In der Nacht telefonierte Kirchner noch lange mit Muriel, um im Gespräch mit ihr seine Gedanken zu sortieren. Er hatte sich auf Mortiers Frage als der Mann vorgestellt, der er wirklich war: Antoine Kirchner von Le Monde. Alles andere wäre auf eine sehr kurzlebige Lüge hinausgelaufen, und außerdem hatte sich Kirchner völlig überrumpelt gefühlt von der Ankunft der unerwarteten Gäste Mortiers; er hätte auf die Schnelle gar kein schlüssiges Rollenspiel erfinden können. Über den Grund seines Aufenthalts in Chanterelle log er allerdings, dass sich die Balken bogen, was er nun, ein paar Stunden später, bereits für einen Fehler hielt. Er sei, hatte er Mortier und seinen illustren Gästen weisgemacht, trotz seiner normannischen Herkunft immer ein begeisterter Skifahrer gewesen; er liebe die Alpen, und weil er gerade erst von einer anstrengenden Tour in Afghanistan zurückgekommen sei, gönne er sich vor Weihnachten eine kleine, einwöchige Auszeit, um dann die Feiertage ganz entspannt angehen zu können.
Es war eine unnötige, einfältige Lüge, fand Kirchner. Er glaubte zwar, dass Mortier sie geschluckt hatte, der überhaupt ein ganz argloser Mensch zu sein schien, aber für Bruno Lapierre, den Glatzkopf, galt leider das genaue Gegenteil. Kirchner war sicher, dass ihm der Chefredakteur des Savoyard libre den ganzen Abend lang kein Wort geglaubt hatte, nachdem Mortier ihn zum Essen an seinen Tisch gebeten hatte. Lapierre hatte ihn pausenlos aus kleinen, feindlichen Augen beobachtet und mit kalkulierten Spitzen aus der Reserve zu locken versucht. »Ein großer Journalist wie Sie«, hatte Lapierre etwa an einer Stelle gesagt, »ist doch gewiss immer im Dienst.« Und später hatte er rhetorisch gefragt: »Für Kollegen wie Sie, und auch ich zähle ja zu Ihren Bewunderern, ruht selbst im Urlaub nie die Pflicht, nicht wahr?«
Muriel redete gegen seine Sorgen an. Lapierre kam ihr nicht weiter wichtig vor, er war nur eine Randfigur, und seine Feindseligkeit wäre ja auch dann nicht verschwunden, sagte sie, wenn Kirchner den wahren Grund seines Besuchs in Chanterelle verraten hätte.
»Was ist denn Falsone für einer?«, fragte sie.
»Ein Schmierlappen«, antwortete Kirchner, »ein gegeltes Bürschchen, das Karriere machen will und sich für seine aktuelle Verwendung viel zu schade ist.«
»Ein Dorfpolizist«, sagte Muriel.
»Ein ehrgeiziger«, gab Kirchner zurück. »Sobald ich morgen mit dem Arzt und dem Priester geredet habe, werde ich mir Falsone ganz offiziell vornehmen. Dann darf er beichten. Und ich bin gespannt, wie er sich gegen den Vorwurf verteidigen will, dass die Gendarmerie offenkundig eine Mordserie vertuscht und dass sie die Verantwortung dafür trägt, dass da draußen ein Serienmörder unbehelligt durch den Schnee stapft.«
»Nun«, sagte Muriel, »das wissen wir ja noch gar nicht. Aber pass trotzdem auf dich auf.«
»Keine Sorge«, sagte Kirchner, »ich bin schon zu alt und zu zäh. Der Mörder, scheint mir, hat es eher auf junge Frauen abgesehen. Und wer wollte ihm das verdenken.«
Auf dem Bett liegend, seinen Laptop auf den Knien, studierte Kirchner die Berichte aus dem Bauch der Justiz, die ihm Berthe Fichier hatte zukommen lassen. Es war zu viel Material, um es auf die Schnelle zu lesen, bestimmt dreihundert, vierhundert Blatt, er brauchte Hilfe. Er schickte deshalb eine SMS an Pelleton, um ihm mitzuteilen, dass er Muriels Zuarbeit brauche. Vier Minuten später hatte er das O.K. seines Chefredakteurs und leitete jetzt die Papiere auf Muriels E-Mail-Konto weiter, mit dem knappen Kommentar: … ein wenig Nachtlektüre. Pelleton weiß Bescheid. Wir machen das jetzt als Team. Nein, ich bin nicht faul. Es ist zu viel Material. Und niemand liest schneller und besser als du …
Das Klingeln seines Telefons schreckte ihn um fünf Uhr früh aus dem Schlaf, die Nacht stand noch stockschwarz vor den Fenstern, und Kirchner hatte traumlos in der Stille der Berge gelegen.
