die Tatsachenlage«, wie er es nannte, »war klar«: »Tatsache und Umstände« des Selbstmordes wurden von der Wirklichkeit und dem Brief, von den Urkunden, die in den Sachen des Mannes und der Frau gefunden wurden, mit einem Wort, von »allen Umständen« vollkommen bezeugt, und der junge Gendarm wiederholte mit fachmännischer Befriedigung und Sachkenntnis immer wieder diese offiziellen Gemeinplätze. Es war schon dunkel, als das Automobil auf dem gewundenen Weg des Kiefernwaldes den Augen der Gaffer entschwand. Die beiden einfachen Gendarmen salutierten stramm, zogen mit einer Hand die Gurte von Flinte und Tschako fest und machten sich zu Fuß auf den Weg, durch den dunklen Wald ins Tal, dem Automobil hinterher.
So blieben wir zurück, der Heilige Abend begann. Und als bedeutete dieses schmerzlich überraschende, tragische Zwischenspiel eine Wende in unserem Leben, hatte schon in den frühen Nachmittagsstunden der Regen aufgehört und der Schneefall eingesetzt. Weich und gleichmäßig rieselte der Schnee auf die Landschaft; der kalte Nordwind vertrieb die Wolken über den Gipfeln, und durch den Schneefall hindurch erblickten wir den Vollmond und die Sterne. Gegen sechs Uhr ging ich los in den Wald. Der Frieden, der sich so unerwartet wie versöhnlich über die düstere Welt ausbreitete, die Sanftheit des Schneefalls, die großen dunklen Tannen, die innerhalb von Augenblicken ihr weißes, weihnachtliches Festkleid angezogen hatten, die stumme Erhabenheit der verschneiten Berggipfel, die durch den Schneefall schimmerten, das silberne Licht, das der Vollmond über die eben noch aufgeweichte und gequälte Landschaft strömen ließ, all das wirkte nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit tatsächlich wie ein wunderbares Geschenk des Himmels. Der frische Schnee knirschte unter den genagelten Sohlen meiner Stiefel, und die Landschaft hatte sich innerhalb einiger Stunden durch die Gnade eines himmlischen Zaubers in eine Bühne einer friedlichen, feengleich glänzenden Festlichkeit verwandelt. Nach fünf Tagen Nässe und Nebel, nach der stickigen Zimmerluft mit ihrem Geruch nach Tabak und Speisen, sog ich den ätherischen Duft in vollen Zügen ein; das edle Aroma des aufatmenden Kiefernwaldes, der Lichtungen, die endlich von der erstickenden Nebeldecke befreit waren, die Luft der Bergwelt, ließ das Herz höherschlagen und die Seele klingen. Diese Veränderung war, als hätte ein Zauberer – und ich glaubte zu ahnen, wer dieser Zauberer war – mit einer huldvollen Bewegung alles materielle und irdische Elend beendet. Der Schnee fiel gleichmäßig in dicken Flocken, mit fettiger, warmer Stofflichkeit, und die Landschaft schmiegte sich wie ein bibbernder, durchgefrorener Mensch glücklich unter das warme, weiche Federbett. Ich kam auf eine Lichtung und blieb stehen; auf meinen genagelten Stock gestützt betrachtete ich das Tal, wo in einigen Häusern schon die sanften Lichter des Heiligen Abends aufleuchteten; ich spürte, dass ich gerade einen der seltenen Augenblicke erlebte, in denen die menschliche Seele sich ganz ohne hochtrabendes Pathos, ohne kreischende Sentimentalität mitten im Lebensgedränge mit dem wunderbaren Bewusstsein der Gnade füllt. Das Tal, der dunkle Wald, die weiße Lichtung, alles funkelte im Mondlicht. Es war Heiligabend, und in der Welt ermordeten die Menschen einander auch an diesem Abend, von Frieden nirgends eine Spur, aber diese Landschaft, diese Lichtung und der Berggipfel wussten nichts vom Unglück der Menschheit.
Lange stand ich so da. Natürlich musste ich an die Toten denken, die im Automobil des jungen Gendarmerieoffiziers gerade hier entlanggefahren waren, hinunter ins Tal, auf dem kurvenreichen Bergweg; ich musste an die Zusammenhänge denken, an die unverständlichen Absichten und Leidenschaften menschlicher Wesen. In diesem besonderen Augenblick hatte ich das Gefühl, die Menschen seien wahrhaftig hoffnungslos. Warum sollten wir eigentlich hoffen, dachte ich, warum glauben, dass große Völker einander verstehen könnten, in den Ländern der Welt friedlich nebeneinanderlebten, wenn der einzelne Mensch so hoffnungslos und grundlos Opfer blinder Leidenschaften, wahnsinniger Erregungen ist? Ich dachte an die Selbstmörder, die dieses Weihnachten auf so düstere, jenseits der Alltäglichkeit doch tragische Weise zu einem verstümmelten, aber bedeutungsvollen und erinnerungsträchtigen Fest gemacht hatten. Wie gewöhnlich, wie ordinär war dieses traurige Drama – und doch: wie erschütternd und unverständlich! Denn inzwischen wusste ich, wie jeder im Hotel, die Wahrheit – diese widersinnige, verblüffende, bei aller Traurigkeit lächerliche und bei aller Lächerlichkeit erschütternde Wahrheit, die aus ihren Briefen und Urkunden unstrittig zum Vorschein gekommen war: Die Selbstmörder waren kein Ehepaar. Augenzeugen eines Liebesselbstmordes waren wir an diesem eigenartigen Morgen eines Heiligen Abends geworden. Die fünfzigjährige Frau war ihrem Mann entflohen, einem Architekt aus der Hauptstadt, sie war von ihrer Familie geflüchtet, von zwei Kindern, aus ihrem gemütlichen Heim, weil die Leidenschaft sie überfallen und zu Boden geworfen hatte – und mit wem war sie geflohen? Nicht mit einem Großstadt-Amoroso, einem hübschen jungen Herzensbrecher, nein, mit einem Polier ihres Mannes, mit diesem beleibten, beinahe kahlen, ungehobelten und einfachen Mann, der – selbst ebenfalls Familienvater – wirklich nicht der Inbegriff des professionellen Frauenverführers war. Die Leidenschaft, die diese beiden Menschen überwältigt hatte, war so elementar, ihre Äußerung und Personenwahl passte dermaßen nicht in die Vorstellung, die sich für die Menschen im