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Antoine Kirchner betrat das Lake Placid um achtzehn Uhr, es war der Abend zwei Tage vor Weihnachten, und Chanterelles erstes Hotel war gut gebucht. An der Rezeption trug sich eben eine größere Gruppe ankommender Gäste ein, gut gelaunte Unterhaltungen waren zu hören, Schlüsselklimpern, das rumpelnde Rollen von Koffern auf Holzdielen.

Kirchner kam nicht allein zu seiner Verabredung. An seiner Seite ging der Kommandeur des 13. Bataillons der Gebirgsjäger, Oberstleutnant Pascale Berger, hinter ihnen zwei Leutnants und vier Gefreite in Galauniformen. Die insgesamt acht Männer, Kirchner unter ihnen der einzige Zivilist, machten nicht wenig Aufsehen in der Lobby, Hotelgäste und Angestellte schauten ihnen nach, ein Alter rief ihnen seinen Respekt zu. Kirchner winkte zurück, als gälte die Huldigung ihm.

Er sah Maxime Mortier schon von Weitem. Der alte Sieger saß in Anzug und Schlips an der Bar und wechselte Worte mit seinem Barkeeper, dem falschen Pariser Christophe Cauchon, der spätnachts auf die Hochalm gekommen war, um Bruno Lapierre aus der Patsche zu helfen.

Cauchon registrierte Kirchners Ankunft zuerst, er drehte Mortier bedeutsame Augen hin, worauf dieser herumfuhr und auf die Ankömmlinge zulief wie ein Gastgeber.

»Monsieur Kirchner«, rief Mortier, »ah, ich sehe, Sie haben ein paar Freunde mitgebracht, auch gut, aber lassen Sie uns vielleicht nicht hier reden, in aller Öffentlichkeit, meine ich. Gehen wir doch in mein Büro.«

»Wo sind die anderen?«, fragte Kirchner.

»Wen meinen Sie?«, gab Mortier zurück.

»Lapierre und Falsone würden mir schon reichen«, sagte Kirchner.

»Nun, das tut mir leid«, sagte der Skispringer, »sie sind wohl beide verhindert.«

Kirchner konnte spüren, dass Mortier die Anwesenheit der Soldaten ungelegen kam und auch unangenehm war. Das mochte daran liegen, dass er beim anstehenden Gespräch lieber keine Zeugen dabei gehabt hätte. Es konnte aber auch daran liegen, dass er Kirchner gar nicht sprechen, sondern ihn nur in eine Falle locken wollte.

»Was haben wir denn überhaupt zu besprechen?«, fragte Mortier und tat arglos.

»Das ahnen Sie wohl nicht?«, fragte Kirchner.

Darauf sagte Mortier nichts.

Er ging dem Reporter und den Gebirgsjägern die Treppe voran in den ersten Stock des Hotels, wo auf der Bergseite die Büros des Hotels untergebracht waren, auch Mortiers großes Chefzimmer, in dem unter Glas seine beiden Goldmedaillen und die Silbermedaille von 1980 hingen. Es waren zweifellos die Originale.

»Da sind sie«, sagte Kirchner, und indem er auf die Medaillen zeigte: »Wie konnte dieses schöne Märchen derart schiefgehen?«

Mortier entgegnete nichts darauf. Er bot allen Männern Stühle an, auch die Couch in einer Sitzecke gegenüber dem Schreibtisch, aber Kirchner sagte, es sei besser, unter vier Augen zu reden.

Berger und seine Leute rückten ab und postierten sich vor der Tür.

»Hélène Vasseur, Jacqueline Fabre, Eve Babeurre, Julie Clément«, sagte Kirchner, »was fällt Ihnen zu diesen Namen ein?«

Mortier schwieg.

Er sah dabei nicht selbstbewusst oder sonst wie kontrolliert aus. Er war sichtlich aufgewühlt, knetete die Hände, biss sich auf der Unterlippe herum, vermied Kirchners Blick.

»Ist das der Plan«, fragte Kirchner, »dass Sie sich jetzt hierher setzen und gar nichts sagen?«

Der Olympiasieger schwieg weiterhin.

Er hatte offenkundig vor zu schweigen, jede konkrete Aussage zu verweigern, so als hätte er gewusst, dass alles Gesagte die Sache nur noch schlimmer machen würde.

