Das Übel des Lotosgartens
– Liam –
»Kann es sein, dass Ihnen gleich die Augen zufallen?« Mein Patient schiebt mir die Schale mit Tee näher. »Trinken Sie!«
»Streichhölzer zur Hand?« Die würden das Zufallen verhindern.
Mein wievielter Einsatz? Bin mir nicht sicher. Ein Mann starb, als ich seine aufbrechenden Wunden versorgte, eine junge Frau während der Geburt ihres Babys. Der Kindsvater hatte mich zu spät gerufen. Sie hatte bereits aufgegeben. Keine Kraft mehr. Weder zum Pressen noch um am Leben zu bleiben. Ich holte ihr Kind, doch der Vater hielt es wie etwas Schimmliges von sich weg. Was er mit einem Baby ohne Frau sollte?
Ich drohte ihm, ihn fertigzumachen, wenn er dem Kleinen ein Leid antun würde. Er wäre der Vater, er müsste sich kümmern.
Wahrscheinlich bietet er das Kind früher oder später den Rattenfängern an.
Ich hätte es mitnehmen und Maybe in den Arm drücken sollen. Als Chefin der Putzkolonne im Monk hat sie garantiert schon schlimmere Probleme bewältigt.
Das Mädchen mit der Überdosis. Hätte ich beinahe vergessen. Sie lag am Straßenrand und lächelte mich selig an, während ihr Herz aufhörte zu schlagen. Was immer sie genommen hat, es bescherte ihr einen sanften Tod.
Ich bilde mir ein, dass sich seit Sun Haidongs Blockade die Drogenopfer häufen. Eine Flucht vor der Angst. Ein halbes Jahr ist für die Gesichtslosen zu kurz, um den angedrohten Schrecken zu vergessen.
Nur ein paar Tage. Sie forderten zu viele Opfer, aber niemand auf der anderen Seite der Meerenge macht sich die Mühe, sie zu zählen. Ohne Überwachungsdrohnen und Zwangs-Volkszählungen ist das unmöglich. In Kowloon existiert kein einziger Netzhautscanner. Weder die mobile Variante, noch die fest installierte.
Jesus, bin ich dankbar dafür.
Nur nicht in Nächten wie dieser.
Zwischen meinen Fingern steckt plötzlich eine glühende Zigarette. Keinen Schimmer, wie sie dorthin gekommen ist.
»Selbstangebauter Tabak.« Der Mann, der dank mir nur knapp dem Erstickungstod entkommen ist, zündet sich ebenfalls eine an. »Rauchen Sie! Das macht glücklich!« Er saugt ebenso vehement an ihr wie vor fünf Minuten an dem Inhalator mit dem Asthmaspray.
Der Smog in Kowloon setzt immer mehr Menschen zu. Ich bin einer von ihnen, käme jedoch nicht auf die Idee, direkt nach einem Anfall zu rauchen.
»Lassen Sie das sein.« Ich pflücke sie ihm aus der Hand, drücke sie zusammen mit meiner aus. »Das macht es schlimmer, glauben Sie mir.«
Bestürzt sieht er auf die angeschlagene Untertasse, nickt nur aus Höflichkeit.
Wenn ich die Hütte verlasse, wird er wahrscheinlich beide hintereinander aufrauchen. Hoffentlich bin ich bis zu seinem nächsten Anfall weit genug weg, um weder sein Röcheln noch die Hilferufe des Nachbarn zu hören.
Innerlich ohrfeige ich mich für meinen Egoismus. Es hilft nichts. Ich brauche eine Pause. Dringender als alles andere. Vielleicht reicht auch eine Tasse von Kuns herzzertrümmerndem Kaffee.
»Was schulde ich Ihnen?« Er tastet seine Taschen ab.
»Nichts. Ist in Ordnung.« So ärmlich, wie die Hütte ausgestattet ist, fehlt es ihm an allen Ecken und Kanten. »Hier, aber nur im Notfall.« Ich reiche ihm den Sprayer, entfalte meine eingeschlafenen Beine aus dem Schneidersitz. Kaum richte ich mich auf, stoße ich mit dem Kopf an das Wellblechdach.
»Sie sind zu groß für Kowloon.« Er grinst bis zu den dreckigen Ohren. »Aber sehr freundlich, wirklich, sehr, sehr freundlich.«
Dank meiner horrenden Rechnungen, die ich Joseph zumute, kann ich mir diese Freundlichkeit leisten.
Er hasst es, dass ich mich in den Slums herumtreibe. Dummerweise ist dort der Bedarf an medizinischer Betreuung am größten. Vor allem dann, wenn sie umsonst ist.
Vor der Tür wartet die Nacht. Muss mich eine Weile orientieren, bevor ich eine Ahnung habe, in welcher Richtung das Monk liegt. Dieses Labyrinth aus Gassen wäre selbst für einen Pfadfinder eine Herausforderung.
Hoffentlich ist im Klub noch nicht viel los. Ich hätte längst dort sein sollen.
»Sie sind der Doktor?« Eine alte Frau humpelt mir entgegen. »Schnell! Sie müssen helfen!«
Bevor ich dazu komme, ja oder nein zu sagen, packt sie mich am Handgelenk und zieht mich mit sich.
Erstaunlich, ihre Kraft. Ich müsste ihr wehtun, um mich aus ihrem Klammergriff zu befreien.
»Um was geht es und wo passiert es?«
Der Gestank nimmt zu, die Gassen werden enger und dunkler.
»Sham Shui Po«, keucht die Alte, ohne auch nur einen Deut langsamer zu werden. »Schnell! Schnell!«
Sham Shui Po. Ein Slum. Ebenso wie Tai Kok Tsui. Joseph wird alles andere als begeistert sein.
Es wird immer finsterer. Ich erkenne kaum, wo ich die Füße hinsetze. An das Lichtmodul des Kommunikators komme ich nicht ran. Das befindet sich wie mein Handgelenk in den Klauen der Frau.
Die Hütten werden kleiner, die offenen Abwasserkanäle breiter. Daneben kauern Schatten, stoßen Laute aus, die fern jeder menschlichen Sprache sind. Ein fauliger Zitronengeruch steigt von ihnen auf. Ich brauche kein Licht, um zu wissen, dass ihnen Lippen und Finger fehlen und die Haut ihrer Beine in Fetzen hängt.
Das Grauen streift mich beim Vorübereilen.
Sinnlos, stehen zu bleiben. Ihnen ist nicht mehr zu helfen. Citric Smash verschlingt seine Opfer bei lebendigem Leib. Zu billig und einfach in der Herstellung und für jeden zu haben, der sich keinen anderen Seelenfresser leisten kann.
Eine Autobahnbrücke über uns. Aus den Rissen im Beton wachsen meterlange Flechten. Sie wehen im Wind wie Vorhänge. Dazwischen flattern die Reste bunter Bänder. Segenssprüche und Gebete, um die Geister milde zu stimmen oder ihre Gunst zu erlangen.
