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Am Dienstag, dem 15. Dezember, neun Tage nachdem in Chanterelle die Frauenleiche am Lift über das Dorf gefahren war – und nur noch neun Tage vor Weihnachten, wie Kirchner überrascht bemerkte –, konnte er sich endlich auf die Reise und richtig an die Arbeit machen. Er fühlte sich erleichtert, wach und beschwingt.

Die Normandie war in der Nacht zuvor in ihren grünen Normalzustand zurückgekehrt, von einigen weißen Flecken abgesehen war aller Schnee wie durch Zauberei geschmolzen. Schon vor Sonnenaufgang um sieben Uhr hatte das Thermometer an der Steinwand zur Gartenseite des Hofes milde neun Grad und damit einen großen Wetterumschwung angezeigt.

Kirchner saß im Zug zwischen Caen und Paris. Er würde am Gare Saint-Lazare ankommen, zum Gare de Lyon wechseln und von dort direkt nach Albertville durchfahren, Ankunft vierzehn Uhr fünfzig. Er hatte den Plan aufgegeben, sich bei einem Zwischenhalt in Paris passende Kleidung zu besorgen, es kostete zu viel Zeit und war obendrein unnötig. Um sechzehn Uhr etwa würde er in Chanterelle sein, früh genug, um noch die Sportgeschäfte der kleinen Skistation abzuklappern.

Muriel hatte mittlerweile einiges ausgegraben, mit dem sich arbeiten ließ. Die Gemsen-Hütte war zwar unbesetzt, und sie hatte dort niemanden angetroffen; auch hatte sie zu den Namen der Mordopfer, die ihr Gaillard gesagt hatte, bis dahin keine Angehörigen vor Ort gefunden. Aber die Leute vom Lift, noch immer bestürzt über die schrecklichen Szenen vom Nikolaustag, hatten sich von ihr gerne zu Kaffee und Croissants einladen lassen. Muriel war so geschickt gewesen, keine drängenden Fragen zu stellen, sondern das Gespräch wie eine Plauderei dahinlaufen zu lassen. So kamen die Männer, es waren die vier Männer der Frühschicht vom Nikolaustag, vom Hundertsten ins Tausendste und hatten bald schon vergessen, dass ihnen eine Journalistin von Le Monde gegenübersaß.

Muriel hat Glück, dachte Kirchner, ihr freundliches Gesicht, ihre warme Stimme, ihre weichen Augen sind eine ständige Einladung, sie zu unterschätzen.

Die vier Männer, alles alte Haudegen, von der Sonne verbrannt, vom Schnaps verknittert, vom Leben in den Bergen gezeichnet, hatten Muriel den Zustand der Leiche beschrieben, die ziemlich genau um neun Uhr siebzehn bei ihnen in der Talstation ankam. Sie hatten, die sonderbare Fracht schon von Weitem erkennend, den Sessellift im rechten Moment angehalten, um zu verhindern, dass der leblose, gefrorene Körper über den vereisten Betonboden der Einstiegszone geschleift würde. So baumelte er ein paar Meter vor der Station im Freien. »Wie ein Stück Vieh«, hatte einer der Männer gesagt. Große Verletzungen seien allerdings nicht zu erkennen gewesen, die Tote da draußen habe nicht wie ein Mordopfer, sondern eher wie eine verunglückte Bergsteigerin ausgesehen, die sich in ihren Sicherungsseilen aufgehängt hatte. Wobei Bergsteigerinnen natürlich, nun ja, nie nackt seien, wie das im Fall des Opfers gewesen sei.

Eine Vorhut der Gendarmerie, bestehend aus den drei in Chanterelle fest stationierten Beamten mit Gendarm Olivier Falsone an der Spitze, traf eine gute Stunde später ein und zog mit großem Getue weiß-rote Absperrbänder um die Szene. Sie versiegelten den Ort für die Spurensicherung, und der Gendarm begann eine erste Runde der Vernehmungen. Falsone fragte die Männer in getrennten Sitzungen als Erstes danach, wo sie seit dem frühen Morgen gewesen seien, und alle vier – durch seine Frage als Tatverdächtige hingestellt – lachten ihm unabhängig voneinander laut ins Gesicht.

Die Spurensicherung kam erst am Nachmittag in Chanterelle an, ein Zweier-Team aus Lyon, sie verhielten sich genauso wie im Fernsehen, nahmen Proben, schossen Fotos, und als eben die Sonne sank und das Abendlicht rot auf den Flanken der Berge stand, konnte die Leiche endlich abgenommen werden. Sie wurde, hieß es, für weitere Analysen zum pathologischen Dienst der Gendarmerie in Lyon gebracht.