»Wissen Sie, Monsieur Mortier«, sagte Kirchner, »Sie haben recht. Es gibt nichts zu besprechen. Sie und ihre Kameraden haben es ohnehin immer vorgezogen, Fakten zu schaffen, nicht wahr? Sagen Sie mir nur eins, Monsieur, warum mussten diese Frauen sterben? Warum haben Sie Ihnen einen perversen Killer auf den Hals gehetzt? Nur um weiter als der brave Ehemann dastehen zu können? Um die Legende vom heilen Bergdorf Chanterelle nicht kaputtzumachen? Oder weil Sie nicht bezahlen wollten?«

Mortier sagte noch immer nichts.

Er atmete schwer, Kirchner meinte sogar, Tränen in seinen Augen zu sehen. Der Olympiasieger schien in diesen Augenblicken innerlich zu erlöschen, matt und traurig saß er da, ein armseliger Ertappter, der sich fügte in eine Niederlage; er war nicht wütend, so schien es Kirchner. Er war unendlich müde und froh vielleicht, endlich aufzufliegen.

Er schwieg.

»Was ist nun, Maxime?«, fragte Kirchner, »wollen Sie nicht endlich auspacken? Wollen Sie mir nicht sagen, dass Bruno Lapierre Ihnen alles eingebrockt hat? Kommen Sie, reden Sie! Dieser Wahnsinn muss doch endlich ein Ende haben!«

Mortier presste seine Lippen so aufeinander, dass der Mund in seinem Gesicht stand wie ein weißer Strich. Er sah an Kirchner vorbei an die Wand, seine Nerven flatterten.

Vielleicht, dachte Kirchner, gelingt es mir mit ein paar weiteren Provokationen doch noch, sein Schweigen zu brechen, das Schweigen des gefallenen Siegers.

Er hatte diesen Gedanken jedoch kaum zu Ende gedacht, als sich zu seiner Linken eine Seitentür des Büros öffnete und eine schmale, hohe Frau mit dem Profil eines Raubvogels den Raum betrat. Ihr Gesicht war klein und ungeschminkt, nur die Lippen waren rot übermalt, und dieser Mund gab ihrem Aussehen etwas Krankes, Entzündetes. Sie sah Kirchner aus kühlen Augen an, bog vor seinem Stuhl zum Schreibtisch ab und stellte sich dort in majestätischer Haltung neben Mortier, dem sie eine Hand auf die Schulter legte.

»Ich denke«, sagte sie mit bedrohlich leiser Stimme, »mein Mann hat Ihnen ausreichend deutlich gemacht, dass er das Gespräch für beendet hält.«

Kirchner stand auf, es war eine instinktive Bewegung, unwillkürlich wollte er Augenhöhe mit der herrischen Frau herstellen.

»Madame«, sagte er, die Formalität verdeckte nur seine sprachlose Überraschung darüber, mit einem Mal Elisabeth Mortier gegenüberzustehen, »es ist mir eine Ehre.«

»Mir nicht«, sagte sie, »gehen Sie jetzt!«

Kirchner machte dazu keine Anstalten. Er stand und staunte, er hatte sich Mortiers Frau völlig anders vorgestellt, das heißt: Er hatte sie sich gar nicht vorgestellt, er hatte sie nicht auf der Rechnung. Sie schien nur ein weiteres Opfer in diesem Spiel zu sein, eine bedauernswerte Randfigur, Kirchner hatte sie schlicht übersehen. Nun improvisierte er.

»Wissen Sie, meine Großtante Louise aus La Piche hält große Stücke auf Sie, Madame«, sagte Kirchner, »sie sagt allerdings auch, dass Sie ihr stets leidgetan hätten, weil Sie eigentlich ein guter Mensch seien und einen besseren Mann verdient gehabt hätten. Stimmt das?«

Elisabeth Mortier antwortete ohne Worte, indem sie Kirchner mit kalten Augen fixierte. In ihrem Blick lag eine Bosheit, über die Kirchner innerlich erschrak.

»Hinaus!«, zischte sie, während sie sich offenkundig mühte, die Fassung zu wahren.

Kirchner sah eine Frau vor sich, die ihre kochende innere Wut abzukühlen versuchte, ohne zu wissen, ob ihre Kräfte dafür ausreichen würden. Elisabeth Mortier stand ein wenig schief bei ihrem Mann, lauernd, sie erinnerte Kirchner an eine Waage in prekärem Gleichgewicht.