Ihre Ohren müssen verstopft und ihre Augen blind sein. Wie könnten sie sonst Kowloons Leid mitansehen, ohne zu verzweifeln?
Falsche Einstellung. Es liegt an dieser Nacht. Sie meint es nicht gut mit mir.
Ein Trümmergrundstück. In dessen Mitte ragt der Rest eines Hochhauses empor. Aus den Mauern gellen Schreie, werden erstickt, schwellen von Neuem an. Sie fressen sich in meine Nerven, klingen zu jung, zu verzweifelt.
Neben dem Eingang brennt eine Tonne. Die Flammen enthüllen eine breite Gestalt. Sie tritt uns entgegen, schiebt die Kapuze zurück.
Vor knapp zwanzig Jahren brach in Kowloon eine Lepra-Epidemie aus.
Vor mir steht einer der Überlebenden.
Damals saß ich in meinem Studentenzimmer vor dem Monitor und verfolgte die Auswirkungen dieses mittelalterlichen Schreckens aus sicherer Entfernung. Kowloon war für mich der exotischste Ort, den ich mir vorstellen konnte. Kein Gedanke daran, dass es mich eines Tages hierher verschlagen würde.
Der Anblick des Mannes ist eine Herausforderung. Es liegt nicht an dem, was früher ein Gesicht gewesen war. Es ist sein Blick. Ihm fehlt jegliche Wärme. Selbst Hao Juns Schläger strahlen mehr Mitgefühl aus.
»Zweihundert für eine Stunde.« So, wie er klingt, hat die Krankheit auch seine Stimmbänder befallen. »Fünfhundert für die ganze Nacht.«
Ein No-Name-Bordell. Daher die Schreie. Was soll ich in diesem Höllenloch ausrichten? Die Shivas, die hier arbeiten, haben längst mit ihrem Leben abgeschlossen.
Die Alte redet auf den Türsteher ein, steckt ihm etwas zu.
Er betrachtet es, verzieht den Mund und nickt zur Tür.
Ich will da nicht rein. Alles, aber auch alles in mir sträubt sich dagegen.
Was bin ich für ein erbärmlicher Feigling. Kowloon verlangte mir schon eine Menge ab und ich bin jedes Mal damit zurechtgekommen. Aber wie soll ich es über mich bringen, diese Schreie aus nächster Nähe zu ertragen und nichts dagegen unternehmen zu können?
»Bist du der einzige Security in diesem Laden?« Wenn er nickt, versuche ich mein Glück, schlage ihn hoffentlich nieder und nach ihm jeden Freier, der mir über den Weg läuft.
Und dann? Hier wachsen täglich neue No-Names aus dem Boden.
»Sicherlich nicht.« Er mustert mich von oben bis unten. »Wenn du Ärger machen willst, nur zu. Ist eine gute Nacht zum Sterben.«
»War nur ein Versuch.«
Kaum setze ich den Fuß über die Schwelle, schlägt mir der Geruch von Todesangst entgegen. Eine Mischung aus Blut, Schweiß, Erbrochenem und Fäkalien
Ein dunkler Gang, rechts und links Kammern, nur mit einer nackten Glühlampe beleuchtet.
Ich will nicht hineinsehen. Will nicht wissen, wer warum schreit, wer stöhnt, wer bereits schweigt.
Ich mache es dennoch. Es geht nicht anders.
Ein Knebel zwischen fransig gebissenen Lippen, ein verzerrtes Gesicht, Hände, die gegen Fesseln kämpfen.
Männer in schäbiger Kleidung. Ölflecken, Hafengeruch, dumpfe Gier in den Augen, Zigaretten in heruntergezogenen Mundwinkeln, Glut auf narbiger Haut. Der Gestank verbrannten Fleisches, versengter Haare. Lachen, das zu grausam klingt, um von einem Menschen zu stammen.
Will mir die Ohren zuhalten. Will blind und taub sein.
Vielleicht will ich auch zu einem Mörder werden.
Meine katholisch erzogene Seele zuckt bei diesem Gedanken bloß mit den Schultern. Kowloon hat sie geschafft. Sie, mich und als Nächstes ist mein Herz dran.
Ein Mädchen taumelt an mir vorbei. Ein Mann folgt ihm. Seiner Kleidung nach könnte es auch ein Gast des Monk sein. Der Anzug sitzt akkurat, das Hemd schimmert seidig, die Schuhe glänzen.
Was sucht jemand wie er in einem Drecksloch wie diesem?
Die beiden betreten eine der Nischen, das Mädchen beginnt sich auszuziehen.
Das Licht fällt auf den zu jungen, zu mageren Körper.
Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Einige sind entzündet. Bilde mir den Geruch von Eiter ein. Sind seine Augen deshalb glasig? Oder hat ihm sein Besitzer etwas gegeben, um die Tortur durchzuhalten?
Die Pritsche hinter dem Mädchen ist nass von Blut. Es muss von dem Vorgänger stammen. Dennoch setzt es sich darauf und sieht dem Mann mit teilnahmslosem Blick zu, wie der sich für ein Schmerzinstrument entscheidet.
Sie hängen an Nägeln an der Wand. Sind ebenso dreckig wie der Rest in dem Verschlag.
Das Mädchen scheint die Schreie der anderen nicht wahrzunehmen. Es wartet einfach darauf, bis es an der Reihe ist.
Meine Augen beginnen zu brennen, mein Herz klopft so hart, dass ich kaum atmen kann.
Die Hand aus dem Griff der Alten winden. Dieses Dreckschwein von Freier niederschlagen. Danach den Inhaber.
Das einzig Richtige.
»Es ist mein Enkel«, ruft mir die Frau durch das Inferno zu. »Er stirbt.«
So wie es um mich herum klingt, ist er heute Nacht nicht allein damit.
Sie zerrt mich weiter, an peitschenden Männern und wimmernden Shivas vorbei. An Nadeln in zu jungem Fleisch, an zuckenden Leibern in Ketten. Links von mir rasselt ein Schmerzstimulator. Nur ein Sekundenbruchteil später folgt ein gellender Schrei.
Im Begging Monk sind elektronische Folterwerkzeuge verboten. Sie richten zu viel Schaden in Hirn und Nerven an, lassen das Leid der Shivas unkontrolliert in die Höhe schnellen.
An einem Ort wie diesem achtet niemand darauf, wer die Verschläge lebend verlässt und wer nicht.
Mir wird schlecht.
Die letzte Maueröffnung, bevor der Gang endet. Die Alte zieht mich hinein, eilt zu einer Pritsche.
Ein Junge. Ich gebe ihm keine vierzehn Jahre.
Juen ist zwanzig, auch wenn er wie sechzehn aussieht. Joseph würde nie dulden, dass Kinder bei ihm arbeiten.
Der saure Geruch von Erbrochenem erfüllt die Luft.
»Er stirbt!« Die Alte schlägt die Hände vors Gesicht.
Ob sie hinsieht oder nicht, macht es für ihren Enkel nicht besser. Sein Körper ist ein einziger Krampf.