Muriel hatte Kirchner am lebendigsten vom Tatort selbst erzählt, also von der Stelle, an der die sehr wahrscheinlich bereits getötete Frau an den Lift gekommen war. Ihr Peiniger kannte die Gegebenheiten offensichtlich sehr genau.

Die Liftwärter fuhren mit Muriel in einer Pistenraupe hinauf zum Pfeiler mit der Nummer vierzehn, der fast exakt den Übergang vom oberen Drittel der Sesselliftbahn zu den unteren zwei Dritteln der Strecke markierte. An dieser Stelle war jedenfalls weder die Bergstation noch die Talstation zu sehen, und die Liftwärter sagten, es sei auch der einzige kleine Abschnitt, der für sie weder vom Gipfel aus noch aus dem Tal einsehbar sei.

Seit Längerem schon sei daran gedacht worden, allein aus versicherungstechnischen Gründen, eine Videokamera hier oben zu installieren, aber es habe immer am Geld dafür gefehlt.

Die Liftschneise führte am Pfeiler vierzehn aus dem dichten Hochwald in die Weite einer tief verschneiten Alm hinaus, die zu beiden Seiten von präparierten Pisten gerahmt war. Die Männer vom Lift waren sicher, dass der Täter hier aufgestiegen war, und das war keine Meinung, sondern eine Gewissheit. Der Sessellift hinauf zum Mont Bisanne war der modernste aller Liftbetriebe im Tal, erst seit wenigen Jahren in Betrieb – und folglich schon mit vielen technischen Finessen ausgestattet. Die Sitzkissen der Sessel – »Zweihundertachtzig Stück«, sagte einer der Wärter stolz. – ließen sich per Knopfdruck automatisch hochstellen, aber vor allem steuerte ein Computer die geordnete Stilllegung zur Nacht: Dabei ergab es sich, mit digitaler Präzision, stets so, dass die Sesselreihe mit der Nummer vierundfünfzig genau auf Höhe des Pfeilers vierzehn zum Stehen kam. Und an die Reihe vierundfünfzig war eben die Leiche gebunden. Der Täter, daran bestand kein Zweifel, musste mit ihr den Pfeiler vierzehn erklettert haben.

Was, sagte Muriel, eine unvorstellbare Leistung sei. »Du musst dir die Stelle ansehen, Antoine. Es ist ein Wahnsinn.«

Sie hatte noch mehr zu bieten. Der Lokalkollege Julien Gaillard, den Kirchner und sie seit dem Gespräch über dessen Frisur jetzt nur noch den Pudel nannten, hatte sie noch einmal angerufen. Er hatte erzählt, dass ihn sein Chef Bruno Lapierre bei einer Weihnachtsfeier der Belegschaft des Savoyard libre in offenkundig angetrunkenem Zustand zur Seite genommen hatte. Er, Gaillard, hatte Lapierre dann gesagt, habe ja keinerlei Vorstellung von der Tragweite der Vorgänge im Tal. »Wenn es um Chanterelle geht«, hatte Lapierre gesagt, »geht es um Frankreichs Ansehen in der Welt.«

Kirchner musste lachen über diese Art provinzieller Großmannssucht. Der Pudel hatte die Sprüche seines Chefs als Indiz für eine riesige Verschwörung bis hinauf in höchste Staatskreise interpretiert, um den französischen Tourismus vor jedem Schaden zu bewahren. »Sie opfern dafür sogar die Pressefreiheit«, hatte sich der Pudel echauffiert, und vielleicht lag darin, was wusste man schon, ja sogar ein Körnchen Wahrheit.

Immerhin hatte Kirchners eigener Chefredakteur seinen Savoyer Kollegen Lapierre als korrupt hingestellt, und das hatte er ganz gewiss nicht einfach so dahingesagt. Und dass dieser Lapierre bei irgendwem die Hand aufhielt, um im Gegenzug nur noch gute Nachrichten zu bringen und alle schlechten wegzulassen, war ebenfalls nur allzu leicht vorstellbar. Dass allerdings ein Serienmörder wegen wirtschaftlicher oder lokalpatriotischer Interessen zwei Jahrzehnte lang unbehelligt blieb, das hielt Kirchner für ausgeschlossen. Es hätte dazu einer Verschwörung bedurft, an der sich nicht nur ein ganzes Dorf beteiligen musste; auch die Polizei- und Justizapparate hätten dabei mitspielen müssen, die gesamte Regionalpresse, die Räte des Departements, der Präfekt der Gegend. An derlei glaubte Kirchner nicht.

