Am ersten Weihnachtsfeiertag rückte die Gendarmerie nationale mit großem Aufgebot nach Chanterelle ein. Eine Gruppe von sieben Sonderermittlern bezog mit Assistenten und Zuarbeitern die oberen zwei Etagen der Pension Zur Veilchenalm und nahm sofort die Arbeit auf.
Ihre erste Amtshandlung bestand darin, Olivier Falsone von seinen Pflichten als Chanterelles Gendarm vom Dienst zu entbinden und zu beurlauben.
Anschließend stellten sie bei einer zeitgleich ausgeführten Razzia im Hotel Lake Placid, den Immobilienbüros der Familie Mortier, in der Arztpraxis und im Privathaus Dr. Gramonts, in der Chefredaktion des Savoyard libre in Albertville und in der Kriminalpathologie von Lyon bergeweise Akten sicher.
Maxime Mortier unterlag von nun an einer strengen Meldepflicht und musste sich jeden Tag bei den Gendarmen melden. Dasselbe galt für Bruno Lapierre, Dr. Gramont und den Barkeeper Christophe Cauchon. Steckbrieflich gesucht wurden Elisabeth Mortier, die an Heiligabend aus Chanterelle geflüchtet war, und Sébastien Noirot, ein zweiundvierzigjähriger Kuhhirt aus Clavettaz, beide dringend verdächtig, gemeinschaftlich vier Morde verübt zu haben.
Endlich, nach mehr als zwei Jahrzehnten der organisierten Vertuschung, nahm sich Frankreichs Staatsmacht und sein Justizapparat einer Mordserie an. Endlich wurde aufgearbeitet, warum vier junge Frauen sterben mussten, im Zuge von abscheulichen, leichenschänderischen Verbrechen.
Chanterelle füllte sich über die Weihnachtsfeiertage mit Reportern und journalistischen Sondergesandten aus ganz Europa. An den Abenden war die Hauptstraße hell erleuchtet von den gleißenden Scheinwerfern des Fernsehens, und das Lake Placid wurde eine Art Hauptquartier, wo die Sonderermittler der Gendarmerie ihre Pressekonferenzen veranstalteten, wenn es Neues zu verkünden gab.
Nach der spektakulären Weihnachtsnummer von Le Monde war der Fall im Grunde geklärt. Gewiss, es gab Details, die Frankreichs größte Tageszeitung und ihr grand reporter Antoine Kirchner noch nicht hatten wissen können. Aber in den groben Zügen war die Geschichte erzählt, und nun wurde sie auf dem ganzen Kontinent nacherzählt, selbst die New York Times veröffentlichte, mit einer gewissen Verzögerung, ein großes Feature in ihrer Sonntagsausgabe. Die Geschichte des weltberühmten Sportlers, dessen Schürzenjägerei in eine Mordserie hoch in den Bergen mündete, war als Stoff unwiderstehlich.
Auf dem Mont Bisanne gerieten, nahe der Hochalm der Planeten, reihenweise Journalisten in Bergnot, und die Bergwacht musste ganze Kamerateams aus eisigen Felsspalten im Massiv von Aravis befreien. Zwei japanische Reporter, die meinten, den Bischofskragen auf Turnschuhen überqueren zu müssen, stürzten in den Tod, sodass sich die Regionalverwaltung Savoyens dazu entschied, die Hochlagen am Mont Bisanne und die Berge von Aravis zu militärischen Sperrgebieten zu erklären, damit sich nicht immer mehr Journalisten für ihre Artikel sinnlos in Gefahr brächten.
Kirchners scoop erreichte auch Frankreichs Regierung spätestens am zweiten Weihnachtstag mit voller Wucht. Hatte der Pariser Bienenstock über Weihnachten nur laut gesummt, brach nun, zwischen den Jahren, ein großer nationaler Skandal los.
