Das Telefonat mit Großtante Louise war Kirchners unerwarteter Durchbruch. Zuvor hatten sie alle – Muriel, Berthe Fichier, er selbst – viel über den Fall gewusst, aber nichts verstanden; nun begannen sich die Teile des Puzzles zu einem Bild zu fügen. Die Großtante war eine kostbare Augenzeugin. Dass sie sich erinnern konnte, den Skispringer mit zwei der späteren Mordopfer gesehen zu haben, und dass sie Mortier generell für einen Schürzenjäger hielt, öffnete Kirchner die Augen. Er hielt es nun für sehr wahrscheinlich, dass Mortier alle vier Frauen gekannt hatte, die später ermordet wurden, und das allein war bemerkenswert. Zwischen seinem Fremdgehen und der Mordserie musste eine Verbindung bestehen, die Tatsache, dass alle ermordeten Frauen schwanger waren, gab womöglich ein dunkles Motiv für alle Taten ab. Trotzdem blieben ihm die Hergänge weiterhin dunkel. Die Rolle des Hünen von der Hochalm war ungeklärt. Und der Part dieses Chefredakteurs Bruno Lapierre. Wie tief steckte Dr. Gramont in der Sache? Zu ihm konnte er jetzt immerhin mit der richtigen Frage zurückkehren. Und er würde es sofort tun.
Ohne den Arzt noch einmal anzurufen, bestellte er ein Pistenmotorrad. Über das Hochtal von Chanterelle fiel wieder der Abend, die Station der Pistentaxis lag fünf Minuten zu Fuß von seiner Pension im tiefer gelegenen Teil der Ortschaft. Kirchner schlenderte hinunter, zuversichtlicher als je in den vorausgegangenen Tagen. Auf dem Weg kaufte er beim Wein- und Spirituosenhändler des Dorfes, La Cave des Connaisseurs, Der Keller der Kenner, zwei exquisite Flaschen Clos des Lambrays.
Der Weg vom Dorf zu Dr. Gramonts Wäldchen zwischen zwei Pisten war auf dem Motorrad beschämend schnell bewältigt, verglichen mit seinen demütigenden Erfahrungen im Schneetreiben ein paar Tage zuvor. Dieses Mal ereignete sich kein Unfall, niemand attackierte ihn, sein Fahrer entführte ihn auch nicht; Kirchner stand bald trocken, unverletzt und ausgeruht vor der Tür des Holzhauses, auf dessen Dach das Licht im Rhythmus eines Leuchtturms blinkte. Er sah keine Klingel, also klopfte er. Und Dr. Gramont öffnete so schnell, als hätte er schon hinter der Tür gestanden und auf ihn gewartet.
»Ich habe Sie kommen sehen«, sagte er nervös.
Er steckte in einem gesteppten kardinalsroten Hausmantel, der bis zu den Knöcheln reichte, vermutlich ging er für gewöhnlich früh zu Bett.
»Nun sind Sie also auf die richtige Frage gekommen …«, sagte der Arzt, »… und Wein bringen Sie auch. Kommen Sie herein.«
Er trat vor Kirchner zurück ins Haus und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung zu folgen.
Das Haus war nicht, wie Kirchner vermutet hatte, wie ein gemütliches Châlet möbliert. Zwar waren die Wände, Böden und Decken aus rustikalem Holz, die Möbel waren jedoch zumeist aus Stahl und Leder. Die gesamte Einrichtung repräsentierte eine Moderne von gestern, die Lampen wirkten wie aus einem Kunstgewerbemuseum der 1970er-Jahre, sie waren gemustert in Orange- und Brauntönen. Über dem Kamin hing das Bild eines modernen deutschen Künstlers, der seine Figuren immer auf dem Kopf stehend malte.
»Die Frage lautet«, sagte Kirchner, »was hat es zu bedeuten, dass alle ermordeten Frauen schwanger waren?«
Der Arzt nickte. Er bot Kirchner schweigend einen Sessel an und sah ihm dabei zu, wie er eine Flasche Clos des Lambrays öffnete.
Bald saßen die beiden vor gefüllten Gläsern, und der Alte, der so jung wirkte, begann zu erzählen. Die längste Zeit, erzählte er, sei Chanterelle ein verlorenes Nest und er darin der einzige Allgemeinmediziner gewesen. Der große Skizirkus sei erst Ende der 1980er-Jahre gekommen, ein paar Jahre nach Maxime Mortiers Siegen, aber seine Medaillen hätten natürlich am Beginn des Aufschwungs gestanden. In den Jahrzehnten zuvor sei Chanterelle ein Alpendorf wie viele andere gewesen, ein bisschen schöner gelegen vielleicht, aber genauso arm wie der große Rest.