Allgemeinen mit Liebesdramen verbindet, das Verhängnis hatte jetzt mit so überraschenden und billigen Kunstgriffen gearbeitet, dass ich in dieser friedlicheren Stunde, als ich mich ein wenig aus dem Bann des Gesehenen und Gehörten gelöst hatte, tatsächlich körperlich vom Staunen geschüttelt wurde. Was weiß der Mensch vom Leben? Nichts Wahres. Wir leben mit idealisierten, postkartenartigen Vorstellungen. Die »Liebe« ist eine körperliche Darstellung, die sich bei Mondlicht in einer Hand-in-Hand-Sentimentalität oder in der schwülen Beleuchtung einer roten Lampe bei künstlichem oder ehrlichem Zähneklappern abspielt, so lehrt es die Literatur, so wird es auf der Bühne gezeigt und auf den Leinwänden der Lichtspieltheater. Es gibt Beatrice, Dantes Liebe – doch es stimmte auch, was Boccaccio beteuerte, dass Dante in Wirklichkeit Frauen mit Kropf liebte. Was wissen wir über diese Kraft, welche die menschliche Welt bewegt und von den Menschen Liebe genannt wird und die auch für die Gesamtheit der Welt einen Sinn hat? Diese Kraft paart die Lebenden und macht das Weltmaterial fruchtbar. Was wissen wir über die Wirklichkeit dieser Kraft? Auf den Bühnen schlendert der ältere, weise, überhebliche Herr umher, der vornehm und großherzig leidet wegen der Anziehung zu einem jungen Geschöpf, oder die Hetäre, die hungrig und wehend über die Bühne zieht, oder der schöne Mann, der mit kaltem Lächeln die weiblichen Herzen bricht – die unverstandene, in ihrer Ehe unglückliche, kalte Frau, die von einem interessanten Mann entflammt wird, das Gänschen, das sich dem berühmten Filmschauspieler zu Füßen wirft. Und all die anderen, die Lauge trinken oder Veronal schlucken und sich damit im Delirium der Leidenschaft den Hals umdrehen, wie es ihrer gesellschaftlichen Situation und ihrer Erziehung entspricht. Aber was wissen wir über die Tagesnachrichten, Romane, Theaterstücke, Filme und Fachaufsätze hinaus über die wahre Natur und die Absichten dieser Kraft? Der Wissenschaftler hält die Liebe für ein Symptom einer Nervenkrankheit, für einen heftigen Nervenanfall; die Literatur gibt dieser Leidenschaft in jedem Zeitalter einen anderen Sinn, sie adelt sie, erklärt sie zu den höchsten oder niedrigsten Gefühlsäußerungen des Menschen. Aber was ist die Wirklichkeit?
Auf dem Berggipfel war es still. Das Mondlicht, der Schnee und der Frieden der dunklen Tannen ließen die Landschaft strahlen. Ich fror nicht; nach der mehrtägigen Untätigkeit kreiste der reine Sauerstoff so erfrischend in den Blutzellen meines Körpers wie ein Schluck Sekt. Die Wirklichkeit?, dachte ich. Nun, das war die Wirklichkeit. Am selben Tag hatte ich sie gesehen, hier oben auf dem Berg – so gewöhnlich, so überraschend, für einen Groschenroman ebenso geeignet wie für die Polizeichronik in den Tageszeitungen, und doch so wunderbar wie die große Wende im Märchen, wenn der Königin ein Bart wächst und der Stiefelschritt sieben Meilen misst. Lerne Demut, Schriftsteller – so knurrte ich –, tiefe, tiefe Demut! Du weißt nichts über die Menschen und die Kräfte, welche die Menschen bewegen, sie zu Leben und Tod drängen! Du weißt nichts über die Liebe; einige mechanische Vorstellungen nur sind es, mit denen du arbeitest. Die Wirklichkeit ist viel überraschender, ihre Vorstellungskraft reicher, zauberhafter, als der Mensch sich eine menschliche Lage vorzustellen vermag. Ich habe dieses Menschenpaar gesehen, lebendig und tot, habe gesehen, wie sie sich in diesen Tagen duckmäuserisch winselnd versteckten, wie verstohlen sie in den Gemeinschaftsraum kamen, um die Radionachrichten zu hören. Ich sah sie aufgebahrt, und da hatte sich ihr Schicksal bereits zu einem der unbedeutenden Ereignisse der Tagesnachrichten gewandelt. Über ihr Schicksal hatten sie etwas hören wollen durch das Rauschen des Radios, über die verlassene Heimat, ihre verzweifelten Lieben, über Mann und Kinder der Mutter, über die Familie des traurigen, dicken Poliers – die Meinung der Welt hatten sie hören wollen, ob sie sie verurteilte oder ihnen verzieh. Aber das Radio hatte von zerstörten Großstädten gesprochen, von Tausenden von Toten, von statistischen Daten – und sie zitterten inmitten ihres Verhängnisses oben auf dem Berg, in der großen Schlacht ihres besonderen, kleinen Weltkrieges starben sie und bekamen keine Antwort auf das Unverständliche, das mit ihnen geschah. »Zur Liebe braucht man keine Schönheit, zur Liebe braucht man keinen Geist …«, mir fiel diese groteske musikalische Erklärung ein, und jetzt konnte ich nicht mehr über sie lachen. Ein Gefühl von Beklemmung und Ohnmacht erfüllte mich. Sie hatten ruhig im Bett gelegen, sittsam wie ein altes Ehepaar, friedliche Menschen, die nach den Stürmen des Lebens ruhig und gemeinsam im ewigen Hafen angekommen waren. Aber welcher Sturm war diesem friedlichen Ausruhen vorangegangen, welche Leidenschaft ließ diese einfachen, erschrockenen Herzen schlagen? Die Frau war sichtbar nervenkrank, der starre Blick ihrer blauen Augen, ihr erschrocken mechanisches Benehmen, all das bestätigte auch dem Uneingeweihten, dass diese verblühte Schönheit nicht mehr Herrin über ihr Nervensystem war. Der Mann war fast gleichmütig in seinem Verhängnis, wie er an seiner Zigarre kaute, die Nachrichten anhörte, kurzsichtig umherblinzelte – wie viel lieber hätte auch er in Gesellschaft der Nimrods den Wacholderpálinka kreisen lassen, und wie wenig passte zu ihm, seinem Körper, seinem Charakter, seiner gesellschaftlichen Stellung diese wahnsinnige Rolle, die er nach dem Willen der Leidenschaft spielen musste! Wie lächerlich kann das Schicksal manchmal sein – und gleichzeitig so düster und bestürzend!