Nun hörte er Muriels Stimme: »Wann triffst du den Arzt, diesen Dr. Gramont?«
Kirchner rollte seinen schweren Körper auf den Rücken, räusperte sich den Schlaf aus der Kehle und steckte einen Arm hinter den Kopf, um ihn höher zu betten.
»Was ist denn los?« fragte er.
»Wach auf, Antoine«, sagte Muriel, »du kannst mir nicht brisante Papiere schicken und glauben, dass ich mit der Lektüre bis zum nächsten Tag warte.«
»Heilige Mutter Gottes«, sagte Kirchner stöhnend, »sag bitte, dass du nicht die ganze Nacht gelesen hast.«
»Und wenn«, antwortete sie, »ginge es dich auch nichts an. Du bist jetzt wach, ja?«
»Jaja«, Kirchner gähnte, »ich bin wach, ich bin wach.«
»Dann hör mir zu«, sagte Muriel. »Was dir die Fichier da geschickt hat – sie ist wirklich genial –, sind Aktenausrisse zu drei Mordermittlungen, unterschiedlich lange her, aber wir reden über die vergangenen zweiundzwanzig Jahre. Das beginnt, wie du dir denken kannst, mit dem Fall Hélène Vasseur, die man in vier Teilen im Wald fand …« Muriel machte eine kurze Pause, und Kirchner hörte, wie sie mit Papierstößen hantierte und einzelne Blätter mit wischenden Geräuschen aus irgendwelchen Stapeln zog, dann redete sie weiter: »Hier ist es … Also, hör zu: Zwei der Fälle spielen direkt in Chanterelle, der dritte in Clavettaz, aber das ist zu Fuß keine zwanzig Minuten vom Dorf entfernt. Die Sache ist nun, Antoine, und deshalb wecke ich dich«, sagte Muriel, »erstens: Alle drei Opfer waren zum Zeitpunkt ihrer Ermordung schwanger. Verstehst du? Zweitens: An allen drei Opfern verging sich der Täter sexuell, und zwar, halt dich fest, als sie schon tot waren. Und drittens schließlich, Antoine, der Arzt, der in allen drei Fällen den Tod festgestellt hat, ist ein gewisser Dr. Louis Gramont.«
Muriels nächtlicher Anruf begleitete Kirchner durch den kleinen Rest der Nacht. Er war nach dem Telefonat aufgestanden, hatte sich rasiert, geduscht, es ging nun auf sechs Uhr. Er war sicher, trotz der frühen Stunde irgendwo im Ort ein Café oder eine Imbissstube zu finden, in der die Einheimischen ihren Tag begannen. Draußen herrschten minus zwölf Grad, Kirchner bemerkte, wie ihm die Kälte prickelnd ins Gesicht fuhr. Wirklich sah er auf der weitgehend dunklen Hauptstraße talwärts ein hell erleuchtetes Schaufenster, das zu einer Bäckerei gehörte, die auch Kaffee ausschenkte.
Vor der Ladentheke standen acht Stehtische, an denen sich an diesem frühen Morgen Skilehrer, Handwerker, Fahrer und Ladenbesitzer drängten. Kirchner fiel in diesem Getümmel nicht weiter auf, das heißt, die Anwesenden mochten zwar bemerkt haben, dass ein Fremder eingetreten war. Aber da sie seit Jahren mit Touristen zu tun hatten, ignorierten sie ihn einfach.
Kirchner bestellte sich einen großen café crème, nippte daran und stellte die Tasse gleich vorne im Laden auf die Kuchentheke, wo er niemanden störte. Er schaute zum Schaufenster in die Nacht hinaus und hörte auf den Fluss seiner Gedanken.
Die Funde Muriels, die Papiere Berthe Fichiers, belegten zweifellos die These, dass am Fuß des Mont Bisanne seit mehr als zwanzig Jahren ein Serienmörder umging. Es gab wiederkehrende Muster, die Schändung der Leichen, die Nekrophilie, es gab einen eingrenzbaren Tatort, selbst wenn Clavettaz ein wenig außerhalb von Chanterelle lag.
Kirchner überprüfte sich. Er überprüfte die Logik der Zusammenhänge, die Möglichkeit, dass vielleicht alles nur irgendwie plausibel und am Ende doch ein ungeheurer Zufall war. Aber er verwarf diese Gedanken. Dass in einem Dorf wie Chanterelle – die Leiche am Lift mitgerechnet – vier Frauenmorde von vier unterschiedlichen Tätern verübt wurden, mag eine theoretische Möglichkeit gewesen sein; praktisch war sie so unwahrscheinlich, dass Kirchner sie für ausgeschlossen hielt.