Er wartete nervös auf Nachrichten von Berthe Fichier. Die Archivarin hatte am Vortag so zuversichtlich geklungen, die internen Justizakten besorgen zu können, dass er nun auch optimistisch war, sie bald zu bekommen. Beim Umsteigen in Paris, er nahm ein Taxi vom Gare Saint-Lazare zum Gare de Lyon, hatte er länger Zeit als gedacht und nutzte die geschenkte Dreiviertelstunde, um sich im Train Bleu, dem palastartigen Jugendstilrestaurant des schönen Kopfbahnhofs, ein schnelles Rindstatar zu gönnen, das der Kellner mit geübten Gesten an seinem Tisch bereitete und dabei nach seinen, Kirchners, Vorgaben, scharf und sauer würzte; dazu trank er ein Grimbergen-Bier.

***

In Albertville empfing ihn Muriel am Bahnsteig. Sie hatten den Plan einer direkten Staffelübergabe, er würde ankommen, sie würde abreisen. Aber als sie sich sahen, umarmten und küssten, hielten sie das – nach drei Wochen der Trennung – für keine gute Idee mehr. Sie blieb also, und er fuhr auch nicht sofort weiter nach Chanterelle, sondern sie nahmen sich in Albertville ein Zimmer im etwas muffigen Hotel Million. Dort aßen sie später ganz wider Erwarten sehr gut zu Abend, der Koch war ein echter Könner, fand Kirchner, dann verbrachten sie auch noch die Nacht zusammen und schieden erst früh am nächsten Morgen.

Muriel steckte ihm noch einen Zettel zu mit zwei Namen, Nummern und Adressen, sie gehörten zu einem alten Arzt, der eine Waldhütte inmitten der Pisten bewohnte, und zu einem Priester, den alle nur Père Doux nannten, den weichen Vater, und der sein gesamtes, langes Leben in Chanterelle verbracht hatte.

***

Nach dem Abschied von Muriel las Kirchner auf seinem Telefon eine erste E-Mail von Berthe Fichier. Sie vertröstete ihn noch, was Belege für die Mordserie anging; sie schrieb allerdings, dass ihr Schwager im Kabinett des Innenministers sehr zugeknöpft auf ihre Frage nach Chanterelle reagiert habe, was daran liegen könne, dass sie und er sich wirklich einfach nicht leiden konnten. »Allerdings«, schrieb Berthe Fichier, »erschien es mir doch seltsam, dass er mich am Ende des Telefonats darum bat, mit sonst niemandem über die Angelegenheit zu sprechen. Als ich ihm daraufhin mitteilte, dass ich nicht auf eigene Rechnung, sondern auf deine Aufforderung hin bei ihm angerufen hatte, sagte er, ich zitiere: ›Kirchner? Lieber Gott!‹ Und das«, fügte Berthe Fichier spöttisch an, »habe ich nicht als den Ausruf eines Gläubigen verstanden.«

Über diesen letzten Kommentar musste Kirchner laut auflachen, er saß nun schon im Bus nach Chanterelle, und seine Mitreisenden warfen dem Mann, der da für sich alleine lachte, argwöhnische Seitenblicke zu. Kirchner wusste nur zu genau, was Berthe Fichier mit ihrer eleganten Anmerkung gemeint hatte: Nach mittlerweile drei Jahrzehnten als Reporter, zuerst als junger Star bei Paris-Match, dann bald unter Pelleton als Chefreporter von Le Monde, hatte sein Name im politischen Frankreich einen gewaltigen Klang.

Viele seiner Reportagen galten Journalistenschülern noch immer als mustergültig, und sie studierten weiterhin seine Texte aus den frühen 1980er-Jahren, in denen er den furchtbaren Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan oder die Niederlagen der Briten im Falkland-Krieg beschrieben hatte. Dass er in den zurückliegenden Jahren nicht mehr in jeden Krieg gezogen war, sondern sich häufiger innenpolitischen Themen zugewandt hatte, beunruhigte die politische Klasse sehr.

Kirchner war ein ernst zu nehmender journalistischer Wächter, keiner von denen, die sich gegen Geld, Ansehen oder sonstige Zuwendungen hätten kaufen lassen. Er war in seinen Ansichten verstörend unabhängig, unangenehm kritisch nach allen politischen Seiten – und das machte ihn gefährlich in einer Gesellschaft, die letztlich noch immer nach den Mechanismen eines königlichen Hofes funktionierte.

Der Ausruf des Kabinettschefs »Kirchner? Lieber Gott!« konnte deshalb alles Mögliche bedeuten und musste mit Chanterelle im Speziellen nicht weiter viel zu tun haben. Er signalisierte fürs Erste nur, dass die Politik stets, auch dieses Mal, mit großem Ärger rechnete, wenn sich Kirchner eines Themas annahm. Und das, fand Kirchner, war doch äußerst schmeichelhaft. Nicht nur für ihn, sondern für die ganze Zeitung. Er antwortete Berthe Fichier kurz, sie solle die kleine Anekdote unbedingt Pelleton bei der Morgenkonferenz erzählen. Weil der sich über solche Geschichten stets freue wie ein Kind.