Kirchners erste Nachricht an Muriel, nach vier Tagen des Verschollenseins, lautete: Alles gut, ein paar Kratzer, gibt Leute hier, die mich loswerden wollen. Was hältst du von einer Rouenaiser Ente zu Weihnachten? Und viel Burgunder!? Es hatte ein wenig gedauert, hier oben einen Menschen mit einem normalen Telefon zu finden, mit dem er ein Lebenszeichen hätte abschicken können. Bergers Truppe hatte für die Zeit des Winterbiwaks eine Art privates Funkverbot, weil Teile des Materials, das sie testeten, der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlag. Die Soldaten hatten ihre Mobiltelefone und privaten Computer zu Hause lassen müssen, und weil Kirchners Telefon beim Kampf mit dem Motorschlitten verloren gegangen und vermutlich längst von einer Pistenraupe untergepflügt worden war, fand sich erst lange kein Gerät, mit dem er eine private Mitteilung hätte versenden können. Er konnte schlecht aus dem geschlossenen Militärsystem heraus eine Nummer, am besten noch in der Le-Monde-Redaktion, anwählen. An diesem Morgen aber hatte ein privater Zulieferer der Armee die gewaschene Wäsche angeliefert, er war mit seinem Arbeitsschlitten und vielen Anhängern auf dem Gipfelplateau herumgeknattert, und ihn hatte Kirchner darum gebeten, von seinem Handy eine SMS verschicken zu dürfen.
Das Duell mit dem Motorschlitten hatte die Recherche grundlegend verändert. Kirchner wusste nun, dass er einer hochrelevanten Geschichte nachging und dass mächtige Instanzen ihre Finger im Spiel hatten, die er noch nicht kannte. Er konnte jetzt mit Sicherheit davon ausgehen, dass seine Anwesenheit von bestimmten Leuten im Ort gefürchtet wurde und dass diese Leute selbst vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckten, um ihre Ziele umzusetzen oder ihre Pfründe zu verteidigen. Er konnte auch sicher sein, dass sie ihre Geschäfte oder Machenschaften gerne unter Ausschluss der Öffentlichkeit betrieben und die Anwesenheit eines Journalisten deshalb unerträglich finden mussten. Kirchner rief sich selbst zur Ordnung, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen – und doch lag es auf der Hand, dass das Umfeld von Maxime Mortier an erster Stelle verdächtig war.
Außer dem Olympiasieger und seinen beiden Freunden Falsone von der Gendarmerie und Lapierre von der Lokalzeitung wusste ja niemand, dass er überhaupt im Ort war. Der Priester Père Doux wusste es, ja, aber dass der Greis ihm einen motorisierten Schläger auf die Pelle hetzte, war eine lächerliche Idee. Auch Dr. Gramont wusste von seiner, Kirchners, Anwesenheit. Und Kirchner wusste von ihm, dem Arzt, der alle Totenscheine in dieser Mordserie ausgestellt hatte, so gut wie nichts. Es war also auch möglich, dass Dr. Gramont Dreck am Stecken hatte. Schließlich war er es auch gewesen, der die Verabredung mit Kirchner in den Abend verschoben hatte, in die Dunkelheit; das konnte Teil einer Verschwörung oder auch einfach nur Zufall sein. Dr. Gramont war jedenfalls fürs Erste ebenso ein Kandidat für Kirchners Liste der Verdächtigen.
Was aber war mit Mortier selbst? Kirchner hatte ihn bei den bisherigen Begegnungen als nett und angenehm erlebt. Gewiss, ihm gehörten das schöne Hotel und das große Sportgeschäft, oder sie gehörten, wie er gesagt hatte, seiner Familie. Es war auch klar, dass ihm der Skandal um eine vertuschte Mordserie finanziell schaden würde, wie das ganze Dorf wirtschaftlich eine Zeit lang leiden würde. Aber käme Mortier deshalb auf die Idee, einem Journalisten die Knochen brechen zu lassen? Und hätte er denn einfach so über Handlanger verfügt, die solche Drecksarbeit auf Zuruf schnell und geräuschlos erledigten? In einem idyllischen Alpendorf?