Beuge mich über ihn, stemme ihm die Kiefer auseinander und zwänge ein Verbandspäckchen zwischen die Zähne. Er beißt sie sich sonst kurz und klein.
»Halten Sie ihn fest!«
»Es tut mir leid, dass Sie ihn so sehen müssen.« Sie packt ihn mit derselben eisernen Kraft, mit der sie mich hierhergezogen hat. »Ich habe es weggewischt, doch er hat sich erneut erbrochen.«
»Kein Problem.« Ich bin Arzt. Kotze schockiert mich nicht. Auch nicht der Geruch nach Exkrementen, der von dem Jungen aufsteigt.
Es wird an den Krämpfen liegen, oder an der unsäglichen Angst. Sie springt mich aus den aufgerissenen Augen an. Dabei sind die Pupillen riesig. Der Puls rast mit viel zu viel Kraft. Wie eine Dampflok, die jeden Moment entgleisen wird. Das macht das Herz nicht lange mit, egal wie jung er noch ist.
Morphin. Mein Standard bei wundgespielten Shivas und das einzige Schmerzmittel, über das ich dank Han verfüge.
Alles andere würde in Kowloon ohnehin keinen Sinn ergeben.
Spritze es ihm in den Oberschenkel.
Was gäbe ich für einen simplen Blutdrucksenker!
Bete, dass die Wirkung des Morphins ausreicht.
Richte ihn auf und lehne ihn halbsitzend gegen die Wand. Das wird den rasenden Puls ein wenig beruhigen.
»Gleich geht es dir besser.« Hoffentlich versteht er mich in seinem Zustand.
Der fiebrige Glanz in den Augen, die glühenden Wangen, der Puls, der nach wie vor durch das Wellblechdach der Hütte schießt.
Ihn k. o. schlagen. Es würde helfen. Ihn aus diesem Albtraum schleudern.
Gott, auf was für Ideen komme ich?
»Er dürfte nicht hier sein«, jammert die Alte. »Ich habe ihm gesagt, er soll für Mr. Lin arbeiten.«
Der Geschäftsführer des Lotosgartens. Einer der wenigen ernst zu nehmenden Konkurrenten von Joseph.
»Ich arbeite hier in der Küche.«
Was für ein Job, für potenzielle Leichen zu kochen und zu wissen, dass der eigene Enkel eine von ihnen ist.
»Ich hörte ihn schreien. Wie so oft. Aber dieses Mal ließ es nicht nach. Also bin ich zu ihm und sah, wie ein Mann aus der Kammer eilte. Mein Enkel schrie immer weiter, konnte nicht reden.«
Ich checke in durch, finde bis auf einige frische Wunden nichts Ungewöhnliches für einen Shiva.
Angetrocknete Schlieren auf seinem Bauch. Sperma? So wie er leidet, kann er seinen letzten Job unmöglich genossen haben. Sie müssen von seinem Freier stammen.
Schlage einen zerfransten Lumpen zurück, der weit davon entfernt ist, Decke genannt zu werden.
Das Glied des Jungen ist wund und geschwollen, was auch an den kaum verheilten Schnitten liegen kann. Es sei denn, sein Freier hätte ihm vehement und grob einen runtergeholt.
Der Junge keucht, krümmt sich erneut.
Warum schlägt dieses scheiß Morphin nicht an?
Meine Hände zittern. Kann das Leid um mich nicht ausblenden. Die Schreie hallen in meinem Kopf. Noch ein bisschen und sie ätzen mir das Hirn weg.
»Gleich wird es besser.« Es darf keine Lüge sein!
Seine Finger krampfen sich um meine Hand, pressen sie auf seine Brust. Was da drin trommelt, steht kurz vor der Explosion.
»Versuch dich zu entspannen.«
Diese riesigen Pupillen, dieses Glühen. Er muss etwas genommen haben. Wäre es Glowing Eyes, würde ihm der Schwanz tropfen, doch er hängt schlaff zwischen den Beinen. Der künstliche Zitronengeruch von Citric Smash fehlt ebenfalls. Außerdem ist er bis auf die Narben gepflegt, keine Ekzeme, keine tote Haut.
Er würgt einen Laut hervor, der mir die Haare aufstellt, zittert am ganzen Körper.
Was er durchmacht, habe ich selbst bei Juen noch nie erlebt und den musste ich häufiger von den Nachwirkungen seines Jobs retten.
Gebe ihm noch drei Sekunden, dann befördere ich ihn per klassischem Knockout in eine Ohnmacht.
Eins, zwei …
Der Puls wird langsamer, flacher.
Gott sei dank.
Wische mir den Schweiß von der Stirn, nicke der Alten zu.
»Gut gemacht.« Ich meine ihn, mich vielleicht auch. »Du hast so viel durchgehalten. Du schaffst auch diese Nacht.« Ziehe ihm das Verbandspäckchen aus dem Mund.
Er seufzt, lächelt.
Traue meinen Augen nicht.
Seine Lider sinken, sein Körper entspannt sich. Er atmet so ruhig, als wäre nichts gewesen. Das eben noch verzerrte Gesicht verklärt sich. Wieder ein Lächeln. So glücklich und verträumt, als würde er wundervolle Dinge erleben.
Kommt mir erschreckend bekannt vor.
Das Mädchen am Straßenrand. Es hat genau so ausgesehen. Wenige Augenblicke später blieb sein Herz stehen.
Das des Jungen schlägt ruhiger, langsamer, noch langsamer.
Zu langsam.
Ein Schlag.
Stille.
Das darf doch nicht wahr sein!
Zwinge sein Herz, weiter zu pumpen.
Unter meinen Händen knacken die Rippen.
Weiter. Mitzählen. Im Takt bleiben. Das Schluchzen der Alten ignorieren, den Schweiß, der mir in die Augen läuft.
»Hören Sie auf!« Jemand nimmt mich an den Schultern. »Stören Sie nicht seinen Tod.«
Dieses friedliche Gesicht. Wie lange starre ich darauf? Wie lange versuche ich, dieses sture Herz aufzuwecken?
Zulange.
Die verfluchte Nacht rutscht mir weg. Das ist nicht gut.
»Es tut mir leid.« Die Worte sind so dick, verstopfen mir die Kehle.
Fühle mich hilflos wie ein Erstsemester.
»Ich hole meinen Neffen.« Sie zieht die Nase hoch, tätschelt die Wange des Jungen. »Der bringt ihn hier raus.«
Der Satz tröstet auf eine kranke Weise. Hier raus. Ihn und jeden anderen, dessen Stöhnen und Schreien ich plötzlich wieder höre.
Will alles kurz und kleinschlagen. Die Shivas aus ihren Verschlägen scheuchen, ihre beschissenen Freier niederschmettern.
Ich würde es nicht überleben. Morgen früh läge ich tot in irgendeiner Gasse und könnte niemandem mehr helfen.