Am nächsten Tag erfuhren wir aus den Zeitungen, die sich sogar mitten in den Schreckensnachrichten des Krieges mit schmatzender Gefräßigkeit auf die Delikatesse dieses »gesellschaftlichen Skandals« stürzten, auch die Details. Der Ehemann der Frau war ein reicher, älterer Herr, ein bekannter Architekt; um den Mann trauerten die erwachsene Tochter und die Verwandtschaft einer wohlhabenden Poliersfamilie! Und all das war so regellos, so wahnwitzig – ja, wenn etwas »Ungehöriges« in diesem grotesken Unfall lag, so waren es das Alter und die gesellschaftliche Position der Beteiligten. Kein Teil dieses wilden und traurigen Abenteuers passte an das andere!
Aber was war mit ihnen geschehen? Was für eine Kraft hatte diese beiden Menschen gezwungen, so sinnlos, so regelwidrig ihr Leben zu zerstören? Ist der Mensch so wehrlos? Erziehung, Moral, gesellschaftliche Gesetze, ist all das nicht stark genug, um den Leidenschaften in verhängnisvollen Augenblicken eine Grenze zu setzen? Dies ist ein sumpfiger Weg, und wohin kommen wir, wenn wir Europäer diesen anarchischen Pfad beschreiten? Diese Revolte ließ sich nur mit der Nervenkrankheit erklären. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Menschen mit gesundem Verstand, die zu Selbstkritik fähig sind, sich derart der Schreckensherrschaft der Leidenschaft ergeben. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass es ein Gefühl gibt, das stärker wäre als der Verstand. Was würde aus der Welt, wenn wir dieser Vermutung zustimmten? Welch anarchische Möglichkeiten eröffnen sich, wenn wir auch in der Welt der Nüchternen und Gesunden solche Ausbrüche annehmen?
Daran dachte ich auf der Lichtung. Aber ich spürte, dass diese Argumentation billig und ärmlich war – denn was aus der Welt würde, war eine wenig zeitgemäße Frage in diesem Augenblick, in dem die Menschheit im Ganzen auf den Betrachter wirkte wie ein gemeingefährlicher Irrer, der mit allen Mitteln darum bemüht ist, sich selbst und seiner Umgebung Schaden zuzufügen. Gab es keine Hoffnung für den Menschen? In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf den Schnee. Zwischen den Kiefern trat eine dunkle Gestalt hervor und ging mit ruhigen Schritten über die mondbeschienene, verschneite Lichtung. Der Mann ging mit unbedecktem Haupt, seine grauen Locken flatterten im Nachtwind. Ich erkannte ihn. Es war Z. Ohne Eile kam er auf mich zu, reichte mir die Hand und lächelte. »Der Stubenarrest ist zu Ende«, sagte er heiter. »Jetzt können wir auf gnädiges Wetter hoffen.«
Seine Stimme war mild und gleichmütig. Wortlos machten wir uns auf den Weg durch den Wald auf das Gasthaus zu. Ich hätte ihm gern etwas über das gesagt, von dem mein Herz und Verstand in dieser Stunde erfüllt waren. Aber in der kurzen Zeit, während der wir durch den Wald gingen, musste ich gespürt haben, dass auch dieser Mann nicht zu denen gehörte, die glauben wollten, dass der Verstand unbedingt stärker ist als die Empfindungen. Dieses Gefühl war beunruhigend. Ich schwieg. Z. ist Künstler – so dachte ich, als ich an seiner Seite durch den tiefen Schnee stapfte –, und der Künstler ist in der menschlichen Gesellschaft derselbe erstaunliche Überschuss wie das Gefühl in der menschlichen Struktur. Ich konnte nicht von ihm verlangen, dass er sich mit Haut und Haar auf die Seite des Verstandes stellte. Und zugleich – in all den gemeinsam verbrachten Tagen dort oben auf dem Berg hatte ich das nicht so stark gespürt – lebte dieser Mann außerhalb aller gesellschaftlichen und menschlichen Übereinkünfte. Was konnte ich ihn fragen? Ich spürte, dass auch er einer der freiwilligen Auswanderer war, die vor den Angriffen der Zeit in den Urwald einer riesigen Einsamkeit geflohen waren wie zur Zeit des Tatarensturmes die Priester mit den heiligen Rollen. Seine Disziplin, sein vollkommenes Benehmen, seine Höflichkeit, die wortlose Ruhe, mit der er hier an meiner Seite bergauf ging, auf dem steilen, rutschigen Bergpfad, all das wirkte eher distanzierend, als dass es zu einem Gedankenaustausch einlud. Aber als wir ans Haus gelangten, das mit seinen geschlossenen Rouleaus blind und mit kompakter, zwergenhafter Kraft dunkel auf dem Berggipfel stand – auch hier oben, in der Welt der schneebedeckten Gipfel, wurden die Verdunklungsbefehle befolgt, als stünde zu befürchten, dass ein Flugzeug auf dem Beutezug gerade hier eine von den erbarmungslosen Bomben fallen ließ –, blieb Z. stehen. Der Mond beleuchtete scharf sein Gesicht, das in dem kalten, harten Licht schimmerte wie eine Maske auf der Bühne, im tödlichen Strahl künstlichen Glanzes. Dieses Gesicht war weiß, sehnig, knochig – und es lächelte. Es war ein sonderbares, kaltes, starres Lächeln. Ja, wie eine Maske in einem alten Drama gelächelt haben mochte, als die Schauspieler noch Larven trugen. Dieses Lächeln war weder spöttisch noch vertraulich, es war diszipliniert, improvisiert, als wäre es mit weißer Farbe auf das schlanke Gesicht gestrichen. Eine Zeit lang standen wir stumm. Z. regte sich nicht, auf seinen Stock gestützt, schien er in der sonderbaren Kulisse von Abend und Mondlicht auf ein Zeichen zu warten wie ein Schauspieler, der den Wink des Regisseurs erwartet, um mit dem Sprechen zu beginnen. Dieses stumme, kalt lächelnde, alte Männergesicht mit den scharfen Zügen wirkte im Mondlicht gespenstisch.
»Warum lächeln Sie?«, fragte ich unwillkürlich und ruhig. Das war eine persönliche Frage, eine Art Angriff, sie passte nicht zu dem Tonfall, der sich zwischen uns herausgebildet hatte, aber ich konnte nicht mehr schweigen.
Das kalte Lächeln verschwand nicht von seinem Gesicht, seine Augen sahen mich mit gläserner Starre an, sein Gesicht lächelte, aber die Augen nicht. »Vielleicht muss man ein Opfer bringen«, sagte er so langsam und gedehnt, wie ein Erwachsener mit einem Kind spricht, wenn er schwer verständliche Kenntnisse mit schlichten und wesentlichen Worten erklären will.