Kirchner blieben Zweifel. Er konnte sich nicht helfen, er mochte Mortier, aber vielleicht verschleierten ihm auch seine Kindheitserinnerungen an diesen großen Sporthelden Frankreichs den nüchternen Blick. In ihm lagen die Gefühle im Widerstreit. Er wollte einerseits daran glauben, dass Mortier ganz harmlos war, andererseits sprach einiges gegen ihn, nicht zuletzt seine ökonomischen Interessen, aber auch der ganze Ruf, womöglich die gute Zukunft des Dorfes, dessen größter Sohn er doch war. Es sprach auch gegen ihn, dass er mit einem wie Bruno Lapierre offenkundig gut befreundet war; dem Chef des Savoyard libre traute Kichner alles Üble zu. Und was war mit diesem dicklichen Gendarm? Olivier Falsone? Kirchner schüttelte den Kopf, die Lippen schmal aufeinandergepresst. Er konnte Falsone nicht ernst nehmen. Er war ein gegeltes Bürschchen, das nicht zum Guten in diesem finsteren Bergdrama taugte, aber zum Bösen reichte es bei ihm auch nicht.
Sicher war sich Kirchner, auf dem verwaschenen Nachtvideo der Gebirgsjäger den Mörder gesehen zu haben. Der furchterregende Mann aus dem Film hatte, daran bestand für den Reporter kein Zweifel, die Frau, deren Leiche er an den Lift schnürte, zuvor auch eigenhändig umgebracht. Aber wie hing das alles miteinander zusammen? Lebte Maxime Mortiers Machtclique in dauernder Angst vor diesem unbekannten Serienmörder, tat aber trotzdem alles dafür, die Sache unter den Teppich zu kehren, um die Interessen des Dorfes zu schützen? Hatten Mortier, Lapierre und Co. die Dorfbewohner vielleicht sogar auf die Legende von der heilen Bergwelt eingeschworen und ihr weisgemacht, sie sei wichtiger als ein paar gelegentliche Mordtaten? Und warum war dem Mörder daran gelegen, dem Dorf und der ganzen Welt eine Botschaft zu schicken? Warum die dramatische Aktion mit der Leiche am Lift? Wie viel nachvollziehbare Rationalität lag im Wahnsinn dieses Mörders?
Offen war auch die Frage, ob dieser Täter der Serienmörder sein könnte, der womöglich schon seit zweiundzwanzig Jahren sein Unwesen trieb. Hatte dieser Hüne die vier Frauenmorde von Chanterelle auf seinem gestörten Gewissen? Kirchner rechnete. Möglich war es. Wenn er mit achtzehn oder zwanzig zum ersten Mal zugeschlagen hatte, war er jetzt um die vierzig. War es denkbar, dass ein vierzig Jahre alter Mann zu den körperlichen Höchstleistungen in der Lage war, die dieser gespenstische Turner am Stützpfeiler vorgeführt hatte? Kirchner beantwortete sich die Frage mit Ja. Er hatte im Leben Zirkusartisten gesehen, die noch unglaublichere Sachen aufgeführt hatten und dabei noch älter waren. Und außerdem: Wenn dieser Mörder, und wie sollte man daran nicht glauben, vom Wahnsinn getrieben war, dann hatte er ohnehin Kraftquellen, die nur ihm allein zur Verfügung standen. Der Mensch, dachte Kirchner, ist des Menschen Wolf.
Oberstleutnant Berger stand nun wieder in der improvisierten Kommandozentrale im Zelt.
»Der erste Zug rückt jetzt aus, Antoine«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen raten kann mitzugehen. Sie sind noch immer ziemlich blass um die Nase.«
»Es wird schon gehen«, sagte Kirchner, »ich danke Ihnen für alles. Und wenn ihr mich erst einmal mit einem eurer schicken Schlitten durch die Gegend fahrt, dann werde ich den Rest des Weges schon zu Fuß schaffen.«
»Sie wollen wirklich nicht hier im Warmen bleiben? Unsere Videoshow ist doch auch nicht schlecht …«
»Danke, Pascale«, sagte Kirchner, »es gibt Dinge, die muss man als Reporter mit seinen eigenen Augen sehen, um sie wirklich glauben und schreiben zu können.«
Der erste Zug bestand aus achtunddreißig Mann, ein paar von ihnen kannte Kirchner aus Afghanistan, sie grüßten ihn scheu und konzentrierten sich ansonsten auf ihre Arbeit. Der offizielle Auftrag lautete, mit zwei Aufklärungsdrohnen über dem Kopf das Gelände zu kartieren und für möglichen Infanteriebeschuss zu markieren; es war eine militärtechnische Übung, natürlich wollte in dieser Nacht niemand Granaten auf den Mont Bisanne abschießen. Der inoffizielle Auftrag war, den mutmaßlichen Serienmörder von Chanterelle nicht aus den Augen zu lassen und ihn im Zuge einer geheimen, niedrigschwelligen Operation zu beobachten.