»Wir waren weltferne Provinz«, sagte Dr. Gramont, »und zu mir sind sie alle gekommen, weil sie mussten; es gab ja sonst nur Tierärzte hier.«
So wurde ein echter Bergdoktor aus ihm. Oft musste er sich bei schlimmstem Wetter und bei Nacht zu Almen aufmachen, auf denen sich Bauern bei der Arbeit verletzt hatten. Auch hoch in den Bergen wurden Kinder geboren, und Frauen lagen im Fieber, und er, Gramont, war zu Beginn seiner Laufbahn, in den 1950er-Jahren, noch zu Pferd hinaufgeritten, und manchmal fuhr er mit Skiern wieder ab und hatte kranke Kinder auf den Rücken geschnallt, die operiert werden mussten.
»Es wird Sie nicht wundern zu hören, dass das eigentlich eine schöne Zeit war«, sagte der Arzt, »aber Sie sind ja nicht gekommen, um meine alten Märchen anzuhören.«
Kirchner lud ihn mit Gesten ein weiterzuerzählen, aber Dr. Gramont winkte ab.
»Nein, nein, Monsieur Kirchner, wissen Sie, ich habe Ihnen das noch nicht gesagt, aber ich bin immer ein Abonnent Ihrer Zeitung gewesen. Ich kenne Ihre Reportagen, es ist mir eine Ehre, dass Sie hier an meinem Kamin sitzen. Aber Sie müssen verstehen«, sagte Dr. Gramont, »dass wir hier alle in einer Sackgasse stecken. Und ich weiß nicht, wie wir jemals wieder herauskommen sollen.«
Kirchner sah, dass der Arzt mit sich rang. Dr. Gramont stand vor der schweren Entscheidung, ein Kartell des Schweigens zu sprengen, und er war sich im Unklaren darüber, welche Folgen das haben würde. Für ihn, für sein Leben, aber auch für das ganze Dorf.
Kirchner verstand diese Zweifel, er sagte: »Dr. Gramont, sehen Sie, ich glaube, ich verstehe Sie, ich ahne, was in Ihnen vorgeht. Aber was haben Sie zu verlieren? Alle werden aufatmen, wenn dieser Albtraum endlich zu Ende geht.«
»Wenn er denn zu Ende geht«, sagte der Doktor. »Es sind hier viele Interessen im Spiel, Monsieur Kirchner, das geht hoch hinauf, bestimmt bis nach Paris.«
»Deshalb bin ich hier«, sagte Kirchner, betont selbstbewusst, um dem Doktor Vertrauen einzuflößen. »Es gibt in solchen Fällen nach meiner Erfahrung keine bessere Waffe als das öffentliche Wort. Und, wissen Sie: Man kann vielleicht einen Artikel aus dem Savoyard libre verschwinden lassen. Aber nicht einen Aufmacher von Le Monde.«
Dr. Gramonts Geschichte war lang, widersprüchlich und verwickelt. Kirchner saß bald drei Stunden bei ihm, und der Alte hörte nicht auf zu reden, der tiefrote, duftende Clos des Lambrays tat das Seine. Der Arzt machte sich furchtbare Vorwürfe, weil er glaubte, er hätte die Mordserie stoppen können. Wie jeder in der Gegend hatte auch er die Gerüchte über Mortiers Weibergeschichten immer gekannt, aber auf die gute französische Art hatte er sich gesagt, es handele sich um die Privatangelegenheiten eines Menschen, die niemanden außer die Beteiligten etwas angingen. Trotzdem hatte er, ohne genau zu wissen warum, vom ersten Mord an den furchtbaren Verdacht, dass dem Skispringer der Ruhm womöglich zu Kopf gestiegen war und er sich Frauen nahm und sie wieder wegwarf, einfach so.
Vielleicht war der Arzt auch, insgeheim, ein wenig neidisch auf das aufregende Liebesleben des Sportstars gewesen, neben dem sich seine eigene arbeitsame Existenz nur mit einer betagten Haushälterin recht traurig anfühlte.
Als sich der dritte Mord ereignet hatte, sagte der Arzt nun zu Kirchner, hielt er es für ausgemacht, dass der Olympiasieger mit den Todesfällen direkt zu tun hatte; dass er die Morde vielleicht nicht eigenhändig verübte, aber dass er einen Handlanger dazu anstiftete.
