Weiß waren die Wiesen entlang des Ärmelkanals, weiß der ganze Küstensaum, Antoine Kirchner lachte auf, als er die Fensterläden seines Schlafzimmers an diesem Dezembermorgen aufstieß. Zwölf Jahre lang hatte es nicht mehr geschneit in diesem Winkel der Normandie, grün waren die Winter immer geblieben, aber nun hatte sich der Himmel eine ganze Nacht lang ausgeschneit und die Welt draußen weihnachtlich verkleidet.
»Schnee …«, sagte Kirchner staunend vor sich hin, dann rief er laut und gut gelaunt zum Vater, den er unten in der Küche vermutete: »Georges, was denkst du? Gehen wir heute Schlitten fahren? Bist du da unten irgendwo?«
Georges war da unten, hörte ihn aber nicht, weil er wie immer das Radio sehr laut laufen hatte, wenn er allein war, Radio Bleu. Sie spielten gerade Michel Sardou, und der Alte pfiff mit, übermütig trillernd: Elle court, elle court, la maladie d’amour … Er kochte Kaffee.
Kirchner konnte es riechen und das Fauchen der Maschine hören, als er an seinem Waschtisch stand und sich rasierte. Ein ruhiges, behagliches Wochenende lag vor ihm, er schaute vergnügt zum Fenster hinaus, wo die winterliche Sonne um diese frühe Stunde wie ein fahler Lampion in einen wolkenlosen Himmel aufstieg.
Spazieren gehen am verschneiten Strand, Feuer machen im Kamin, dachte Kirchner, später ein paar Austern, ein Glas Weißen dazu, das wird schön.
Er war erst drei Tage zuvor aus Kapisa zurückgekehrt, einer afghanischen Provinz, in der eine ganze Kompanie französischer Gebirgsjäger in einen Hinterhalt und eine fürchterliche Schlacht geraten war. Vierzehn Männer starben aufseiten der Franzosen, dreiundzwanzigjährige Leutnants, Gefreite von gerade achtzehn Jahren. Kirchner hatte sich aufgemacht, die Vorgänge, die schon ein paar Wochen zurücklagen, zu rekonstruieren. Es war eine harte, traurige Arbeit, die aber getan werden musste, davon war er überzeugt, und sei es nur zu Ehren der Opfer auf beiden Seiten.
Le Monde machte eine starke Doppelseite daraus mit den erschütternden Fotos von Piedro Pellegrini, der am Tag der Schlacht dabei gewesen war und überlebt hatte. Kirchners Text, geschrieben auf der Basis von vielen Gesprächen mit Augenzeugen, nach vielen Ortsbegehungen, Hubschrauberflügen, langen Fahrten durch Feindesland, schilderte kalt und klar die Realität des Krieges in Afghanistan. Die Reportage war verfasst im ureigenen Ton Kirchners, der immer etwas Feierliches, Hochernstes hatte. So jedenfalls erklärte Henri Pelleton, sein Chefredakteur bei Le Monde, regelmäßig die Wucht seiner Texte.
Pelleton war mehr als nur Kirchners Chef. Er war ein Freund, dabei ein kleiner, lustiger Baske, der im Singsang des Südens sprach und sich gern in Herrenbegleitung zeigte. Er liebte Kirchner, als Schreiber, als Reporter, als Mensch, und ließ ihn das großzügig immer wieder wissen.
Kirchner machte, in seiner langen Pyjamahose, ein paar Kniebeugen am offenen Fenster, die Luft kam frisch und kalt ins Zimmer. Der grand reporter aus der Normandie hatte gut geschlafen nach dem kleinen Festessen am Abend zuvor, mit dem er seine glückliche Heimkehr aus einem Kriegsgebiet wie stets gefeiert hatte.
Zehn Bekannte waren da gewesen, die meisten von ihnen Nachbarn, Bauern aus der Gegend, sie hatten hausgebrannten Calvados mitgebracht oder Austern aus der Bucht, geholt von ihren eigenen Bänken drunten im Wattenmeer. Kirchner hatte sie in seiner gewaltigen Küche bewirtet, groß wie ein bäuerlicher Festsaal. Er tischte eine normannische Potée auf, wie er das nannte, einen fast unanständig üppigen Schmortopf, serviert in schwarzem Eisengeschirr.