Der Zug führte drei Motorschlitten mit, die vor allem Material und Proviant geladen hatten. Kirchner hatte Platz auf dem zweiten gefunden, er saß in Thermodecken eingehüllt hinter dem Fahrer und bemitleidete väterlich die Soldaten, die mit ihrem Gepäck und den Sturmgewehren alles in allem zweiundzwanzig Kilogramm Ausrüstung pro Mann durch den Schnee schleppten. Erst spät in der Nacht würden sie in ihr Lager zurückkehren, nach einer reinen Marschzeit von gut sieben Stunden. Kirchner hatte sich immer gefragt, warum um alles in der Welt ein junger Mann Soldat werden wollte.
Ein wolkendurchsetzter Sternenhimmel erstreckte sich über die Berge, ein kleiner zunehmender Mond beleuchtete alles. Die Nacht war deutlich heller als einen Tag zuvor, als Kirchner mit den Offizieren in der Kommandozentrale nur die Bilder der Drohnen ansehen konnte.
Es ist eigentümlich, dachte Kirchner. Aus der Perspektive dieser Soldaten, im Schnee, in der Nacht, sieht das heitere Frankreich im Grunde genauso aus wie Afghanistan. Die Männer sehen sich einer feindlichen Natur ausgesetzt, Abstürze drohen überall, Lawinen, die Kälte frisst an ihnen, und mit dem Serienmörder irgendwo da draußen fällt sogar der Unterschied weg, dass sie in Frankreich, anders als in Afghanistan, nicht mit einem Feind zu rechnen haben.
Der Col d’Evêque, der Bischofskragen, war nach gut zweieinhalb Stunden erreicht. Der Marsch – und Kirchners Schlittenfahrt – führte teils steil hinauf, an Felsstürzen vorbei, über Trampelpfade, die nur Hirten und Soldaten kannten. Kirchner erfuhr – sein Fahrer rief es ihm, nach hinten umgedreht, zu –, dass die kleinen Teiche, die am Rande von Skipisten heutzutage oft zu sehen waren, nur dafür angelegt waren, im Bedarfsfall das Wasser für die Schneekanonen zu liefern. »Die werden sogar«, rief sein Schlittenlenker in den Wind, »extra geheizt, wenn sie gefroren sind, Wahnsinn, oder? Da müssen Sie mal drüber schreiben!«
Der Bischofskragen machte Kirchner, dem Flachländer, durchaus ein wenig Angst. Der Sattel hinüber zur Alm der Planeten war schmaler, als er gehofft hatte. In der Mitte der Felsbrücke war ein etwa achtzig Meter langer Grat zu überwinden, zu beiden Seiten ging es tief ins Schwarze hinab. Kirchner litt nicht an Höhenangst, aber die Berge flößten ihm großen Respekt ein.
Der Zugführer, ein Leutnant, der aus der Gegend stammte und schon als Kind hier herumgeklettert war, schien seine Gedanken zu erraten.
»Keine Sorge, Monsieur Kirchner«, sagte er, »ich teile Sie zwischen Lesseur und Tissot ein, meine beiden besten Bergsteiger; sie werden Sie sichern und notfalls hinübertragen.«
Kirchner bedankte sich ohne Worte, hob den Daumen und lächelte.
Die Planeten lagen im Hochgebirge wie eine schräg gestellte Platte, sie war vom Mont Bisanne aus, von Westen her, über den Bischofskragen zu erreichen, das war der schwere Weg, den die Gebirgsjäger nahmen. Einfacheren Zugang hatte man über die Ostflanke des Massivs von Aravis, diesen Weg nahmen im Spätsommer auch die Hirten mit ihren Kuhherden, wenn der Almabtrieb anstand. Selbst im Winter blieb dieser Zugang mit Schlitten befahrbar, theoretisch; praktisch wurde er nie genutzt, weil die Alm in der kalten Jahreszeit einfach brachlag. Anders in diesen Tagen vor Weihnachten: Kirchner vermutete, dass der Mörder – er nannte ihn jetzt so in seinem Kopf – diesen leichteren Weg genommen hatte, um in sein Versteck zu kommen. Offenkundig kannte er diese Hütten und Schuppen wirklich gut, die Alm, die Berge, die Täler, er musste ein Einheimischer sein. Wenn Kirchner es recht überlegte, wenn er die enorme Kraft des Mannes bedachte, sein wildes Wesen, dann schien es ihm hier oben gerade sehr plausibel, dass er vielleicht einer der Kuhhirten war, die im Sommer das Vieh über die Almen trieben, eine körperlich extrem anstrengende Arbeit; sie hätte jedenfalls gut zu dem riesenhaften Mann gepasst.