Er kaute lange auf der anderen Neuigkeit herum, der zufolge die drei früheren Opfer zum Zeitpunkt ihres Todes alle schwanger gewesen waren. Auch das konnte ein verrückter Zufall sein, aber wer mochte daran glauben? Es sah eher so aus, in den Bergen hier, als hinge alles mit allem irgendwie unheimlich zusammen. Und wenn die Schwangerschaften wirklich von Bedeutung waren? Inwiefern waren sie bedeutsam? War es möglich, dass der Mörder nicht nur ein Nekrophiler war? Lief er vielleicht auch mit der geistigen Störung herum, werdende Mütter zu hassen? Gab es das überhaupt als Krankheit? Mörderischen Schwangerenhass? Oder war es einfach nur eine Sonderform vom Hass auf Frauen?
Der Ausschank der Bäckerei Charles Martel leerte sich gegen Viertel vor sieben, nur weiter hinten stand jetzt noch, an drei zusammengerückten Stehtischen, eine Gruppe Skilehrer herum. Sie arbeiteten nicht für die ESF, die Ecole du Ski Français, sondern für eine kleine Privatfirma, die sich Champion Glisse nannte, der Name stand auf ihren grün-gelb-gestreiften Dienstanoraks. Sie tranken da hinten zum Kaffee schon ein, zwei Schnäpse, um sich gegen die Eiseskälte draußen und die kommenden Zumutungen des Tages zu wappnen. Kirchner sah die dunklen, gegerbten Gesichter der Männer, ihre schweren Hände. Er mühte sich, nicht so zu wirken, als ob er sie beobachtete oder belauschte, aber genau das tat er, angestrengt.
So hörte er jetzt, wie einer der Männer mit tiefer Stimme sagte, er sei nun aber wirklich gespannt, wie sie es dieses Mal unter den Teppich kehren wollen, und wenn er eine Tochter hätte, dann würde er nun aber endgültig wegziehen von hier.
Die Lifte nahmen ihren Betrieb erst in einer Stunde auf, um neun Uhr, wenn Kirchner seine Verabredung mit Père Doux hatte. Ein kalter Sonnentag zog über dem Bergort auf, bald würde die Sonne über das Massiv des Mont Blanc gestiegen sein und das ganze Hochtal mit Licht durchfluten.
Kirchner ging zu Fuß über ein Stück rutschiger Piste hinab zur Gemsen-Hütte, um sich ein Bild von dem Ort zu machen, über den am Nikolaustag so großer Schrecken gekommen war. Um die Hütte herrschte, noch ohne Skifahrer, tiefer Frieden. Auf ihrem Dach saß ein meterdicker Hut aus Eis und Schnee, in dem die kleinen Spuren von Vögeln zu sehen waren. Schilder markierten ringsum die Treffpunkte der Skischülergruppen, sortiert nach ihren Leistungsgraden, Ourson, Flocon, 1ière Etoile, Etoile d’Or. Die Drahtseile des Sessellifts zum Mont Bisanne führten wirklich genau über das Dach der Gemsen-Hütte, in geringer Höhe. Kirchner tat es besonders um die Kinder leid, die die Tote womöglich gesehen hatten. Und er stellte sich vor, wie es in Frankreich und anderswo nun Leute gab, die am Nikolaustag hier an Ort und Stelle ganz zufällig zu Augenzeugen eines Verbrechens geworden waren, über das sie nun vergeblich Informationen suchten. Es war empörend. Es war beschämend.
Es schlug neun Uhr. Die kleine Kirche Nôtre Dame de l’Assomption lag am oberen Ortsausgang von Chanterelle. Sie war, von den beiden Gotteshäusern, die es für die tausendvierhundert Seelen des Dorfes gab, die Hauptkirche, brechend voll an den Feiertagen und jetzt, während der Adventszeit, immer gut gefüllt. Sie hatte ein bisschen barocken Schmuck im Inneren, eine verspielte Kanzel mit Zwiebeldach, ein schönes Altarbild, das eine zum Himmel fahrende Maria zeigte.
Als Kirchner eintrat, knieten in der unbeheizten Kirche weit verstreut drei alte Mütterchen, die Rosenkränze beteten. Zum Gemeindebüro ging es rechter Hand durch einen Gewölbegang, der sehr alt wirkte.
Der Journalist stellte sich bei einer dünnen Dame von vielleicht siebzig Jahren vor, die die Angelegenheiten der Kirche verwaltete. Sie war bei Kirchners Eintreten heftig erschrocken und hatte »Mon Dieu!« gerufen, mit einem deutlichen Vorwurf gegen den Besucher in der Stimme. Kirchner verkniff sich eine ironische Antwort und fragte ganz bescheiden nach Père Doux, mit dem er eine Verabredung habe.
Im Gemeindebüro roch es nach Weihrauch und vielleicht auch nach Zigaretten, das war nicht genau zu sagen.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte die Dame.
Sie trug einen Pullover, der aussah, als hätte sie ihn aus einer alten Wolldecke geschneidert.