Darin vereinten sich vielerlei Zutaten zu einem winterlichen Essen, das die Schneefälle der Nacht vorauszuahnen schien und Kirchner als den begeisterten Koch auswies, der er immer schon gewesen war. Er hatte Speck ausgelassen, Rind- und Lammfleischwürfel angebraten, Wirsing und Zwiebeln angeschwitzt, Kalbsfond angegossen und diese Basis des späteren Ragouˆts im warmen Ofen sehr lange schmoren lassen, bis das Fleisch à point gegart war. In der letzten Stunde hatte er Birnen- und Apfelspalten in Butter gebräunt, Schwarzwurzeln in Kalbsfond mit Rosinen ziehen lassen, er hatte drei Kilo La-Ratte-Kartoffeln geputzt und gekocht und endlich alle Zutaten nach und nach zu seiner großen Potée vereint.
Die Esser um den großen Tisch leerten den Eintopf bis auf den Grund und tunkten am Ende noch mit Baguette auf, was an Säften und Soße übrig war.
Diesen neuen Morgen im Advent begann Kirchner barfuß, nach dem kleinen Frühsport am Fenster streifte er sich ein blütenweißes Hemd über und stieg in eine schwarze Wollhose. Er sprang federnd die Treppe des alten Steinhauses hinab, wo ihn Filou, der schwarze Retriever des Hauses, wedelnd begrüßte und ihm hektisch die Hände leckte.
»Ist ja gut, mein Dicker«, sagte Kirchner zum Hund gebeugt, »ist alles gut. Warst du denn schon draußen im Schnee?«
Georges antwortete für Filou aus der Küche: »Ich hab ihn noch nicht rausgelassen«, sagte er, »ich dachte, das Schauspiel sehen wir uns gemeinsam an.«
Mit diesen Worten trat der Alte aus der Küche, ein kleiner grauer Mann, reichte Kirchner einen Kaffeebecher hin und öffnete mit einem Ruck die Terrassentür auf der Landseite des schiefergedeckten Eindachhofes.
Filou verstand diese Geste als Einladung, ins Freie zu springen, und er tat es mit gewaltigen Sätzen. Bald wütete er lustig und mit fliegenden Ohren durch den Schnee, der glatt dreißig, vierzig Zentimeter hoch gefallen war. Das Tier nieste, glitt aus und genoss sichtlich das in der Normandie so seltene Naturwunder.
»Ich glaube, der Schnee speichert Gerüche«, sagte Kirchners Vater, »deshalb macht er Hunde so verrückt und glücklich.«
»Das sagst du immer über Schnee und Hunde«, gab Kirchner zurück, »einen Beweis dafür hast du mir noch nie gezeigt.«
»Ach, du und deine Beweise, Antoine«, sagte der Vater, »du brauchst immer für alles Beweise. Das ist eine Berufskrankheit von dir, weißt du das eigentlich!? Aber sag mir: Ist dieser Hund da draußen glücklich? Oder brauchst du dafür einen Beweis?«
Kirchner lachte, nickte, hob beschwichtigend eine Hand, dann standen die beiden Männer für eine Weile still, nippten am Kaffee und schauten Filou zu. Der Hund zog in weiten Kreisen durch die schön gestaffelte Landschaft, die normannische bocage, das alte, fein gegliederte Bauernland am Meer. Er schnürte durch die Apfelhaine und Felder, über die mittelalterlichen Wege, die der Schnee verdeckte, das große Weiß lag über dem hügeligen Land wie ein glitzerndes, verrutschtes Tischtuch.
»Schön«, sagte der Alte.
»Schön, ja«, sagte sein Sohn.