Vor dem Nadelöhr des Bischofskragens hatte der Zug den Nachteinsatz um die Hütte noch einmal genau besprochen. Sie würden sich, wie die Kameraden in den Nächten zuvor, zum Zwecke der Beobachtung in einem Ring um die Hütte positionieren. Der Leutnant legte fest, in welcher Marschordnung zu gehen sei und wer sich wann und wo zu melden habe.
»Kontakt mit dem Unbekannten in der Hütte ist unbedingt zu vermeiden«, sagte der Leutnant, »es geht hier nur um Aufklärung und Faktensammlung, jedes Zuwiderhandeln gefährdet die gesamte Operation und das Ansehen des ganzen Gebirgsjäger-Bataillons.«
Die Männer nickten, kauten auf Energieriegeln herum, spülten mit Tee aus Thermoskannen nach und machten sich auf den Weg.
Kirchner hatte es abgelehnt, einen Helm zu tragen, er blieb jetzt, da es auf die Hütte zuging, in der Nähe des Zugführers, trug aber, damit er keine wichtigen Kommandos verpasste, den Kopfhörer unter der Mütze, die obendrein in der dick gefütterten Kapuze steckte. Es herrschten minus sechzehn Grad hier oben, trockene Kälte zum Glück, aber sie fühlte sich bei Windstößen im Gesicht trotzdem arktisch an.
Die Soldaten mit Kirchner im Schlepptau waren an den Punkt gekommen, wo sie in weitem Bogen um die Hütte nach oben auswichen. Etwa die Hälfte der achtunddreißig Soldaten war schon auf der gedachten Kreisbahn unterwegs – sie waren mit bloßem Auge kaum mehr zu sehen –, als am Horizont hinter der Alm plötzlich ein helles Licht auftauchte.
»Deckung!«, zischte der Zugführer in sein Mikrofon und alle achtunddreißig Mann, Kirchner mit kurzer Verzögerung, warfen sich zeitgleich in den Schnee, egal, wo sie gerade waren.
»Was ist das?«, flüsterte der Leutnant.
»Ein Schlitten«, sagte die Stimme eines Soldaten, der schon weiter vorne marschiert war.
»Ein Pistenmotorrad«, sagte eine andere.
In den Austausch mischten sich Kommentare aus dem Kommandozelt.
»Es ist ein Lynx Yeti«, brummte ein Offizier, »wir sehen das hier deutlich im Video.«
»Was machen wir?«, fragte der Zugführer zurück.
»Stellung halten und abwarten.«
Der Lynx Yeti war ein großer Arbeitsschlitten, das sah Kirchner jetzt durch sein Fernglas. Er verfluchte die Situation. Der Schlitten war genau in dem Moment aufgetaucht, als er sich schon bergan bewegte, schräg hinter der Hütte, sein Blickwinkel war schlecht, er konnte die Tür nicht mehr einsehen und fürchtete, dass er nichts würde erkennen können, wenn da drüben gleich irgendeine Bewegung entstünde.
Der Schlitten war näher gekommen, er fuhr in Serpentinen über die Alm der Planeten und hielt auf die Hütten und Schuppen zu.
Kirchner lag etwa zweihundert Meter von der Hütte entfernt, sein nachttaugliches Fernglas zog diese Distanz fast vollständig ein. Die Dinge schienen zum Greifen nah, und die Qualität des Bildes war sehr gut. Kirchner setzte das Gerät ab und verfolgte das Licht in der Finsternis der nächtlichen Berge.
»Verfahren hat der sich nicht«, flüsterte der Zugführer neben Kirchner, der um ein Haar laut gelacht hätte.
Aus der Kommandozentrale hörten sie alle jetzt ein scharfes »Ruhe, alle Mann! Pssst!«.