»Und sehen Sie, das ist unser aller entsetzliche Schuld«, sagte Dr. Gramont. »Wir haben zugesehen. Wir haben geschwiegen. Ich bin sicher, es ist vielen genauso gegangen wie mir. Sie ahnten etwas, wussten etwas, redeten aber nie darüber. Wir sind alle Komplizen.«
Kirchner beruhigte den Arzt. Er beugte sich nach vorne und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Sie haben über all das sicher viel länger nachgedacht als ich«, sagte Kirchner. »Ich frage mich nur, woher Sie Ihre Gewissheit nehmen? Dass Mortier mit den Morden zu tun haben könnte, leuchtet mir ein. Aber Sie reden davon wie von einer Tatsache.«
Dr. Gramont nickte vor sich hin, wissend, müde. »Sie haben recht«, sagte er, »ich rede um den heißen Brei herum. Ich bin nicht aufrichtig zu Ihnen. Ich …« Der Arzt stockte, Kirchner spürte, dass er an dem Punkt angelangt war, über seinen Schatten zu springen oder es sein zu lassen. »Ich tue unschuldiger, als ich bin«, sagte er jetzt, »in Wahrheit wusste ich schon nach dem zweiten Mord alles. Jahrelang habe ich mich darüber selbst belogen, verstehen Sie, ich wollte es einfach nicht wissen.«
Nun erzählte der Arzt, wie an einem Sommertag im Jahr 1988, sieben Jahre nach dem ersten Mord, Maxime Mortiers Manager, der Sportvermarkter Bruno Lapierre, mit einer jungen Frau in seine Praxis gekommen war. Sie hieß Jacqueline Fabre, war neunzehn Jahre alt und hatte einen Ferienjob als Verkäuferin in einer der Bäckereien von Chanterelle. Das Mädchen hatte sehr unglücklich gewirkt; Lapierre, an ihrer Seite, trat dagegen sehr bestimmend auf. Die beiden saßen in Dr. Gramonts Sprechzimmer, und Lapierre sagte, es gehe um eine heikle Angelegenheit.
»Nun, Sie ahnen es schon«, sagte Dr. Gramont angewidert zu Kirchner, »die junge Dame war schwanger, und sie ›brauchte‹, wie sich Lapierre ausdrückte, eine Abtreibung. Er redete die ganze Zeit, als ginge es darum, eine Waschmaschine oder einen Kühlschrank zu verkaufen.«
Außerdem, erzählte Dr. Gramont, habe Lapierre gleich klargemacht, dass es gut wäre, wenn in der Sache nicht allzu viel Papier produziert würde, und mit diesen Worten habe er ein Scheckheft aus der Jackentasche gezogen und vor sich auf des Doktors Schreibtisch gelegt, um zu signalisieren, dass er Dr. Gramonts Dienste großzügig entlohnen würde.
»Was haben Sie getan?«, fragte Kirchner.
»Ich habe gesagt, dass ich mit der jungen Dame alleine sprechen wolle.«
»Und?«
»Und das habe ich getan. Lapierre wartete draußen.«
In derselben Sekunde, in der Dr. Gramont mit Mademoiselle Fabre allein gewesen war, weinte sie bittere Tränen und schüttete ihm ihr junges Herz aus. Sie erzählte, dass nicht etwa Lapierre der Vater des ungeborenen Kinds sei, sondern – und dabei hatten ihre Augen geleuchtet – Maxime Mortier, der Sieger von Lake Placid. Der Medaillengewinner liebe sie, erzählte Jacqueline Fabre, er habe ihr versprochen, seine Frau für sie zu verlassen.
»Ich habe mir natürlich meinen Teil gedacht«, sagte Dr. Gramont, »aber sie war wirklich blind vor lauter Liebe oder Verehrung oder was immer sie empfunden hat.«
Die junge Frau, erzählte der Arzt, habe noch nicht einmal bemerkt, dass sich das Verhältnis zwischen ihr und dem Geliebten schlagartig abkühlt hatte, als sie ihm nach einigen Wochen begeistert erzählte, dass ihre Regel ausgeblieben war. Erst als zur nächsten Verabredung anstelle von Mortier sein Manager Bruno Lapierre erschien, ahnte sie die Grenzen seiner Liebe. Lapierre hatte eine Art Vertrag dabei, den Jacqueline Fabre unterschreiben sollte. Darin stand sinngemäß und wahrheitswidrig, dass Mortier und sie sich nicht persönlich kannten, dass sie sich bereit erkläre, dem Sportler nie wieder nachzustellen noch ihn sonst zu belästigen. Ihr wurde ein Strafgeld von hunderttausend Francs angedroht, falls sie von nun an erlogene Nachreden über Maxime Mortier verbreiten sollte. Und von Besuchen in Chanterelle, auch das stand in dem Wisch, den sie als Erklärung unterschreiben sollte, werde sie künftig absehen.