Innenminister Jean-Luc Durand lehnte jede Verantwortung für die Vorgänge in Chanterelle ab und schob sie stattdessen dem Präfekten des zuständigen Departements zu. Nach dieser Feigheit bat ihn der Präsident öffentlich darum, zur Sache doch bitte kompetent Stellung zu nehmen, weil die Öffentlichkeit angesichts der Prominenz des Vorgangs und angesichts der möglichen Folgen für Frankreichs Ansehen in der Welt ein Recht auf Informationen habe. Die folgende Pressekonferenz Durands wurde allerdings ein Desaster. Der Minister präsentierte sich herablassend und offenkundig schlecht informiert, er sagte, er interessiere sich nicht für die Wehwehchen, die in People-Magazinen abgehandelt werden, und der ganze Auftritt, dazu gedacht, die Wogen zu glätten, führte nur dazu, dass Durands Tage im Amt nun gezählt schienen.
In Lyon tauchte ein altgedienter Pathologe auf, der im Interview mit einem lokalen Fernsehsender sagte, die Chanterelle-Ermittlungen seien von seinen Vorgesetzten immer wieder auf Eis gelegt worden. Die Vorgesetzten wiederum, die das investigative Internetportal Mediapart aufspürte, gaben eidesstattliche Erklärungen darüber ab, dass sie vom Kabinettschef des Innenministers am 7. Dezember – einen Tag nach der Liftfahrt der Leiche – persönlich angewiesen worden seien, keinen Staub aufzuwirbeln.
Daraus strickten Frankreichs Kabarettisten und Radiomoderatoren hinterher viele Witze nach der Art, dass die Pariser Elite noch nicht einmal wisse, dass in den Alpen nicht Staub herumliege wie in ihren Büros, sondern im Winter meistens Schnee.
Die Gebirgsjäger waren vom Mont Bisanne abgerückt und in ihre Hauptkaserne nach Chambéry zurückgekehrt. Sébastien Noirot hatten sie mitgenommen und über Weihnachten bei sich behalten, weshalb er als flüchtig galt. Dann aber kam aus Paris ein Anruf des Verteidigungsministers, und er gab die Anweisung, den Gesuchten nun direkt an die Sonderermittler der Gendarmerie in Chanterelle zu überstellen. Dem Kommandeur der Truppe, Oberstleutnant Pascale Berger, wurde eine Beförderung und eine präsidiale Auszeichnung versprochen.
Als Berger wissen wollte, mit einer gewissen Skepsis in der Stimme, was mit Noirot geschehe, erhielt er zur Antwort, dass auf Kabinettsebene und unter Einbeziehung des Premierministers und mit dem Wissen des Präsidenten beschlossen worden sei, den gesamten Komplex Chanterelle nach rechtsstaatlicher Manier lückenlos aufzuarbeiten.
Zu nationaler Berühmtheit stieg in den Tagen danach Père Doux auf, der weiche Vater aus Chanterelle. Kirchner hatte dessen Bemerkung über den großen Versucher, den Teufel, der die Schwächsten wie die Stärksten in Schande und Sünde verbindet und verstrickt als eine Art Leitmotiv durch seine Reportage gezogen, was sich anbot, wie er fand. Mit dem Olympiasieger Maxime Mortier und dem Kuhhirten Sébastien Noirot sahen sich in Chanterelle tatsächlich der Stärkste und der Schwächste in ein gemeinsames finsteres Schicksal verstrickt. Père Doux ließ sich nun, durch Kirchner und Le Monde einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht, im Fernsehen herumreichen und begeisterte das Publikum mit seinen tiefen Sentenzen und geistlichen Bemerkungen. Allerdings handelte sich der greise Seelsorger der Dorfkirche Nôtre Dame de l’Assomption nur wenig später einen offiziellen Rüffel der vatikanischen Behörden ein, weil er – mutmaßlich arglos – auch in eine Unterhaltungsshow geraten war, bei der rechts und links von ihm barbusige Tänzerinnen des Pariser Crazy Horse platziert worden waren, was der Moderator zur viel belachten Frage an ihn nutzte, ob denn Nacktheit Sünde sei; worauf dem Dorfpriester nichts Schlüssiges eingefallen war.