»Sie denken an die Toten«, sagte ich, wie ein guter Schüler, der das Wesentliche der Lehre verstanden hat.
Er nickte. »An die Toten«, sagte er ernst und dehnte das Wort, »und an all die anderen, die in dieser Stunde gehen. Und morgen, für immer.«
Ich fühlte mich unbehaglich und bemühte mich, lächelnd und in leichtem Ton zu antworten, als könnte ich dem Gespräch in dieser Stimmlage etwas von seinem düsteren Sinn nehmen. »Zu jeder Zeit glaubten die Völker an das Opfer«, sagte ich, »aber manchmal ist es sehr schwer, seinen Sinn zu verstehen. Besonders den Sinn von Menschenopfern.«
Eigensinnig erwiderte er: »Opfer müssen gebracht werden. Anders gibt es weder Veränderung noch Erlösung.«
Wir rührten uns nicht. »Das sind alte Gefühle«, antwortete ich nachgiebig. »Und doch kann ich nicht glauben, dass diese beiden Unglücklichen ihr Leben bewusst geopfert haben. Es gibt auch die Nervenkrankheit. Es gibt auch Unfälle.«
Er nickte zustimmend und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock. »Der Wert des Opfers hängt nicht davon ab, wie sehr der, der geopfert wird oder sich selbst opfert, an die Erlösung glaubt. Das Opfer ist eine Tatsache. Sie sehen, das Wetter hat sich geändert«, sagte er und blickte zu den verschneiten Bäumen, die im Mondlicht badeten. Dieser gläserne Blick, das Mechanische in seiner Stimme, sein feierlich ernsthaftes Benehmen und das kühle Lächeln, das nicht von dem schlanken, priesterlichen Gesicht wich, bestürzten mich. Kalt lief es mir den Rücken hinunter. Dieser Mann ist verletzt, dachte ich im selben Augenblick. Vielleicht war er deshalb von der Weltbühne verschwunden. Aber wo war er verletzt? An der Seele oder am Körper? Die lächelnde, weiße Maske antwortete nicht auf diese stumme Frage.
»Der Wetterwechsel ist eine Tatsache«, erwiderte ich, »und ebenso auch, dass diese beiden Unglücklichen gestorben sind. Aber Sie können nicht im Ernst behaupten, dass es zwischen diesen beiden Tatsachen einen Zusammenhang gibt!«
Geduldig antwortete er: »Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich denke nur laut nach. Ich bin ein Mensch und glaube immer mehr, dass alles, was die Menschen angeht, nicht nur für sich existiert, sondern auch vom Menschen abhängt. Zwischen Natur und Menschen könnte es Zusammenhänge geben, die wir nicht kennen. Denn hinter allem ist Gott.« Er sagte es einfach, ohne Betonung, natürlich und mitteilsam, als bemerkte er: »Es gibt nur dort organisches Leben, wo Luft ist«, als erwähnte er ganz beiläufig eine allgemein bekannte, alltägliche Tatsache. »Viele Menschen wissen das nicht und leugnen Gottes Existenz. Das war zu allen Zeiten so. Unsere Zeit ist deshalb so unglücklich, weil sie Gott nicht mehr unmittelbar spürt. Religion gibt es noch, ja, aber das ist nicht dasselbe. Und es gibt Menschen, die glauben, religiös zu sein, weil sie sich fürchten, und die beten, die flehen zu den Heiligen. Aber auch das ist nicht die absolute Beziehung zu Gott, ohne die das Leben nichts anderes ist als eine Serie fürchterlicher Unfälle. Wer Gott kennt, ist vielleicht nicht einmal immer religiös. Ich beispielsweise bin überhaupt nicht religiös«, sagte er gleichmütig. »Ich gehe manchmal in die Kirche, aber ich schaue mir eher die schönen Bilder an oder genieße die alte Musik und sehe den ernsthaften, reifen Bewegungen des Rituals zu. All das ist sehr schön, aber so billig kommt man Gott nicht nahe. Es braucht auch Opfer«, sagte er eigensinnig. Er sprach ohne Umschweife und Einleitung wie jemand, der nicht versteht, warum er in einem Gespräch zwischen zwei Menschen über etwas anderes reden sollte als über das Wesentliche.
»Die Frau war nervenkrank«, wiederholte ich leicht verlegen, wie jemand, der diesen vertraulichen Informationen nicht weiter nachgehen und auf dem Boden der Tatsachen bleiben wollte.
»Ja«, sagte er, »die Ärmste. Und der Mann fiel dem kranken Willen zum Opfer, den die Nerven der Frau ausstrahlten.« Leise und vertraulich fügte er hinzu: »Dieser Mann war vollkommen dumm. Durch die dünne Bretterwand hörte ich ihre nächtlichen Gespräche, ob ich wollte oder nicht. Er war dumm wie ein Holzklotz. Er verstand überhaupt nicht, was mit ihm geschah. Geweint hat er, die Frau angefleht, dass sie in die Stadt zurückkehren sollten, zu ihren Familien. Stellen Sie sich nur vor, der Ärmste fühlte sich, als hätten ihn Bösewichte entführt – er verstand einfach nicht, was er hier suchte, an der Seite der alternden Frau, oben auf dem Berg, in einem Hotelzimmer, fern von allem, was der Sinn seines traurigen und einfachen Lebens war. Fern von der Arbeit, von der Familie, von seinen schmierigen kleinen Machenschaften, fern von seinem Freundeskreis, fern von den Menschen, für die Liebe niemals etwas anderes war als ein kleines Geschäft, händereibend und katzenfreundlich abgewickelt zum eigenen Vorteil – er verstand einfach nicht, was Gott von ihm wollte, als er ihn so aus seiner Lebensbahn warf. Das verstehen die Menschen selten.«
Ich schwieg. All das war, selbst im Mondlicht und in der ahnungsvollen Stimmung des abendlichen Zaubers, übertrieben, es hörte sich an, als spräche jemand vom jenseitigen Ufer aus.