Die Option bleibt dennoch bestehen. Für einen erschreckend langen Moment.
Lasse die Frau am Totenbett zurück, taumele durch den Gang nach draußen. Der Türsteher lehnt an der Mauer, raucht mit einem anderen eine Zigarette und redet über Rattenkampfwetten.
Balle die Faust, gehe auf ihn los.
Sein Kumpel stößt ihn an, nickt zu mir.
»Du bist der Doc aus dem Monk.« Gelassen zielt er mit einer Schallwaffe auf mich. »Wenn du das bleiben willst, verschwinde hier.«
Aus der knappen Distanz würde mir das Ding sämtliche Rippen brechen, das ein oder andere Organ zerfetzen und wahrscheinlich das Rückgrat gleich mit.
Danach werden die Shivas immer noch ihren Schmerz in die Nacht schreien. Läden wie dieser werden weiterexistieren. Egal, ob ich lebe oder sterbe oder sonst etwas passiert.
Kämpfe mit dem Zwang, mich trotzdem auf den Kerl zu stürzen und ihm sein leprazerfressenes Gesicht zu Brei zu schlagen.
Als ob ich dazu noch Kraft besäße.
Schleppe mich wie ein alter Mann durch das schäbige Flackerlicht. Es zeigt mir Monster statt Menschen, Fratzen statt Gesichtern.
Mir rinnt es aus den Augen. Bin zu fertig, um es wegzuwischen.
Ich kann nicht mehr. Der Gedanke überfällt mich seit längerem und er macht mir langsam Angst. Vor allem in Situationen wie dieser.
Was ist das für eine Welt, in der Schmerztourismus in Sperrbezirken boomt und sich Leute in Anzug und Seidenhemden für Geld an Teenagern austoben?
Dieselbe, in der ich arbeite. Dieselbe, in der ich ein Vermögen verdiene. Dieselbe, in der der Mann lebt, dem ich mein Herz vor die Füße werfe und der in regelmäßigen Abständen darauf herumstrampelt.
Joseph verkauft die Schmerzbereitschaft seiner Shivas ebenso wie jeder andere Bordellbesitzer. Etwa die Hälfte seiner Leute arbeitet in der Oase und lässt sich gegen New Hongkongdollar quälen und demütigen. Oft bis aufs Blut, hin und wieder bis auf die Knochen.
Von Kowloon stammen die wenigsten Gäste. Die meisten kommen an den Wochenenden von Hongkong Island und Lantau. Die Schnellfähren spucken sie aus, um sie achtundvierzig Stunden später wieder zu schlucken. Mit seligem Blick und leergefickten Eiern kehren sie in ihre klimatisierten Appartements zurück. Zu Frau und Kind und erstklassigen Sicherheits- und Hygienestandards.
Ich stamme aus dieser Hochglanzwelt. Fast hätte sie mich meine Seele gekostet. Ich will nie wieder dorthin, auch wenn mich Kowloon im Moment fertigmacht.
Taumele zwischen Müll und zusammengerollten Körpern durch Sham Shui Po und Tai Kok Tsui, versuche vergeblich, das erstickende Gefühl in mir zu ignorieren.
Was für eine beschissene Nacht.
Ich bin nach Kowloon gekommen, um das Leben zu finden. Inmitten von Chaos und menschlichen Tragödien.
Ich fand es. Zu viel davon. Gerade verschlingt es mich.
Stopp. Nicht resignieren. Alles, aber nicht das.
Denken. Nach Lösungen suchen, nach Erklärungen.
Höre mir beim Lachen zu.
Gott, klingt es krank.
Egal. Weiter. Wenn es mir nicht gelingt, schlage ich meinen Kopf so lange an eine der schimmligen Mauern um mich herum, bis ich nie wieder denken muss.
Das wäre feige. Ich bin nicht feige. Ich bin Arzt. Ich bin verpflichtet, Menschen zu helfen, und wenn ich es nicht kann, nach Lösungen zu suchen, um es beim nächsten Mal besser zu machen.
Also los.
Der Junge war mein Patient, wenn auch nur für kurze Zeit. Er starb mir unter den Händen weg.
Warum? Drogen. Irgendetwas Neues wahrscheinlich. Vielleicht dasselbe wie bei dem Mädchen.
Mir wird schwindelig, bin ausgebrannt bis ins Mark.
Maybe wischt mit ihrem siffigen Mopp das Blut von der Pritsche. Sie zuckt die Schultern, sagt: So ist das Leben, Doc. Jeden Tag ein bisschen mehr Tod.
Es ist das Leid, das mich fertigmacht. Nicht der Tod.
Kun wischt Bierglaskringel vom Tresen. Sein Knie wird nicht besser, der Schmerz darin ebenfalls nicht.
Morphin?
Er schüttelt den Kopf, hat Angst, abhängig zu werden. Würde auch passieren, früher oder später. Wäre in seinem Fall ein geringer Preis.
Er will ihn dennoch nicht zahlen.
Ein Rausch. Das wär’s. Nur kurz vergessen, dass es Menschen gibt, denen einer abgeht, wenn sie andere in den Tod quälen.
Nur ein bisschen …
Ein Stoß an meiner Schulter. Was macht die Hausecke neben mir?
Ein Sekundenschlaf. Hoffentlich bin ich in die richtige Richtung gelaufen.
Bin ich.
Durchhalten. Ist nicht mehr lange bis nach Hause.
Oder auch nicht.
Nackte Beine ragen hinter einer eingestürzten Mauer hervor.
Wunden an den Unterschenkeln. Rattenfraß?
Eine Leiche, wobei Rattenbisse nichts bedeuten. Die Viecher knabbern auch an Lebendigem herum.
Weitergehen und akzeptieren, dass tot ist, was tot ist.
Geht nicht.
Verdammte Scheiße! Was ist bloß los mit dieser Nacht?
Also gut, nur einen Blick. Ich bin ein Profi. Ich erwarte korrektes Verhalten von mir.
Beuge mich über den Körper, schalte das Lichtmodul des Kommunikators an.
Zur Hälfte abrasierte Haare. Ein Mafia-Schläger. Ob er zu Hao Juns Leuten gehört?
Die rechte Hand fehlt.
Ich überwinde den Anflug von Skrupel und werfe einen Blick in die Mundhöhle.
Die Zunge ist da. Also ein Dieb, aber kein Verräter.
Aus dem Stumpf wimmeln Maden. Muss auch noch nichts heißen. So was geht schnell in diesem Klima. Allerdings spricht der süßlich-faulige Geruch für sich. Stellt sich die Frage, woran der Mann gestorben ist. Auf den ersten Blick finde ich keine äußere Verletzung, die als Ursache auf den Tod hindeutet. Auf den zweiten schon. Eine blaue Stelle lugt aus dem Hemdausschnitt.
Ich reiße es auf.
Der Brustkorb ist eingedrückt, als hätte sich ein Elefant daraufgestellt.