Solche eher heiteren Momente wurden abgelöst von den erschütternden Auftritten einiger Angehöriger der Mordopfer.
Die Mutter von Hélène Vasseur, deren gewaltsamer Tod am Anfang der Mordserie vor zweiundzwanzig Jahren gestanden hatte, sprach über die Befreiung, die der Le-Monde-Artikel für sie bedeutet habe; sie könne, nach all den Jahren, zum ersten Mal wieder schlafen, sagte sie unter Tränen, ohne von Albträumen geweckt zu werden.
Zwei Schwestern von Jacqueline Fabre erhoben im Fernsehen Anklage gegen das Dorf Chanterelle, das sich seine Kalenderblatt-Fassade um keinen Preis habe kaputtmachen wollen, und sei es um den Preis weiterer Morde. »Jeder in Chanterelle ist schuldig«, sagte die jüngere Schwester Jacqueline Fabres in der Hauptnachrichtensendung von TF1, »jeder muss nun sehen, wie er mit dieser Schuld weiterlebt.« Die beiden Schwestern hielten ein schwarz-gerahmtes Bild ihrer Verstorbenen in die Kamera, das diese im Dirndl vor dem Panorama des Mont Blanc zeigte. »Unsere Schwester«, sagten sie, »müsste noch am Leben sein, aber sie wurde getötet, weil niemand etwas wissen wollte.«
Der Bruder von Julie Clément, dem letzten Opfer vom Nikolaustag, dankte der Presse und allen voran Le Monde, den Fall aufgerollt zu haben. Er richtete scharfe Anklagen gegen den Pariser Politikbetrieb, nannte die zuständigen Minister Nachtwächter und den Präsidenten der Republik einen Scharlatan.
Dieser Auftritt löste in Frankreich eine nationale Debatte darüber aus, ob ein Bürger den Präsidenten derart öffentlich beleidigen dürfe und was von der Würde des höchsten Amtes im Staate eigentlich noch übrig sei. Der große alte Leitartikler Jacques David forderte im Nouvel Observateur sofortige Verhandlungen über eine neue Verfassung, den Abschied von der in Frankreich sogenannten fünften Republik und den Aufbruch in eine demokratischere, bessere sechste.
Eine neue Karriere begann Julien Gaillard, der Lokalreporter des Savoyard libre, der einen Tag nach Sankt Nikolaus den ersten und lange Zeit einzigen Artikel über die Ereignisse verfasst und damit Antoine Kirchner auf die Spur gesetzt hatte. Noch in den Weihnachtstagen wurde er zum Pressesprecher des Regionalkommandos der Gendarmerie bestellt, nachdem er zuvor das vakante Amt des Chefredakteurs des Savoyard libre abgelehnt hatte. Er war immerhin so großzügig, seiner Bekannten Muriel nach der Le-Monde-Veröffentlichung zu gratulieren und seinem Kollegen Antoine Kirchner zuzugestehen, eine prächtige Reportage aus dem Stoff gemacht zu haben.
Auch Henri Pelleton war hier und da im Fernsehen zu sehen und im Radio zu hören. Der Le-Monde-Chef diskutierte den Fall mit Kollegen und Politikern, baute immer wieder Sätze über die Bedeutung der Pressefreiheit ein und sprach ansonsten über die Abgründe des Menschseins, die unsere Begleiter bleiben würden. Er machte, wie stets, gute Figur bei seinen Auftritten.
Und manchmal rief er danach in der Normandie an und fragte seinen grand reporter: »Und? Wie war ich?«
Kirchner antwortete dann jedes Mal: »Wir wären nichts ohne dich, Henri.«
Und bei sich dachte er, um wie viel die Welt doch ärmer wäre ohne Zeitungen, ohne Reportagen, ohne die schöne Jagd nach den wahren Geschichten aus unserer Wirklichkeit.