»Ich glaube immer mehr an Opfer«, fuhr er dann fort. »Und was jetzt in der Welt geschieht, ist nichts anderes als ein Opfer. Was meinen Sie, nehmen die großen Völker, nimmt die gesamte Menschheit ohne Grund diese Leiden auf sich, vergießt Blut, zerstört die schönsten Gebäude und Einrichtungen? Glauben Sie wirklich, dass allein der Wille irrgläubiger und schlechter Menschen all das verursacht? Ist die Ohnmacht, mit der die Menschen dem Willen der Kriegsführer gehorchen, tatsächlich so tief, dass sich eine Milliarde Menschen nicht gegen den Willen einiger Männer und einiger Systeme wehren kann und blind alle Arten der Selbstvernichtung durchführt?« Jetzt sah er mir starr ins Gesicht.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich ruhig. »Aber die Ohnmacht großer Massen ist ein außergewöhnlich komplexes Phänomen. Und es ist sicher, dass einige Männer und einige Systeme, wie Sie sagen, mit ihren brachialen Strukturen Milliarden von Menschen über längere Zeit ihren Willen aufzwingen können. Wir sollten die Wirklichkeit nicht unterschätzen.«
Er sah in den Mond. Dann sagte er, mit gläsernem Blick: »Die Menschen wollen Opfer, weil sie nur so hoffen können, dass sie Gott wieder begegnen. Sie wollen Opfer, deshalb nehmen sie all das auf sich. Weil sie ohne Gott nicht leben können.« Er sah in den Mond, und ich beobachtete sein Gesicht.
Er rührte sich nicht von der Stelle, und auch ich hatte es nicht eilig, ins Gasthaus zu kommen, wo uns die vorhersehbar einfachen Freuden des Heiligen Abends erwarteten: fettige Speisen, ein Festtagsschmaus, den die Augenzeugen des Dramas am Vormittag gewiss nicht versäumen würden zu begehen, wie es sich gehörte.
»Wir haben uns verirrt«, sagte er jetzt. Er wandte sich zu mir und lächelte freundlich, höflich, als wollte er um Verzeihung bitten. »Aber heutzutage verirren sich so viele, wenn sie nach dem Sinn der Erscheinungen forschen, vielleicht haben auch wir Vergebung verdient. Ich wollte nur sagen, dass jeder Volksglaube die Notwendigkeit des Opfers verkündet. Die Primitiven töten oft jemanden, wenn Regen oder Sonnenschein zu lange ausbleiben. Ich glaube natürlich nicht, dass ein Zusammenhang zwischen dem Wetterwechsel hier oben und dem Selbstmord unserer beiden unglücklichen Mitbewohner besteht, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich glaube nur, dass es zwischen allen Erscheinungen Zusammenhänge gibt«, jetzt klang seine Stimme lebhaft und hart, »weil hinter allem Gott ist. So lautet mein Glaube. Und dieser Glaube ist so stark, dass er in keiner Religion mehr Platz hat. Wenn ich die Erfahrung machen muss, dass sich außerordentliche oder ungewohnte Erscheinungen aneinanderreihen, forsche ich nicht lange nach den wahrscheinlichen Zusammenhängen, sondern gebe mich damit zufrieden, dass dies und jenes zur gleichen Zeit geschah, dass also die eine Erscheinung erklärbar oder manchmal lediglich wahrnehmbar mit einer anderen zu tun hat. Die Menschen werden sonderbar taub«, sagte er lebhaft, »und sie werden es nicht nur für Töne. Sie werden taub in den dumpfen Geräuschen des Lebens, hören das Wesentliche nicht, nehmen Mahnungen nicht wahr. Aber Gott spricht ständig zu uns und mahnt uns. Natürlich spricht er nicht mit donnernder Stimme aus den Wolken. Manchmal spricht er ganz leise. Seine Ratschläge und Mahnungen sind wortkarg. Wer hat gesagt, er habe sein Leben lang eine Stimme gehört, die ihn mahnte, Dinge nicht zu tun, aber eine Stimme, die ihm einflüsterte, was er zu tun habe, habe er niemals gehört? Sie erinnern sich nicht? Ich mich auch nicht. Vielleicht war es Goethe. Schließlich lastet man alle derartigen Weisheiten Goethe an. Ja, Goethe hatte das absolute Gehör. Nicht ohne Grund hasste er das Monokel und alle Instrumente und Hilfsmittel, die den Menschen faul machen, sodass er nicht mehr bereit ist, die Erscheinungen der Welt unmittelbar wahrzunehmen. Die Menschen der großen alten Kulturen, die assyrischen, babylonischen, chaldäischen Wissenschaftler, Sternforscher, Physiker, Chemiker lebten auch ohne Instrumente ganz nah an den Geräuschen der Welt, hörten alle Töne im Himmel und auf der Erde, nahmen sie wahr und zogen genaue Schlussfolgerungen. Wir, mit unseren Fernrohren und Retorten, erkennen die Details genauer, sind aber vom Ganzen weiter entfernt. Gott flüstert den Menschen nicht zu, was sie tun sollen, denn ihr Schicksal ist es, dass sie einen freien Willen haben. Aber wer noch nicht ganz taub ist, hört doch immer die verbietende Stimme. Die beiden waren schon taub, die Ärmsten«, sagte er mit einer überlegenen, verzeihenden Bewegung und wies auf das Tal, wo die beiden Toten jetzt in einer dörflichen Leichenkammer ruhten. »Sie sind taub geworden vom Lärm der missgestalteten Leidenschaft, die auf sie eingestürzt ist wie Donnergetöse und Wasserfall. Was glauben Sie, was zwischen ihnen gewesen sein mag? Ein sinnlicher Blitzschlag mit hoher Temperatur? Das glaube ich nicht. Was treibt solche Menschen zusammen, was reißt sie aus ihrem Heim, aus ihrer Familie, ihren sicheren Kleinigkeiten, was jagt sie in die Wüste oder auf den Berggipfel, wo sie zugrunde gehen wie wehrlose Tiere, wenn sie hinterm Rudel zurückbleiben? Was ist diese Kraft?«, fragte er laut und richtete sich auf.
Hager stand er im funkelnden, kalten Licht, auf seinen Stock gestützt war er jetzt so eine sonderbare Erscheinung wie ein alter biblischer Hirte mit weißem Gesicht, flatternden Locken und starrem Blick – ein Hirte, der über das Schicksal seiner Herde grübelt. Ich störte ihn nicht.
»Gehen wir hinein?«, fragte er dann und wies mit der Spitze seines Stockes auf das Tor des dunklen Hauses.