Eine Schallwaffe aus nächster Umgebung? Warum lässt ein trainierter Kämpfer seinen Angreifer so dicht rankommen? Ob zwangsamputiert oder nicht, so weit ich weiß, sind die Typen verdammt gut ausgebildet.
Wurde ihm zuerst die Hand abgehackt und er dann getötet?
Das ergibt keinen Sinn, auch nicht als Strafmaßnahme. Entweder der Denkzettel oder der Tod. Aber beides? Es sei denn, es handelt sich um zwei Täter, die ihm kurz hintereinander zusetzten.
Arme Sau.
Muss Joseph Bescheid geben. Er hat einen Draht zu Hao Jun.
Leichen sind schlecht für die Moral und die nicht existierende Hygiene. Ich habe genug zu tun, verdammt!
Ein Foto mit dem Multi-Kom, eine Bitte an Joseph, seine Kontakte spielen zu lassen. Vielleicht ist Hao Jun dankbar für den Hinweis. Der Triadenfürst ist eiskalt und abgebrüht, aber kein Mann, der seinen Müll in der Gegend herumliegen lässt.
Die Antwort kommt prompt.
Nur ein Tipp mit der Fingerspitze und Josephs Gesicht schwebt vor mir in der Nacht.
»Du bist in Tai Kok Tsui?« Der grimmige Ausdruck macht seinem Samuraitattoo Konkurrenz. »Ich zahle dir kein Spitzengehalt, damit du dein Leben für die Cagepeople aufs Spiel setzt.«
»Solltest du aber.« Verdammt, hat er die Gegend am Rinnstein erkannt? »Immerhin ist das hier deine Kinderstube. Wo bleibt dein Mitgefühl?«
Seine Miene friert ein.
Scheiße! Das hätte mir nicht rausrutschen dürfen. Damals im Sentô war er betrunken gewesen, sonst hätte er es mir niemals anvertraut.
Schlage mir vor die Stirn, obwohl mir klar ist, dass er es sieht.
»Mein Mitgefühl ist nicht Gegenstand unserer Abmachung, sondern nur mein Geld im Tausch gegen deine Zeit und Arbeitsleistung.«
Die Kälte in seiner Stimme setzt mir zu. In einer Nacht wie dieser noch mehr als sonst.
»Ich bin es leid, dass du beides verschwendest.«
Starre ein Loch in die Luft. Joseph hat die Verbindung beendet.
Vermisse sein wunderschönes Gesicht.
»Es tut mir leid«, teile ich einem Gerät mit, das vor Altersschwäche bald den Geist aufgeben wird. »Du hast dich mir in einem schwachen Moment anvertraut und ich trete dich wegen einer angepissten Laune in den Arsch.« Er ist die reinste Verführung und ich will eine Menge mit ihm machen, nur nicht das.
»Danke, dass Sie versuchten, Tien zu retten.«
Jesus! Heute ist die richtige Nacht für einen Herzinfarkt.
»Seine Großmutter hat es mir gesagt.« Ein Junge kommt zögernd näher. »Ich bin Ihnen nachgelaufen.«
»Um mich zu Tode zu erschrecken?« Mein Herz pocht mir in den Ohren. »Ich knie in einer beschissenen Gegend über einer Leiche und du schleichst dich von hinten an?« Der Junge gehört verdroschen.
»Bitte verzeihen Sie, Mr. O’Farrell.«
Das neonfarbene Top, die zu knapp sitzende Shorts, das hübsche Gesicht und ein mit Narben übersäter Körper.
Ein Shiva, aber offensichtlich um Klassen bessergestellt als die armen Schweine in dem No-Name-Bordell. Sein Blick ist klar, seine Bewegungen sind anmutig und selbstbewusst wie die der Shivas im Monk.
»Zu welchem Klub gehörst du?«
»Zum Lotosgarten.« Erstaunlich gelassen mustert er die Leiche. »Tien war ein Freund. Ich wollte, dass er sich bei Mr. Lin bewirbt, aber als er es endlich tat, lehnte ihn mein Boss ab.«
Ich kann es ihm nicht verübeln. Joseph würde niemals Shivas aus solch verkommenen Bordellen nehmen. Das Risiko, dass sie irgendetwas einschleppen, ist zu hoch.
»Es tut mir leid um Tien.« Schlucke gegen den eben erlebten Schrecken an. »Ich wollte ihm helfen, aber …«
»Es ist nicht Ihre Schuld. Sein Boss stopft die Shivas mit Drogen voll. Ich flehte Tien an, keine zu nehmen, aber ohne sie hielt er es nicht aus.«
»Welche?«
»Glowing Eyes.« Er zuckt die Schultern. »In den No-Names nehmen das alle Shivas.«
»Nein. Die Symptome passen nicht.« Ich schildere ihm so schonend wie möglich Tiens Tod.
Er wird trotzdem blass, schüttelt den Kopf. »Das darf nicht sein.«
»Was darf nicht sein?«
Er fährt sich nervös durch die Haare, wendet sich einen Moment ab.
Er weiß etwas und überlegt, ob er es mir anvertrauen soll. Ich hoffe, er ringt sich dazu durch.
»Ich bin Kitao.« Tapfer blinzelt er ein paar Tränen weg. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.«
Und ob ich das habe. Vor mir steht Juens einzige Konkurrenz in ganz Kowloon.
»Ich muss mit Ihnen reden, aber es darf niemand erfahren. Nur Sie und Mr. Wakane.«
»Weiß dein Boss hiervon?«
Kitao schüttelt den Kopf.
Dachte ich mir.
– Joseph –
»Was ist mit dir los?« Steve stellt mir einen Kaffeebecher auf den Schreibtisch. »Du siehst aus, als wolltest du jemanden ermorden.«
»Kommt hin.« Und zwar Liam, wenn mir nicht ein durchgeknallter Bastard zuvorkommt. Er hat sich nicht in Tai Kok Tsui herumzutreiben. Nicht allein. Das nächste Mal wird er Viktor mitnehmen. Ohne Security ist es für einen Europäer wie ihn zu gefährlich.
Ich wünschte, ich könnte ihm wie jedem anderen meiner Leute Befehle erteilen.
Er würde sie schulterzuckend anhören und dennoch seine Zeit und Energie für die Gesichtslosen opfern. Auch wenn sie einen Tag später mit aufgeschlitzter Kehle in einer stinkenden Ecke liegen.
Als gäbe es für ihn eine Schuld zu begleichen.
Die Schuld trägt einen Namen. Dean.
Liam vergisst, dass es unter meinem Dach und damit unter meiner Verantwortung geschah.
»Rede darüber.« Steve schleudert seinen schmutziggrauen Zopf nach hinten. »Ich bin deine rechte Hand. Ich will wissen, warum dein Innenleben schief hängt. Könnte ja sein, es wirkt sich auf deinen Job aus.«
»Mein Innenleben hat dir gleichgültig zu sein.« Es ähnelt dem Chaos außerhalb. Mir ist unerträglich, mitanzusehen, wie sich Liam zu Tode arbeitet. Dennoch will meine Faust in sein Gesicht. Wie konnte er es wagen, mir meine Kindheit vorzuhalten? Ich hätte mich ihm niemals anvertrauen dürfen.