»Gehen Sie«, sagte sie noch einmal.

Aber daraufhin setzte sich Kirchner nur demonstrativ wieder auf seinen Stuhl und schlug die Beine übereinander, so, als wollte er noch lange bleiben.

»Ihre Ankunft macht es mir unmöglich zu gehen«, sagte er, »ich muss mehr über Sie erfahren. Und wenn dies ein Film wäre, dann müssten Sie mir jetzt damit drohen, die Polizei zu rufen.«

»Hinaus!«, schrie Mortiers Frau.

Sie fuhr beängstigend schnell um den Schreibtisch herum, sodass Kirchner nicht schnell genug wieder aufstehen konnte. Schon hatte sie sich über ihm aufgebaut und spuckte ihm jetzt in die Haare, einmal, zweimal, dreimal.

Kirchner duckte sich weg, es gelang ihm aufzustehen, er war zum Glück größer als Elisabeth Mortier, aber sie war schon wieder dicht vor ihm, ihr fahles Gesicht mit dem blutroten Mund darin war zu einer Fratze entstellt. Im selben Augenblick stieß sie ihm die Stirn mit wütender Kraft ins Gesicht, sodass Kirchner schon im Augenblick des Schlags spürte, dass sie ihm die Nase gebrochen hatte.

Er taumelte rückwärts, benommen von den Schmerzen, und durch den Nebel hörte er ihre Stimme, so laut jetzt, so schrill, dass hinter ihm die Gebirgsjäger alarmiert ins Zimmer stürmten und auf sie zustürzten: »Gehen Sie nicht mehr spazieren heute Nacht, Monsieur! Gehen Sie nicht mehr auf die Piste! Das nächste Mal fahre ich Sie tot! Und dann reiße ich Sie in Stücke!«

***

Kirchner und seine Gebirgsjäger liefen bald danach wieder durch den winterkalten Abend, die Sterne leuchteten in einem blauschwarzen Himmel, und an allen Fassaden des Dorfes blinkte rot, weiß und grün der weihnachtliche Putz.

Kirchner hielt einen Packen Papiertaschentücher gegen die Nase gepresst, in dem sich rote Flecken gebildet hatten, die Blutung schien aber gestillt.

»Merde«, schimpfte Kirchner, »mit so einer Nase schmeckt man ja nicht einmal die Hälfte, und das ausgerechnet jetzt, vor den Feiertagen.«

»Und unseren Gin Tonic kriegen wir in diesem Leben auch nicht mehr«, gab einer der Gebirgsjäger zurück.

Mit ihren Witzen wollten die Männer indes nur überspielen, wie verstörend der Ausbruch der Madame Mortier auf alle gewirkt hatte. Nachdem sie versucht hatte, Kirchner niederzuschlagen, mussten sich vier Soldaten alle Mühe geben, sie niederzuhalten. Es gelang ihr aber, indem sie sich unter den Griffen der Männer mit ungewöhnlicher Kraft aufbäumte, Kirchner in den Blick zu nehmen, als wollte sie versuchen, ihn allein mit ihren Blicken zu töten.

Der Ausdruck ihrer Augen war zutiefst beängstigend, er kam, dachte Kirchner, aus dem Reich des großen Versuchers, der die Schwächsten wie die Stärksten in Schande und Sünde verbindet und verstrickt.

Kirchner und die Soldaten bestiegen einen Radpanzer, der sie auf steilen Forstwegen zurück ins Lager auf dem Mont Bisanne brachte. Dort hatten sie mittlerweile, wie sich Oberstleutnant Berger ausdrückte, einen weiteren Logiergast.

Seine Leute, der 2. Zug, hatten auf der Hochalm der Planeten wieder auf der Lauer gelegen, aber dieses Mal nicht um die Hütte herum, sondern in der Hütte selbst. Der Hüne war zwar in Gewahrsam, aber die Operation der Gebirgsjäger deshalb nicht abgeschlossen. Sie testeten weiter ihre neuen Geräte, und sie nutzten auch die Gelegenheit, über den mutmaßlichen Mörder, den sie gefangen hatten, mehr zu erfahren. Dazu gehörte die Frage, ob er hier oben womöglich häufiger Besuch bekam – und von wem.

Die Operation war am frühen Morgen angelaufen, ein gutes Dutzend Soldaten war in der Hütte postiert, im Schnee draußen lagerten vier Kundschafter, um die Operation zu sichern.