Seine Stimme klang entschuldigend, als wollte er um Verzeihung bitten für die Leidenschaftlichkeit, mit der er auf meine Frage geantwortet hatte. Nach mehrtägigem höflichen Schweigen hatte er die Stille mit einer unverhältnismäßigen, wilden Vertraulichkeit gebrochen und bat dafür um Entschuldigung. Aber in Wahrheit hatte ich diese vertrauliche Mitteilsamkeit weder als übertrieben noch als ungewöhnlich empfunden. Was dieser Situation vorangegangen war, der außergewöhnliche Augenblick, der mild-beklemmende Zauber des Heiligen Abends und die unbedingte Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit, die vielleicht von Z.s Wesen noch mehr ausging als von seinen Worten, all das hatte verursacht, dass ich diese unerwartete Wende unseres Treffens und den überraschenden Tonfall des Gesprächs als natürlich empfand. Wir traten ins Haus, wo uns tiefe Stille empfing. Das Radio schwieg, die Nimrods pafften wortlos an ihrem Tisch und hoben leise ihre Weingläser, der von der Leidenschaft der Fotografie ergriffene alte Beamte beugte sich wie ein ertappter Schüler schützend über seine Alben und hatte sichtlich keine Lust zu irgendwelcher Konversation. Der Tannenbaum stand, geschmückt mit roten Äpfeln und weißen Kerzen, auf einem Tisch mitten im Speiseraum, die Gastwirte zeigten mit entschuldigender Bewegung, dass sie an diesem Abend für mich an Z.s Tisch gedeckt hatten, weil der Weihnachtsbaum meinen Platz einnahm; und Z. lud mich mit einer höflichen Bewegung an seinen Tisch ein. Das Abendessen war reichlich, als bemühte sich der Gastwirt, mit den Freuden der Küche wiedergutzumachen, was seinen Gästen an diesem Tag Betroffenheit, Abscheu und Enttäuschung beschert hatte. In der missgelaunten Stille aßen wir eilig zu Abend und waren noch nicht einmal mit den fettigen Gerichten fertig, als sich der Fotograf und Kunstliebhaber verabschiedete. Sofort danach machten sich auch die Jäger auf – still und verlegen wünschten sie eine gute Nacht und frohe Feiertage und eilten auf ihre Zimmer. Vorsichtshalber nahmen sie noch eine unangebrochene Flasche Wacholderschnaps mit. Es mochte neun Uhr sein, als das Abendessen abgetragen wurde, und wir blieben an Z.s Tisch allein im Speiseraum sitzen.
»Sind Sie müde?«, fragte er freundlich. Ich beruhigte ihn, dass ich nicht müde sei, und sagte: »Ich glaube, mit einem Glas leichten Sandweines könnten wir diesen traurigen Abend dennoch feiern.« Und er bat die Serviererin um weißen Wein und Stahlwasser.
»Frohe Weihnachten«, sagte er ernst, als Wein und Wasser gebracht wurden, und hob das Glas.
»Frohe Weihnachten«, erwiderte ich.
Wir schwiegen. Wir beide waren die Einzigen in dem Raum.
»Frohe Weihnachten«, sagte er noch einmal ruhig und stellte das Stielglas auf die karierte Tischdecke. »Was für ein großes Wort das ist, wie schön es klingt. Sein Klang ist so ernst und voll wie eine Bach-Fuge.« Ehrliches, wohlwollendes Interesse klang in seinen Worten. »Wäre es gut zu verstehen, was mit den Menschen geschieht?«, fragte er vertraulich und beugte sich im Sitzen vor; mit kalt glänzenden Augen musterte er mich neugierig und forschend.
»Mit den Menschen? An wen denken Sie?«, fragte ich zurück. »An die Unglücklichen, die in der vergangenen Nacht ein plumpes Abenteuer überfahren hat, dieses groteske Unglück der Leidenschaft?«
Er stützte den Ellbogen auf die Knie, beugte sich nah zu mir und sah mich mit einem kalten, starren Blick an, der vor kühlem Licht brannte wie die Augen eines Tieres im Dunkeln. Lange antwortete er nicht.
»Alle Menschen«, sagte er langsam und gedehnt, »müssen eines Tages die Leidenschaft auf sich nehmen wie ein Kreuz. Nur im Feuer werden Menschen und Welt von der Sünde gereinigt. Glauben Sie, die Welt brennt ohne Grund, jetzt, in jeder Stunde, bei Tag und Nacht?«
Dies fragte er aus einer solchen Nähe, in so beunruhigendem Tonfall, dass ich erschauderte, mir lief es kalt über den Rücken, im wahrsten Sinne des Wortes. »Was wollen Sie sagen?«, fragte ich verlegen.
Reglos, den Kopf seitlich geneigt und in die Hand gestützt, sah er mich starr an – und dieser Blick war so drängend wie eine Frage. Alles, was in dieser Situation unbequem und übertrieben war, schmolz in der sengenden Hitze dieses Blickes. Niemals, bei keiner Begegnung hatte ich eine solch sonderbare Nähe gespürt wie an diesem Abend, in diesem Augenblick. Ich kann dem Gefühl keinen Namen geben, ich erinnere mich nur, dass mich eine außerordentliche Erregung des Wartens ergriff. Dies war einer der seltenen Momente im Leben, in denen ein Mensch dem anderen mit der Kraft der Leidenschaft, der Besessenheit oder des Glaubens etwas von dem verborgenen Sinn der Welt aufdeckt; so empfand ich es damals. Alles, was an diesem Tag geschehen war, und alles andere, was gerade in der Welt geschah, mischte sich eigentümlich in Z.s Worten.
»Ich will sagen«, antwortete er gedehnt, »dass ich durch den Willen der Leidenschaft schon am jenseitigen Ufer war. Für einen Menschen ist dies der einzige begehbare Weg, wenn er erlöst werden und zu Gott gelangen will. Und wer will nicht erlöst werden?«, fragte er ruhig. Und als ich schwieg, fuhr er fort: »Wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, dass wir beide hier auf dem Berg zusammengekommen sind und hier diesen Heiligen Abend gemeinsam verbringen. Sie kannten eine Mitwirkende meiner Geschichte.«
Ich verstand, dass er an die Dame dachte, in deren Salon wir uns vor vielen Jahren getroffen hatten, und bedeutete ihm, dass ich seine vertraulichen Worte zu deuten wüsste.
Die nachfolgende Stille war tief und dicht. Verstohlen sah ich auf meine Armbanduhr. Es war bereits nach neun Uhr – hier auf dem Berggipfel wurde die Zeit anders gemessen als in der Stadt, und an den vergangenen Abenden hatte ich mich um diese Zeit meist schon von der Gelegenheitsgesellschaft verabschiedet. Aber jetzt hätte ich es als taktlos empfunden fortzugehen. Ich weiß selbst nicht, was ich erwartete, vielleicht etwas wie ein nächtliches Gespräch, was mich nach dem Vorausgegangenen nicht überrascht hätte, oder ein großes Bekenntnis als pathetische Beendigung dieses Tages. Aber Z. war verstummt. Dann – zu meiner Überraschung – gähnte er ausgiebig.