Er weiß zu viel von mir.
»Geht’s um den Jungen?«, bohrt Steve in meiner zweiten, ständig aufbrechenden Wunde. »Wie lief’s bei Hiato?«
»Frag Dean.« Die Enttäuschung über Hiatos Entscheidung stand ihm im Gesicht. Er ist sicher, es allein nicht zu schaffen.
Als würde ihn ein Bild retten. Ich trage meines schon lange, dennoch vergesse ich keine Sekunde, was ich früher gewesen bin. Es dient lediglich dazu, die Narben zu verdecken, die dem Laser standhielten.
Dean ist gezeichnet worden. Von mir, von den Rattenfängern, von Mongkok, das in seinem Vergnügungsrausch Unschuld verschlingt und etwas Zerbrochenes zurücklässt.
In seinem Blick spiegelt sich die Sehnsucht, Frieden zu finden.
Ich kann ihn dorthin führen und er weiß es. Macht es ihm deshalb Angst, mit mir allein zu sein? Statt sich mir anzuvertrauen, flüchtet er sich in Liams Fürsorge. Doch Liam wird seine Bedürfnisse nicht stillen. Seine Gefühle ihm gegenüber sind zu väterlich.
Ich kann ihm geben, was er braucht.
Mir genügte ein Blick, um seine Bestimmung zu erkennen. Damals, in der Auktionshalle. Ich wusste, Dean würde einen hervorragenden Shiva abgeben. Keiner, der an einem Ort wie der Oase überleben könnte, doch hinter den violett gestrichenen Türen des Hauptgebäudes wäre er genau das, was ein Shiva sein sollte; ein Glückverheißender für jeden, der ihn bespielt.
In Charleston oder auf Hongkong-Island hätte er davonlaufen und sich verleugnen können.
Kowloon lässt keine Flucht zu. Weder vor sich selbst, noch vor der Situation.
»Hey, ich rede mit dir.« Steve tritt gegen das Tischbein. »Tu nicht so, als müsste mir egal sein, was unter diesem Dach geschieht. Das hier war mein Laden, bevor du ihn mir unter dem Arsch weggezogen hast.«
»Du fährst gut damit.« Unter seiner Regie war das Monk ein verkommener Puff gewesen. Jetzt kennt jeder seinen Namen. Vor allem auf der anderen Seite der Meerenge.
»Sagst du.«
Es ist die Wahrheit.
»Ehe ich es vergesse: Es grassieren seltsame Gerüchte in Mongkok. Sie betreffen die Konkurrenz. Interesse?« Er hebt die Augenbrauen, wartet auf mein Nicken.
Er bekommt es.
Manchmal sind Gerüchte nur Gerüchte. Manchmal auch Vorboten bedeutender Ereignisse.
»Irgendetwas geht im Fleur du Mal um. Dem Dämonenweib sind in kurzer Zeit jede Menge Shivas krepiert.«
»Totgespielt?« Das kann nicht sein. Das Fleur ist ein ordentlicher Laden. Madame Nikobe achtet auf ihre Leute.
»Was ich hörte, klingt eher nach einer Art Krankheit. Mit Krämpfen und Scheißen und Kotzen und Sterben.«
Die Lässigkeit seines Schulterzuckens nehme ich ihm nicht ab. Er hat erlebt, was die Shanghai-Grippe in Kowloon anrichtete.
Ebenso wie ich.
»Ist bloß ein Gerücht.« Fahrig streicht er sich die Haare zurück. »Scheiße Mann, die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist.«
»Nur das Fleur?«
»Ein paar No-Name-Läden in den Slums scheinen ebenfalls betroffen zu sein, und im Lotosgarten …«
»Sir?« Viktor platzt ins Büro. »Lin steht draußen. Er will mit Ihnen reden.«
Fast hätte ich mich am Kaffee verschluckt.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelt Steve und schlürft den letzten Schluck aus seiner Tasse.
»Sagte er, um was es geht?« Sollte er mir Juen abwerben wollen, hätte er sich den Weg sparen können. Der Shiva steht unter Vertrag.
»Er will nur mit Ihnen darüber reden, Sir.«
»Kann er vergessen.« Mit dem überlangen Nagel seines kleinen Fingers pult sich Steve etwas aus den Zähnen. »Ich will bei dem Gespräch dabei sein.«
»Das willst du nicht.« Lin ist seit Jahren mein härtester Konkurrent. Freiwillig würde er niemals feindlichen Boden betreten. Was immer ihn dazu getrieben hat, er wird es vor Steve nicht preisgeben.
»Ihr Schlitzaugen seid doch alle gleich.« Er hievt sich aus dem Stuhl, begegnet gelassen meinem Blick. »Was ist? Erwartest du eine Fünfundvierzig-Grad-Verbeugung von mir?«
»Nein. Aber deine Loyalität.« Die Verbeugung würde er mir selbst dann verweigern, wenn ich ihm ein Messer an die schrumpeligen Eier hielte.
Aus seinen Augen weicht jeglicher Spott. »Die hast du.«
Eine Weile sehen wir einander an, bis er auf mein Nicken hin den Raum verlässt.
Ich gebe Viktor ein Zeichen, dass er Lin hereinbitten soll.
»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt.« Lin stolziert an dem Security vorbei, betritt mein Büro, als wäre es seines. Dennoch dreht er sich langsam mit halb erhobenen Armen einmal um sich selbst.
»Denkst du, ich hätte dich zu ihm gelassen, wenn du eine Waffe dabeigehabt hättest?« Viktor lehnt sich an den Türrahmen, mustert den tätowierten Kraken, der sich um Lins Oberkörper windet. »Was soll der Tanz?«
Mir zwei Dinge zeigen: Dass Lins Absichten friedlich sind und dass er ebenso wie ich ein Shiva war. Das beeindruckende Tattoo dient wie mein Samurai dazu, alte Narben zu verdecken. Damit befinden wir uns auf demselben Niveau und das Gespräch wird auf Augenhöhe stattfinden.
»Schließ die Tür hinter dir«, weise ich Viktor an.
»Sicher, Boss?«
Ich spare mir die Antwort.
Viktor gehorcht schulterzuckend.
»Ist schwer, gutes Personal zu finden.« Lin tritt den Stuhl, auf dem eben noch Steve gesessen hat, ein Stück zur Seite, bevor er Platz nimmt. »Biete mir etwas zu trinken an.« Das überhebliche Grinsen ist verkrampft und ebenso gelogen wie die arrogante Lässigkeit seiner Haltung.
Er ist in schlechter Verfassung. Seine Wangen sind eingefallen, seine Augen rot geädert und ihn umhüllt ein strenger Geruch. Alkohol ist eine Quelle, Stressschweiß eine andere.