Sie meldeten, gut zwei Stunden nachdem sich Kirchner in Chanterelle beim Gendarmen Falsone für den Abend im Lake Placid angekündigt hatte, dass sich neuerlich ein Motorschlitten nähere.

Es war der reparierte Lynx Yeti von Bruno Lapierre, der das Gefährt auch selbst den Berg hinauflenkte und es offenbar eilig hatte, seinen Freund Noirot zu sehen. Mit heulendem Motor jagte er über die Alm, nahm steile Abkürzungen und riskierte viel, um möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Er fuhr auch direkt vor die Tür der Hütte, stieg ab und hämmerte ans Holz – aber zu seinem Entsetzen öffnete nicht der Hüne, sondern ein Leutnant der Gebirgsjäger, hinter dem ein Dutzend weiterer Soldaten aufgebaut stand.

Lapierre war von diesem Anblick so vollständig überrumpelt, dass sein Verstand einen Augenblick lang aussetzte. Denn statt die Fassung zu wahren und auf die Schnelle eine müde Geschichte über einen Irrtum zu erfinden, Au revoir zu sagen und einfach wieder abzufahren, machte Lapierre panisch auf dem Absatz kehrt, rannte zu seinem Schlitten, riss eine Leuchtpistole aus einer Tasche und legte auf die Soldaten an. In derselben Sekunde kehrte sein Verstand freilich zurück, und er feuerte die Signalwaffe doch nicht ab, aber diese Besinnung kam zu spät, weil ihn jetzt zwei Tritte in die Kniekehlen und ein Schlag an den Hals trafen, ausgeführt von einem kampferprobten Gebirgsjäger, der ihm die Pistole mit einem schnellen Griff entwand.

Lapierre war einige Minuten ohne Bewusstsein. Als er wieder erwachte, hielt er sich die Knie und wimmerte etwas von einem Polizeistaat, in dem unbescholtene Bürger von Staatsbeamten gefoltert würden; es sei alles ein unglaublicher Skandal.

Die Gebirgsjäger hatten Lapierre, wieder mit der vorgeschobenen Begründung, einen Mitbürger aus der Bergnot gerettet zu haben, in ihr Winterlager auf dem Mont Bisanne abgeführt.

Anders als der Riese Noirot wehrte sich der kurze, glatzköpfige Lapierre nicht körperlich gegen seine Festnahme, aber er redete ununterbrochen auf den Zugführer und andere Soldaten ein. Er verlangte gestikulierend einen Anwalt, er forderte eine Begründung, eine offizielle Erklärung, einen richterlichen Beschluss. Er wollte die Polizei eingeschaltet sehen, einen Staatsanwalt sprechen, und vor allem wollte er auf der Stelle freigelassen werden, und sei es gegen eine Kaution. Er wütete.

Als Kirchner das Kommandozelt Berger betrat, saß Lapierre mit einer Armeedecke um die Schultern eingesunken auf einem Klappstuhl und trank Tee aus einem Becher, den er mit beiden Händen umfasst hielt.

»Sie?«, fragte er empört, als er aufsah und Kirchner erkannte. »Was ist denn das für eine Schmierenkomödie hier? Die Armee verhaftet wahllos Leute und lädt sich danach die Presse ein? Ihr werdet das alle bereuen! Hören Sie, Kirchner«, schrie Lapierre, er war aufgesprungen. »Ihr werdet das bereuen! Ihr seid doch alle verrückt geworden!«

Kirchner sagte darauf nichts. Er setzte sich Lapierre gegenüber, schwieg und musterte ihn.

Bislang hatte er ihn für den eigentlichen Paten und Kopf des Mortier-Clans gehalten, nun schwankte er. Dieser kleine Dicke mit der Glatze, der beim Savoyard libre den Chefredakteur mimte, dieser Typ mit den vielen Ringen an den Fingern hatte nicht das Format zum Anführer einer Mörderbande.

Lapierre, dachte Kirchner in diesen Augenblicken, ist der klassische zweite Mann, der Abräumer, das Mädchen für alles, einer für juristische Fragen, für Geldgeschäfte, für die Drecksarbeit.

»Sie steckt hinter allem, Elisabeth, nicht wahr?«, fragte Kirchner.

Das war ein entwaffnender Satz, er konnte es sehen in Lapierres Gesicht; er sperrte sich noch, aber er würde auspacken.