»Ich bin müde«, sagte er, streckte sich und stand auf. »Was für ein Tag das war! Haben Sie die Zeitungen gelesen? Auf einem entfernten Erdteil vernichtet ein Erdbeben die Städte, in einer nahen Hafenstadt auf dem Balkan wurde die Pest festgestellt, am Vormittag haben die Bomben wieder eine europäische Stadt zerstört. Krieg, Seuche, Erdbeben, alles trifft wunderbar aufeinander. Ja, dies sind die Zeichen der Apokalypse.« Er gähnte wieder. Jetzt fehlte seiner Stimme jede dramatische Spannung, er sprach gleichmütig, als stellte er Berechnungen an über das Ergehen der Welt und zuckte ohnmächtig mit den Schultern. Und dann sagte er unvermittelt: »Es ist klüger, wenn wir uns hinlegen. Dieses Weinchen ist es wirklich nicht wert, dass wir bei ihm wachen.« Er ging zur Tür. Ich stand auf und folgte ihm langsam.
»Ich dachte«, sagte ich in der Tür, »Sie wollten noch etwas sagen.«
Er blieb auf der Schwelle stehen und sah mich erstaunt an. »Sagen? Was könnte ich sagen? Wir haben einander doch alles gesagt.« Nachdenklich sah er an die Decke und schüttelte den grauen Kopf. »Nein, mein lieber Freund, ich weiß wirklich nicht, was ich noch sagen könnte. Was können wir Menschen einander sagen? Es hilft ja nichts.« Nun sprach er lebhafter: »Sie haben heute gesehen und erlebt, dass nichts hilft. Die unverständliche und wilde Leidenschaft reißt die Menschen aus ihrem Schicksal heraus, die Revolte der Elemente vernichtet die menschliche Welt, im Großen und im Kleinen ist es immer dasselbe Drama, hier auf dem Berg das dissonante Trauerspiel einer kranken Frau und eines dummen Mannes, unten im Tal die Schicksalstragödie der winselnden, vor ihrem Verhängnis wimmernden Menschheit. Überall die Zerstörung, weil die Menschen Gott nicht mehr kennen. Wollen wir darüber sprechen? Wollen wir klagen wie ein griechischer Chor? Aber Sie wissen das alles ja auch. Sie sind Schriftsteller, Sie müssen wissen, dass der Mensch ohne Gottes Hilfe keine Zuflucht auf Erden hat.« Wieder zuckte er mit den Schultern und machte sich auf den Weg. Doch auf der ersten Treppenstufe blieb er noch einmal stehen und wandte sich um.
»Wie lange bleiben Sie hier?«, fragte er ruhig.
Im Haus, so schien es, schliefen schon alle. Ich antwortete halblaut, dass ich noch zwei Tage bleiben und am zweiten Feiertag nach Hause fahren würde. Z. nickte. »Am Ende der Woche reise ich auch ab«, sagte er. »Ich gehe in die Schweiz, für lange Zeit.«
Ich antwortete etwas in der Art, dass sich alle seine Anhänger freuen würden, wenn sie ihn wieder am Klavier sehen könnten. Im Halbdunkel sah er mich mit nachdenklichem, forschendem Blick an.
»Am Klavier? Mich?«, fragte er, und in seiner Stimme klang ein so ehrliches Staunen, als hätte ich ihm kränkende und unmögliche Dinge unterstellt; als hätte ich ihm zugetraut, heimlich Laubsägearbeiten zu machen oder Bären zu zähmen.
»Ich dachte, Sie geben in der Schweiz Konzerte«, sagte ich verlegen.
Er zog eine Taschenlampe heraus, rückte die Batterie zurecht und ließ den Lichtstrahl der Lampe aufblitzen, als suchte er etwas am Boden. »Konzerte, ich?«, murmelte er zerstreut und betrachtete die Treppe. Unvermittelt sah er mich mit erhobenem Kopf an und leuchtete mir zugleich mit der Lampe ins Gesicht. »Wissen Sie es denn nicht?«, fragte er lauter, als zweifelte er an meinen Worten und beleuchtete deshalb mein Gesicht. »Ich werde nie wieder ein Konzert geben.«
Als er verstummte und seine Worte nicht erklärte, erwiderte ich verlegen, dass ich über seine Absichten nichts wüsste.
»Meine Absichten«, sagte er gleichmütig. »Ich habe keinerlei Absichten. Ich kann nur nicht mehr spielen. Nie wieder«, sagte er ruhig.
»Was ist geschehen?«, fragte ich halblaut, erschüttert.
»Nun, das«, antwortete er und hob die rechte Hand. Drei Finger knickte er ein und hielt mir den kleinen Finger und den Ringfinger direkt vor die Augen. Ich sah keinerlei Verletzung an ihnen.
»Haben Sie Schmerzen in der Hand?«, fragte ich verwirrt.
»Nein, sie tut nicht weh«, antwortete er. »Sie ist gelähmt. Diese beiden Finger sind gelähmt. Ein ganz kleiner Nerv geht hier entlang«, sagte er mitteilsam, freundlich, als vermittelte er einem Uneingeweihten eine elementare Kenntnis. »Ein Bewegungsnerv, der diese beiden Finger versorgt. Dieser Nerv ist abgestorben, in der Krankheit verbrannt. Ich kann mich nie wieder ans Klavier setzen.« Er sprach ohne Betonung. Als wartete er geduldig auf die Fragen eines neuen Schülers, sah er mich mit abwartendem, freundlichem Blick an.
»Wann ist das geschehen?«, fragte ich sehr leise.
»Vor drei Jahren«, antwortete er. »Vor drei Jahren und vier Monaten. Im September, als der Krieg ausbrach. Wussten Sie es nicht?«, fragte er und spielte mit der Lampe, löschte das kleine Licht, entzündete es wieder.
»Nein«, sagte ich beschämt. Und als wollte ich ein Versäumnis erklären, murmelte ich entschuldigend: »Ich wusste nur, dass Sie sich zurückgezogen haben, selten auftreten, dass Sie sich mit der Lehre beschäftigen.«
Er zuckte mit den Schultern: »Von irgendetwas muss ich ja leben.« Dann ging er langsam die Treppe hinauf.
Wortlos stolperte ich ihm nach. Auf dem Flur im Obergeschoss gingen wir an der versiegelten Tür vorbei – an dem Zimmer, in dem sich das nächtliche Drama abgespielt hatte. Z. blieb nicht stehen, ruhig ging er weiter. Am Ende des Flures, vor meinem Zimmer, wandte er sich um und reichte mir die Hand.