»Weshalb bist du hier?« Ich schenke uns beiden einen Whiskey ein, halte sein Glas jedoch fest, während er danach greift. »Was auch aus deinem Mund kommt, lass es die Wahrheit sein, oder du findest dich mit ausgerenkten Schultern vor meiner Tür wieder.«
»Denkst du, das ist ein Höflichkeitsbesuch?«
Die Maskerade fällt zuerst von seinen Augen. Sie zeigen mir den Schrecken, den sie gesehen haben und wegen dem er vor mir sitzt. Er muss gewaltig sein, wenn er damit nicht allein zurechtkommt und sich ausgerechnet an mich wendet.
Ich lasse das Glas los.
Seine Hand zittert, während er es zum Mund führt und mit einem Schluck leert.
Ich schenke ihm nach. Er kann es gebrauchen.
»Danke«, murmelt er und leert es erneut. »Ich hasse mich dafür, vor dir als Bittsteller zu erscheinen, aber ich brauche Hilfe und von allen Übeln in Kowloon bist du das geringste für mich.«
Dieses Mal glaube ich ihm das Grinsen.
Es währt keine Sekunde.
»Meine Shivas sterben. Einer nach dem anderen.«
»Und du weißt nicht warum.«
»Wäre ich sonst hier?«
»Wohl kaum.«
»Kennst du die Gerüchte?«
»Steve sprach von einer Krankheit.« Für einen Augenblick schnürt mir die Angst das Herz ab.
»Nein.« Er hebt die Hand, als würde die Geste diese Option fernhalten. »Es ist nicht so wie damals.«
Keine Panik in den Straßen. Kein Gestank nach Benzin und verkohltem Fleisch. Keine Menschen, die in Käfigen sterben und ihre Kinder zurücklassen.
»Es betrifft ausschließlich die Shivas und von denen nur diejenigen, deren Metier der Schmerz ist. Eine Krankheit ist nicht wählerisch. Sie nimmt, was sie bekommt.« Er lässt die Hand sinken, betrachtet das Zittern seiner Finger. »Ich bin nicht nervös, noch fürchte ich mich vor dir oder dieser Situation.« Langsam ballt er sie zu einer Faust. »Ich habe bloß lange nicht mehr geschlafen.«
»Hätte ich an deiner Stelle auch nicht.« Seine Existenz steht auf dem Spiel. »Warum bist du hier?«
»Sie schrien sich den Verstand aus dem Kopf.« Er sieht mich an, zuckt hilflos die Schultern. »Dabei hielten sich die Gäste an die Regeln. Bei den Letzten war ich Zeuge. Alles verlief normal und plötzlich …« Er schließt die Augen, schluckt. »Ich konnte machen, was ich wollte, es hörte nicht auf. Wenn sie wenigstens ohnmächtig geworden wären, doch es dauerte manchmal Stunden, bis sie endlich das Bewusstsein verloren.«
Ich gieße ihm einen weiteren Whiskey ein.
»Zwei schlug ich nieder. Einfach, damit sie aufhörten.« Er trinkt einen großen Schluck. »Sie starben. Wie die anderen.« Für einen Augenblick scheint es, als wollte er das Glas an die Wand werfen. »Die Shivas kamen zu mir, weil sie mir vertrauten. Weil sie wussten, dass sie im Lotosgarten sicher sind. Und jetzt greift dieser Fluch um sich und zerstört sie, mich, den Klub und meinen guten Namen.«
»Ich glaube nicht an Flüche.« Aber an alle anderen Todesarten, die Kowloon bereithält. »Drogen?«
Lin mustert mich kalt.
»Vergiss die Frage.« Ich hätte sie mir sparen können. Er würde den Ruf des Lotosgartens nicht wegen so etwas riskieren. »Wie viele sind es bisher?«
»Vierzehn.« Er stellt das Glas auf den Tisch, wischt sich den Mund. »Noch ein paar Nächte, und ich kann den Laden dichtmachen. Du kennst die Preise für erstklassige Shivas. Davon abgesehen sind die meisten von ihnen vertraglich gebunden.«
Auf die Schnelle wird er bis auf Containerware nichts finden, doch die hält die Gäste fern, die Qualität gewohnt und bereit sind, diese auch zu bezahlen. »Wenn du an Juen denkst …«
»Ich bin nicht hier, um dir jemanden abzukaufen, sondern um dir meine Shivas anzubieten.«
Ich muss mich verhört haben.
»Ein Amerikaner kontaktierte mich. Er bot mir einen fairen Preis für den Klub.« Er zieht Schleim in den Mund, spitzt die Lippen.
»Rotz auf meinen Boden und du kannst deinem Kiefer beim Brechen zuhören.«
Lin zuckt die Brauen, schluckt runter.
Kluge Entscheidung.
»Dieser Dreckskerl wusste von meinen Schwierigkeiten«, fährt er unbeirrt fort. »Er will jeden einzelnen meiner Shivas kaufen.«
»Was weißt du über ihn?« Wenn er in dieses Metier einsteigen will, muss er sich damit auskennen, was bedeutet, er ist in Kowloon kein unbeschriebenes Blatt. Auf den ersten Blick fällt mir niemand ein, der dreist genug wäre, Lin dieses unverschämte Angebot zu unterbreiten oder dumm genug, mit mir in direkte Konkurrenz zu treten. Langfristig müsste er Lins hohen Standard halten oder verbessern, was eine Kosten- und Vertrauensfrage ist. Spitzenshivas kennen ihren Wert und suchen sich ihre Besitzer sorgfältig aus.
»Nicht so viel wie du.«
Sein Blick aus den Augenwinkeln gefällt mir nicht.
»Es ist Nimrod Gage. Dein ehemaliger Boss.«
Schmecke Galle.
»Schon gut. Du bist nicht der Einzige von uns mit diesem Karrierestart.« Er weist auf seine linke Gesichtshälfte, über die sich der tätowierte Arm des Kraken zieht. Die Spitze wölbt sich über der Braue, der Rest bedeckt Wange und Schläfe. »Ich fing in einem Laden an, da würden heute nur noch die Smash-Junkies einen fauligen Fuß reinsetzen. Die Verlustrate entsprach in etwa der der Neuzugänge.«
»Du hast es überlebt.« Dafür gebührt ihm mein Respekt.
»Der Kerl sperrte uns ein. Freiwillig wäre keiner bei ihm geblieben. Aber der Türsteher war seine Schwachstelle. Zu dumm, um sich den Sicherheitscode der Schließanlagen zu merken. Er trug ihn auf einem Zettel mit sich herum. Alles, was ich tun musste, war ihn zu erstechen und zu fliehen.« Er sieht einer Motte dabei zu, wie sie immer wieder gegen die Glühlampe fliegt. »Mit einem abgebrochenen Löffel. Der absolute Klassiker.«
»Das ist der Grund, weshalb ich in gutes Personal investiere.« Um Abrahams Intelligenz ist es zwar ebenfalls schlecht bestellt, aber das gleichen seine Loyalität und sein gutmütiger Charakter aus. Ganz zu schweigen von seiner bedrohlichen Erscheinung. Sie hält den Dreck vom Monk fern.