»Als ich sie sah«, sagte Dr. Gramont, »war sie in der elften Woche schwanger. Wenn sie es gewollt hätte, hätte ich die Abtreibung vorgenommen, ich war in dieser Frage immer fortschrittlich.«
»Aber sie wollte nicht«, sagte Kirchner.
»Richtig, sie wollte das Kind bekommen«, sagte der Arzt. »Sie müssen bedenken, dass Maxime Mortier immer noch ein Gott war, damals. Er war ein wirklich gut aussehender, charmanter, immer noch junger Mann und jederzeit in der Lage, so ein junges, hübsches Ding zu beeindrucken. Ich bin sicher, es gab viele Frauen damals, die ein Kind mit ihm haben wollten.«
»Was passierte dann?«, fragte Kirchner.
»Die junge Frau bekniete mich, für sie zu lügen«, sagte Dr. Gramont. »Ich sollte Lapierre weismachen, dass ich die Abtreibung vornehmen würde.«
»Und Sie haben ihr den Gefallen getan«, sagte Kirchner.
»Ja, ich habe für sie gelogen. Ich hatte das Gefühl, dass sie großen Ärger bekommen würde, wenn sie gegen den Willen dieses unangenehmen Menschen im Wartezimmer handeln würde.«
»Aber dieser Plan ging nicht auf«, gab Kirchner zurück, er versuchte sich jetzt als Stichwortgeber, um dem alten Arzt das Reden zu erleichtern.
»Nein«, sagte Dr. Gramont, und nun stiegen ihm Tränen in die Augen, »dieser Plan ging nicht auf.«
Jacqueline Fabre hatte nicht daran geglaubt, dass ihr Geliebter Maxime Mortier sie loswerden wollte. Sie dachte stattdessen, der damals schon glatzköpfige Bruno Lapierre wolle sich ihrer schönen Liebe aus Gemeinheit und Eifersucht in den Weg stellen. Dr. Gramont konnte auch diesen Teil der Geschichte im Detail erzählen, weil das Mädchen, wie er Jacqueline Fabre durchgängig nannte, nun ständig bei ihm saß, um sich auszuweinen und seinen Rat zu hören. Sie war verzweifelt. Der Sportheld traf sich nicht mehr mit ihr, er machte sich rar, und sie drang nicht zu ihm durch. Einmal hatte sie ihn noch am Telefon, und er sagte zu ihr, sie dürfe ihn nicht mehr anrufen, weil sonst etwas Schlimmes passiere. Diese Aussage interpretierte Jacqueline Fabre unsinnigerweise so, dass auch Mortier ein Gefangener der Umtriebe von Bruno Lapierre war.
»Sie war«, sagte Dr. Gramont traurig, »wirklich jung und dumm. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich darüber spreche.«
So musste es früher oder später zu einem Eklat kommen, über den das ganze Dorf erst aufgeregt schnatterte, dann aber schnell wieder schwieg.
Der alte Arzt erfuhr, dass Jacqueline Fabre ab und zu Mortiers Frau anrief und sie beschimpfte. Dr. Gramont riet ihr dringend, diese Anrufe zu unterlassen. Er riet ihr überhaupt, Mortier zu vergessen, ihr Leben zu genießen, aber sie wollte nicht hören.
An einem Abend passte sie Mortier in seinem Sportgeschäft ab, kurz vor Ladenschluss. Sie hatte sich lange zwischen den Auslagen herumgetrieben, immer in der Hoffnung, ihr Geliebter würde erscheinen. Als er wirklich kam, stürzte sie auf ihn zu und warf sich ihm zu Füßen. Sie umklammerte seine Knie, schwor ihm die ewige Liebe, und der Sportheld, statt sich zu bücken, sie aufzuheben und zu beruhigen, zeigte sich plötzlich von einer sehr hässlichen Seite. Er befreite eines seiner Beine aus ihrem Griff und trat mit dem freien Fuß nach ihr, sodass sie für einen Augenblick lang bewusstlos nach hinten wegsackte. Mortier schrie die schockierten Verkäuferinnen im Laden an, ihn nicht blöde anzustarren wie den Leibhaftigen und sich um das kleine Flittchen zu kümmern und rannte dann wütend aus dem Geschäft.
»Zwei Tage später«, sagte Dr. Gramont jetzt zu Kirchner, »war Jacqueline Fabre tot. Ich habe ihren Tod festgestellt am 7. September 1988 um elf Uhr vierunddreißig. Sie wurde nicht weit von hier gefunden, oberhalb des Waldes. Nackt, geschändet und erwürgt.«