»Gute Nacht!«, sagte er unmittelbar und warm. »Wir hatten einen schweren Tag, nun lassen Sie uns schlafen.«
Ich drückte seine Hand und ließ sie nicht los: »Was ist mit Ihrer Hand geschehen?«, fragte ich halblaut. »Können Sie es sagen?«
»Das habe ich doch gesagt«, antwortete er geduldig. »Vor drei Jahren wurde ich krank. Ich lag lange in einem Krankenhaus in Florenz. Zwei Finger blieben gelähmt. Das ist alles.«
Wir schwiegen.
»Ich wusste nichts von alledem«, sagte ich.
»Nun, man brüstet sich nicht mit so etwas«, erwiderte er freundlich. »Es ist mir gelungen, aus den Konzertsälen zu verschwinden, ohne dass ein Hahn nach mir gekräht hätte. Auch daran können Sie sehen, was das Ganze wert ist.« Und leise, seltsam brummend lachte er.
»Das Ganze? Was?«, fragte ich.
»Nun, der Ruhm, die Welt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Aber das ist ja abscheulich«, sagte ich unwillkürlich. »Sie können sich nicht mehr ans Klavier setzen.«
Mit seitlich geneigtem Kopf sah er mich ernst an.
»Abscheulich?«, fragte er gedehnt und gleichmütig. »Vielleicht wäre es abscheulich, wenn es unerwartet auf einen einschlüge. Aber es hat alles seine Regel und Ordnung. Bis man in einer Situation versunken ist, vergeht viel Zeit, und wir gewöhnen uns an die Veränderung. Stellen Sie sich nur vor«, er sprach jetzt lebhafter, »der Menschheit wäre vor fünf Jahren all das klar geworden, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, vielleicht hätte es die ganze menschliche Rasse in den Wahnsinn getrieben. Weil aber alles nach und nach eingetreten ist, haben wir uns daran gewöhnt. Und wir werden uns auch an das gewöhnen, was noch kommen wird.«
Ich ließ seine Hand los und stand ratlos im Dunkeln.
»Was hatten Sie?«, fragte ich dann. Dieses geheimnisvoll geflüsterte Gespräch auf dem Flur des Hotels war, als unterhielten sich zwei Komplizen über ein altes Verbrechen.
»Eine Krankheit«, erklärte er schlicht. »Sie hat auch einen Namen, einen sehr schönen sogar. Aber dieser Name ist nur ein Abfalleimer, alles Mögliche wird hineingeworfen. Die Wirklichkeit ist die Krankheit, nichts anderes. Und die Wirklichkeit ist auch, dass man mir die Musik genommen hat. Jetzt muss ich leben, wie ich kann. Deshalb reise ich in die Schweiz.«
Ich fragte ihn, ob er wünsche, dass ich meinen Schweizer Freunden schriebe; vielleicht kannten sie eine Heilmethode, die bei seiner Lähmung helfen konnte?
»Ich glaube nicht«, sagte er ruhig. »Aber danke für Ihren guten Willen. Mir kann niemand helfen. Denn nicht nur die Musik hat mich verlassen, zugleich habe auch ich die Musik verlassen. Dafür gab es einen Grund. Und diese beiden, die Krankheit und meine Flucht vor der Musik, hingen zusammen. Diese Lektion«, sagte er noch, »habe ich gründlich gelernt. Vierzehn Milliarden Nervenzellen gibt es im menschlichen Organismus, und diese Zellen erneuern sich nie. Wenn eine Nervenzelle einmal zerstört ist, kann man sie nicht wieder zum Leben erwecken. Die Blutzellen, das Gewebe, die Knochen, alles kann sich erneuern, aber die Nervenzellen sind einmalig. Vierzehn Milliarden!« Er lachte. »Eine schöne Zahl. So reich sind wir. Denken Sie nur, vierzehn Milliarden Fotozellen, und in jeder eine Erinnerung, ein Reiz, kleine Fotografien, und sie alle schaltet der Verstand; uns kommt ein Gesicht aus Kindertagen in den Sinn, dessen Andenken in irgendeiner Nervenzelle lebt. Mir fehlen nur die paar Hunderttausend Nervenzellen, die die beiden Finger der rechten Hand bewegen. Ansonsten bin ich vollkommen genesen. Ich könnte auch sagen, ich hatte Glück, andere bleiben nach einer solchen Krankheit für ihr ganzes Leben gelähmt, sie können nicht gehen, müssen gefüttert werden, können manchmal nicht einmal schlucken oder sprechen, werden taub. Zu mir war die Krankheit gnädiger. Sie hat mir nur die Musik genommen.« Er sagte das mit natürlicher und großmütiger Ergebenheit, wie ein König im Exil sprechen kann, wenn er feststellt, dass man ihm nur sein Reich genommen hat.
»Ja«, sagte ich verlegen. »Jetzt verstehe ich. Nun, so sieht natürlich alles anders aus.«
Aber er ließ nicht zu, dass ich es mit diesem Gemeinplatz beendete. »Bedauern Sie mich nicht«, sagte er lebhaft. »Die Krankheit gibt genauso viel, wie sie einem nimmt.«
»So viel wie die Musik?«, fragte ich taktlos.
»Anderes, aber genauso viel«, sagte er eigensinnig. »Ich habe es einmal aufgeschrieben. Ich wollte all das verstehen, was geschehen war, deshalb habe ich es niedergeschrieben. Ich habe jetzt nichts anderes zu tun. Möchten Sie es lesen? Ich kann mich keines literarischen Werts rühmen, da kann ich Ihnen nichts versprechen. Aber Sie, als Schriftsteller, werden es vielleicht verstehen.« Er seufzte. »Es ist in der Tat sehr schwer, unsere Erfahrungen anderen weiterzugeben. Ich meine, das, was geschehen ist, können wir vielleicht aufschreiben, wie man einen Sichtbefund notiert. Aber das, was der Grund für alles war, das ist sehr schwer niederzuschreiben. Beinahe unmöglich. Die Schriftsteller tun mir leid.«
Ich versuchte in scherzhaftem Tonfall zu antworten, dankte ihm im Namen der Schriftsteller für seine Anteilnahme, die berechtigt sei, und fügte an, natürlich werde es mir eine Freude und Ehre sein, gelegentlich seine Aufzeichnungen lesen zu dürfen.
»Ja«, sagte er und reichte mir noch einmal energisch die Hand. »Später. Sehr gern. Gute Nacht!« Und er ließ mich auf dem Flur stehen; ohne sich umzusehen, ging er in sein Zimmer. Ich hörte, wie er die Tür abschloss.