Kirchner verneinte, bedankte sich, dann wurde er in die Räume des Priesters geführt, die direkt hinter der Pfarrei in einem seitlichen Anbau der Kirche lagen.
Père Doux saß in Hausschuhen und wattiertem Mantel an einem offenen Kamin und las in einem Brevier. Beim Anblick des Mannes verstand Kirchner, wie der Geistliche zu seinem Namen gekommen war. Sein Gesicht umspielten feine weiße Haare, lockig an den Schläfen und auf dem Haupt noch immer voll. Er hatte gütige braune Augen, und seinem Mund sah man an, dass er vor allem lächelte, auf den Wangen saßen zwei kecke rote Flecken wie von Schminke. Père Doux war alt, mindestens fünfundachtzig, schätzte Kirchner, der Greis machte eine Geste zu einem Sessel, und Kirchner fragte sich einen Moment lang, ob er dem Alten womöglich die Hand küssen müsse, entschied sich aber dagegen.
»Was führt dich zu mir, mein Sohn?«, fragte der Priester mit der brüchigen Stimme eines alten Weibes, er hielt sich mit Geplauder offenkundig nicht mehr auf.
Kirchner war dankbar dafür, es ersparte ihm die Mühe geschickten, verwinkelten Fragens. Dem Alten ging es augenscheinlich darum, keine Zeit zu verlieren und die anliegenden Fragen ohne Umwege zu behandeln. Möglich, dass der alte Vater ihn schnell wieder hinauskomplimentieren würde. Möglich aber auch, dass er ihm wichtige Hinweise geben würde. Kirchner hoffte darauf, solche Sachen hatte er schon erlebt, dass der Alte vielleicht – so alt, wie er war – sein Gewissen entlasten wollte. Vielleicht wusste er Dinge, mit denen er besser nicht vor seinen Schöpfer trat.
Kirchner sagte also ohne Umschweife: »Die Leiche am Lift, Vater – ich bin Journalist, und ich bin hier, weil ich die Geschichte dieses Mordes erzählen muss.«
Der alte Mann im Lehnstuhl hatte seine Worte zweifellos gehört, er sah ihm direkt in die Augen und schwieg. Er schwieg sehr lange, wandte einmal den Kopf, um ins prasselnde Feuer zu sehen, schaute einmal versunken auf die aufgeschlagenen Seiten seines Gesangbuchs. Dann wandte er sich Kirchner wieder zu, ganz ruhig, ohne jede Aufregung, immer noch schweigend. Es mochte schon eine ganze Minute vergangen sein, was in Gesprächen zwischen zwei Fremden eine Ewigkeit ist.
Kirchner blieb gelassen. Auch er konnte schweigen. Er ließ dem Alten Zeit.
»Du musst ihre Geschichte erzählen?«, fragte Père Doux. »Woher kommt dieses Müssen?«
Kirchner wollte ansetzen, eine Rede auf den Journalismus zu halten, auf seine demokratischen Pflichten, das ganze professionelle Blabla, aber die Idee allein war lächerlich. Der Priester wollte keine akademische Antwort, er wollte seine, Kirchners, Beweggründe besser kennenlernen, er wollte ihn prüfen.
Also sagte Kirchner nur: »Die Menschen, auch das Opfer, haben einen Anspruch auf die Wahrheit. Und die Kinder, die auf der Piste standen und alles gesehen haben, sie brauchen Trost.«
Der Geistliche lächelte, als Kirchner seine Antwort gegeben hatte. Er schlug das Brevier zu und legte es zu seiner Rechten auf einem kleinen Beistelltischchen ab. Dann zog er die Schöße seines Mantels zusammen, faltete die Hände vor seinem Bauch, sah Kirchner wieder lange und gerade in die Augen und fragte: »Und du kannst das geben? Wahrheit? Trost?«
»Meine Worte können es«, sagte Kirchner, »das glaube ich, ja.«
Wieder schwieg der Alte, holte mehrfach tief Luft, sah Kirchner an, sah ins Kaminfeuer, er ließ sich mit allem Zeit.
»Du weißt natürlich, mein Sohn«, sagte er, »dass ich durch ein heiliges Versprechen gebunden bin, alle Geheimnisse der Beichte bei mir zu behalten.«
»Natürlich«, sagte Kirchner.
»Was also willst du wissen?«, fragte Père Doux.
»Wer der Mörder ist«, antwortete Kirchner, ohne zu zögern.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Priester. »Ich weiß nur, dass auch in Chanterelle der große Versucher umgeht, der Teufel, der die Schwächsten wie die Stärksten in Schande und Sünde verbindet und verstrickt.«
»Ist das ein Gleichnis?«, fragte Kirchner.
»Es ist die Wahrheit, nach der du suchst.«