Anschließend zog sich Antoine Kirchner an seinen morgendlichen Arbeitsplatz zurück, wie jeden Tag. In der Küche, einer ehemaligen Stallung, die zehn mal sechs Meter maß, stand unter der Fensterreihe zur Meerseite hin sein kleiner Arbeitstisch, auf dem Georges jeden Tag die Zeitungen deponierte. Kirchner hatte allein zwei Dutzend Tageszeitungen abonniert, die nationalen Titel aus Paris natürlich, aber auch viele Regionalblätter: Ouest France hier aus der Gegend, Le Bassin libre, aber auch Blätter von weiter her. Nice-Matin kam mit ein paar Tagen Verspätung per Post, ebenso die Dernières Nouvelles d’Alsace und Le Savoyard libre aus Albertville am Rand der Alpen. Wöchentlich kamen die Frauenmagazine, Elle und Madame Figaro, oder das Katholikenorgan La Vie oder die intellektuelle Fernsehzeitschrift Télérama. Wenn Kirchner das nicht alles las, so überflog er es doch. Beim Blättern wirkte er wie ein Schachspieler, der sich alte Partien einprägt, das Stöbern in Zeitungen und Magazinen war seine Methode, um die eigene Zeitgenossenschaft immer wieder abzusichern. Und er fand hier neue Stoffe, unbekannte Geschichten, abseitige Themen, starke Menschen.
An diesem winterlichen Samstag fehlte der Stapel Zeitungen ganz. Kirchner fand keinen einzigen Titel auf seinem Arbeitstisch, das Schneegestöber der Nacht hatte den Vertrieb der Zeitungshäuser lahmgelegt und nicht nur Calvados, sondern die halbe Normandie vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Region hatte so gut wie keinen eigenen Winterdienst, wozu auch, es schneite ja so gut wie nie.
Also waren nun Räumfahrzeuge aus anderen Landstrichen Frankreichs unterwegs, Georges hatte es im Radio gehört, aus der Picardie wurden Unimogs geschickt, aus Perche, von der Ile-de-France, aber das konnte alles dauern.
»Meinst du, dass die Post heute kommt, Georges?«, fragte Kirchner den Vater, der sich eben eine dicke gewachste Jacke überzog, um in Gummistiefeln ein wenig vors Haus zu gehen und nach den Ziegen zu sehen.
»Das hab ich schon geklärt«, sagte er. »Didier kommt.« Didier war der Briefträger, immer unterwegs in einem gelben Kastenwagen. »Er kommt, sagt er, ich hab mit ihm telefoniert. Vielleicht ein bisschen später als gewöhnlich, wahrscheinlich so gegen halb zehn.«
Kirchner schaltete den Computer an. Bis halb zehn hatte er noch eine gute Stunde, aber er musste seine journalistische Lesesucht sofort irgendwie befriedigen, papierlos. Er klickte sich von SPIEGEL online über die New York Times zur BBC. Englisch und Deutsch waren die Fremdsprachen, die er beherrschte, ein wenig Spanisch auch, aber das reichte nicht zum Zeitunglesen. Er fand im Netz wenig, was seine Aufmerksamkeit band, er vermisste die Blätter, das Blättern, die großen Bögen Papier, die einen viel schnelleren Überblick ermöglichten. Zeitungen, fand Kirchner, vereinfachten das Finden interessanter Artikel; das Internet erleichterte nur das gezielte Suchen.
Ein Feind des Digitalen war er nicht, er wusste um die Stärken des Computers und wie sehr ein Reporter wie er von ihnen profitieren konnte. Allein die Karten, die Luftbilder, jederzeit abrufbar, waren Gold wert. Nur waren ihm eben auch die Schwächen der Technik bewusst, die Unzuverlässigkeit vieler Informationen, die Fragwürdigkeit der Quellen im Netz. Er verachtete insgeheim die Blogger, die immer und überall ihren Senf dazugaben, ohne ein einziges Mal von ihrem Schreibtisch aufgestanden zu sein. Und immer wieder ärgerte er sich darüber, wenn er in einem Flugzeug gerade elektronisch etwas las und das Gerät wegen der nahen Landung ausschalten musste. Jedes Mal dachte er dann: Ein Buch muss man nicht ausschalten. Ein Buch liest man. Einfach so.
Kirchner klickte sich durch die Welt. In Kapisa, Afghanistan, wo er gerade herkam, waren schon wieder zwei französische Gendarmen Opfer eines Bombenanschlags geworden. In Südkorea fanden Bunkerübungen statt, aus Furcht vor einem Atomangriff des Nordens. Die UNO drohte Iran mit weiteren Sanktionen. Vor Australien versuchte die Marine, Bootsflüchtlinge aus Pakistan abzuwimmeln, ähnliche Szenen spielten sich ab um die südlichen, Italien vorgelagerten Inseln. Chicago meldete minus vierzig Grad Celsius. Kirchner zog eine Grimasse und stand auf, um sich Kaffee nachzuschenken.