Der Schlitten hielt vor der Hütte. Die Motorengeräusche verstummten. Der Scheinwerfer ging aus. Kirchner setzte sein Fernglas wieder an und sah sehr nah und deutlich eine Gestalt absteigen, die eindeutig nicht der hünenhafte Mann aus dem Video war. Ein Mann wohl, aber viel kleiner, durchschnittlicher. Kirchner nahm keine besonderen Kennzeichen an ihm wahr. Er sah auch nicht, dass sich die Tür der Hütte geöffnet hatte, sie war vom Dach verdeckt, aber er bemerkte eine Lichtveränderung, die das feine Gerät vor seinen Augen genau registrierte. Offenkundig drang jetzt Licht aus der Tür und fiel auf den Schlitten und seinen Fahrer. Er trug einen Helm und das Visier geschlossen, nun hob er Tüten und Päckchen vom Schlitten. Zur Tür hin machte er eine Geste mit dem Kopf, die zu bedeuten schien: Na komm her, hilf mir, soll ich das hier alles alleine tragen? Daraufhin trat von links jetzt wirklich der große Mann in Kirchners Sichtfeld, er war es, der Mörder, turmhoch überragte er diesen Kurier und seinen Schlitten, und seine Körpersprache ließ nur den Schluss zu, dass er ungehalten, ja, wütend war.
Statt die Tüten und Pakete zu übernehmen und irgendwie zu helfen – es kann sich ja nur um Verpflegung für ihn handeln, dachte Kirchner –, baute sich der Hüne vor seinem Besucher auf und rempelte ihn derart mit vorgestreckter Brust an, dass dieser stolpernd rückwärtstaumelte.
Der Große trat wieder auf ihn zu, wiederholte seine Geste, sein Opfer stieß ein Quieken aus, das dünn und leicht zeitversetzt zu den Bewegungen herüberdrang, dann lag der Schlittenfahrer rücklings im Schnee, die Hände wie zum Schutz vor sich ausgestreckt und augenscheinlich auf seinen Aggressor einredend.
»Erwarte Erlaubnis zum Zugriff«, sagte der Zugführer in die Nacht, es war eine Meldung an die Zentrale.
»Negativ«, sagte die Stimme von Oberstleutnant Berger.
Der Offizier, dachte Kirchner, gerät gerade in eine böse Zwickmühle. Soll er seine Männer dabei zusehen lassen, wie der Mörder einem weiteren Menschen die Knochen bricht? Kann er seine Gebirgsjäger auf diese Zivilisten loslassen? Und wie würde er seinen Vorgesetzten erklären, dass er mit seinen Leuten hier oben – ohne Auftrag, ohne Mandat – nächtelang Räuber und Gendarm spielte?
Der Große traktierte den Kleinen am Boden mit Fußtritten, sein Opfer kroch auf allen vieren durch den Schnee. Die Soldaten verfolgten die Szene, lauernd.
»Erwarte Anweisungen«, sagte der Zugführer, er wusste, dass seine Vorgesetzten die gleichen Szenen in direkter Videoübertragung sahen, er setzte sie unter Druck, er wollte diesen Spuk mit seinen Leuten beenden.
»Keine Aktion«, sagte Bergers Stimme, »haltet die Füße still, Leute, das ist absolut nicht unsere Baustelle.«
»Erwarte Erlaubnis zum Zugriff«, antwortete trotzig der Zugführer.
»Wird nicht erteilt«, sagte Oberstleutnant Berger.
Er hatte Glück, dass sich die Lage vor dem Haus jetzt entspannte. Als der Riese für einen Moment lang abgelassen hatte von seinem Besucher, hatte sich der Mann am Boden an den Kopf gegriffen, mit beiden Händen am Hals herumgenestelt und endlich den Helm abgestoßen. Der Augenkontakt beruhigte den großen Aggressor offenkundig oder schüchterte ihn ein, das war aus der Ferne schwer zu beurteilen.
Den Mann, der unter dem Helm zum Vorschein kam, kannte Kirchner, er bemerkte es überrascht, aber auch mit dem Gefühl einer logischen Bestätigung: Es war Bruno Lapierre, der glatzköpfige Chefredakteur.
Schau an, dachte Kirchner, treibt der sich spätnachts hier in den Bergen herum und prügelt sich mit Mördern im Schnee.