Die Maschine stand auf der Küchenzeile, die sich an der Stirnseite des Raums erstreckte, nach rechts begrenzt von einem Kühlschrankturm, auf der linken Seite abgeschlossen von zwei hochgebauten Öfen, deren Klappen der Koch bequem im Stehen bedienen konnte. Zwei alte Spülbecken aus weißem Porzellan waren mittig in großzügige Arbeitsflächen aus hartem Holz montiert, die Wand entlang baumelten Kupferpfannen und Eisenbräter griffbereit an Fleischerhaken, Stieltöpfe, Fischkasserollen, Dämpfsiebe. Unter einem schwarzen Waffeleisen stand die Kaffeemaschine, ein schweres deutsches Fabrikat.
Kirchner schenkte sich nach und süßte seine Tasse, wie stets, mit einem knappen Löffel Zucker. Er rührte gedankenverloren und war sehr froh, draußen Didiers gerötetes Gesicht zu sehen, rot von der Kälte und den ersten Schnäpsen, die der Briefträger auf seiner Tour schon zu sich genommen hatte.
Kirchner winkte ihm zum Zeichen, dass er ihn bemerkt habe, verließ die Küche ins Treppenhaus und bog nach links ab zur Haustür auf der Seeseite. Der Windzug beim Öffnen hätte ihm die Tür um ein Haar vor den Kopf geschlagen.
»Aufgepasst!«, rief Didier, »hier kommt der Weihnachtsmann!«
Dann stand er schon prustend, die Stiefel bis zu den Waden weiß vom Schnee, in Kirchners Flur und lud seine Post ab.
»Wie geht’s, Didier?«, fragte Kirchner.
»Wie geht’s dir, Antoine?«, fragte Didier. »Ich war schließlich nicht in Afghanistan. Aber wahrscheinlich haben wir hier gerade mehr Schnee als die Kollegen am Hindukusch, wie?«
Kirchner lachte und fragte Didier, ob er einen Schluck Kaffee haben wolle. »Oder was anderes? Weißt du, ich hatte gestern Bouchot hier, der hat neuen Calvados mitgebracht. Also, ich meine, keinen neuen, sondern einen zwanzigjährigen …«
»Einen zwanzigjährigen?« Didier klappte die Unterlippe um zum Zeichen, dass er beeindruckt sei. »Also weißt du, Antoine, ich wollte ja gerade ›Kaffee‹ sagen, aber bei einem zwanzigjährigen – da tut’s mir leid, den muss ich leider annehmen.«
Kirchner holte zwei Schnapsgläser und trug die Flasche unter den Arm geklemmt, er entkorkte sie, und beide Männer schnupperten.
»Mein lieber Mann«, sagte Didier und nahm Haltung an, »ich trinke auf die Nachsicht unserer Verkehrspolizei.« Dann kippte er sich den Apfelbrand, den ihm Kirchner hinhielt, mit einer schnellen Kopfbewegung in den Rachen. »Wunderbar«, sagte er, »das fühlt sich ungefähr genauso an wie meine Hochzeitsnacht, die war auch vor zwanzig Jahren.«
Didier lachte rau über seinen eigenen Witz, kam dann zum Geschäftlichen und informierte Kirchner, welche seiner Abonnements fehlten.
»Hängt alles fest in Caen«, sagte der Postbote, »die Küste ist verschneit bis hinauf nach Cherbourg, die Züge fahren nicht, das wird jetzt alles eine Zeit lang dauern. Aber schau, Antoine, ein bisschen was hab ich ja trotzdem für dich.« Und mit diesen Worten übergab er Kirchner einen Packen Papier, es waren die stets um Tage verspäteten Regionalzeitungen.
»Das ist doch schon mal etwas«, sagte Kirchner, und er dachte bei sich, so komme ich einmal wieder zu meiner eigenen, kleinen Tour de France.
Keine zehn Minuten später, als Didier gegangen und Kirchner wieder allein war, mit dem Kaffee in der Hand über die Zeitungen gebeugt, wusste der Reporter, dass sein ruhiges Wochenende, kaum dass es begonnen hatte, schon wieder vorbei war.