»Wir kämpften stets mit harten Bandagen gegeneinander.« Seine Geste weist zwischen uns beiden hin und her. »Doch es verlief fair und ich will, dass es so bleibt.«
»Wird es.« Ich fülle die Gläser erneut. Dieses Mal benötige ich den Drink.
Nim hat seine Drohung wahr werden lassen. Wie kann er es wagen, mich in Mongkok herauszufordern? Er ist aus Kowloon geflohen. Damals, kurz vor der ersten Blockade. Ohne ein Wort der Warnung hat er sich aus dem Staub gemacht.
»Gage ist ein Bastard«, bringt es Lin auf den Punkt. »Jeder kennt ihn, niemand vertraut ihm. Ich weiß nicht, wie er hier einen Stich landen will.«
»Und ich weiß, dass er keine Schlacht provoziert, die er nicht gewinnen kann.« Jemand Machtvolles muss ihm den Rücken stärken.
Wer?
»Ich wollte ihm einen Besuch abstatten, um die Dinge zwischen uns zu klären. Aber die Ratte versteckt sich in ihrem Loch und es scheint nicht in Kowloon zu sein.«
»Nim ist nicht leichtsinnig.« Hier hat er mehr Feinde als Freunde. »Er wird erst auf den Plan treten, wenn er sich seiner Sache sicher ist.«
»Und wie will er das schaffen?«
»Mit sehr viel Geld, noch mehr Macht und erstklassigen Kontakten.« An den Triaden wird er nicht ungeschoren vorbeikommen. Es sei denn, sie lassen sich auf einen Deal mit ihm ein. Dazu braucht er etwas, das sie nicht besitzen. Spontan fällt mir nicht ein, was das sein könnte.
»Wenn ich ihn finde und es stellt sich heraus, dass er für den Tod meiner Leute verantwortlich ist, häute ich ihn.«
»Er ist kein Mörder.« Dazu kenne ich ihn zu gut. »Dennoch ist er kaltschnäuzig genug, um für seinen Vorteil unheilvolle Geschäftsverbindungen einzugehen. Es wäre ein fataler Fehler, ihn zu unterschätzen.«
»Trotzdem bekommt er meine Shivas nicht.« Er schlägt so hart mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirren. »Wenn ich den Lotosgarten schließe und meine Leute frei sind, nimm du sie.«
»Verlockend, aber meine Kapazitäten sind begrenzt.« Mit dem Finger ziehe ich einen Kreis in der Luft, um ihm zu zeigen, dass ich die Räumlichkeiten, nicht jedoch meine wirtschaftliche Lage meine.
»Vergiss es.« Er springt auf. Der Stuhl kippt hinter ihm. »Bis es so weit ist, werden kaum noch welche von ihnen leben.« Er stapft zur Tür, verflucht Gage bei fast jedem Schritt.
»Lin?«
Mit der Hand auf der Klinke bleibt er stehen.
»Wenn deine Shivas für mich arbeiten wollen, werde ich sie nicht abweisen.« Wäre ich an seiner Stelle, würde ich meine Leute ebenfalls in guten Händen wissen wollen. »Sollte es für dich jedoch eine Möglichkeit geben, trotz allem auszuharren, bis sich der Sturm legt, würde mich das freuen und das meine ich ernst.«
»Das Übel des Lotosgartens, so nennen die Leute diese beschissene Katastrophe.« Er spricht, ohne sich umzudrehen. »Die Stammgäste bleiben aus, die vertraglosen Shivas beginnen aus Angst zu fliehen. Wie lange würdest du diesen Verlust verkraften?«
»Keine Woche.«
»Ich halte schon zwei aus.« Er öffnet die Tür, sieht über die Schulter zu mir. »Sollten wir Hao Jun ins Vertrauen ziehen? Vielleicht hat er Antworten.«
»Er wird längst wissen, was vor sich geht.«
»Ich hörte, du hast einen guten Draht zu ihm.«
Die Häme in seiner Stimme blende ich aus. »Habe ich.«
»Gut.« Langsam dreht er sich zu mir. »Dann erzähle ihm von meinen toten Leuten und erinnere ihn daran, dass nicht nur ich Geld mit ihnen verdiente, sondern auch er.«
Lin zahlt ihm Schutzgeld. Wie die meisten.
Ich nicht.
»Was ist an dir so besonders, dass er dich uns anderen vorzieht?« Er mustert mich, verzieht den Mund. »Lutschst du seinen Schwanz?«
»Geht dich einen Dreck an.« Für einen Moment sehe ich Hao Jun über mir, wie er mir mit verklärter Miene das Blut von der Brust leckt.
»Ich kann’s mir denken«, sagt er leise und schließt die Tür zwischen uns.
Die Vergangenheit verlässt niemanden. Sie lastet auf der Gegenwart, drängt sich in die Zukunft.
Der Triadenfürst schuldet mir mehr als einen Gefallen. Er weiß es, sonst hätte er mir nicht seine private Kontaktnummer anvertraut.
Für den Notfall.
Das hier wird einer, wenn niemand etwas unternimmt.
»Joseph«, meldet er sich zeitgleich mit dem Erscheinen seines Gesichtes. »Was ist?« Die Falte zwischen seinen Brauen ist tiefer als gewöhnlich.
Ich spare mir die Höflichkeitsfloskeln. Sie würden unser beider Zeit stehlen.
»Lin war eben bei mir. Seine Shivas sterben.«
»Ich weiß.« Die Falte gräbt sich tiefer. »Dieses unerfreuliche Problem reicht weiter, als du dir vorstellen willst.«
»Wie weit?«
»Ich bin dabei, es herauszufinden.«
»Gage scheint seine Hände im Spiel zu haben.«
»Auch davon hörte ich bereits.«
Etwas an seinem Blick missfällt mir. Als würde sich ein Vorhang herabsenken.
»Vor langer Zeit verlor er in Kowloon sein Gesicht. Nun agiert er aus dem Schatten heraus.«
»Er fürchtet Sie.« Und jeden anderen seiner Feinde.
»Zu Recht.«
Würde Nim in diesem Moment Hao Juns entschlossene Miene sehen, er würde ans Ende der Welt fliehen.
»Ich komme zu dir, sobald ich über mehr als nur Gerüchte verfüge. In ein paar Minuten treffe ich mich mit Miles Lee. Seinen Klub hat es ebenfalls erwischt, doch er meint, einen Schuldigen dafür gefunden zu haben.«
Das Second Life. Nummer vier auf Kowloons Rangliste. Es ist bloß eine Frage der Zeit, dass das Übel des Lotosgartens auch auf das Monk übergreift.
Es ist alles, was ich besitze. Mein Leben. Es hat mich zu dem gemacht, der ich bin.
»Joseph?«
Ohne den Klub werde ich wieder zu dem durchgefickten Shiva, der für ein paar Jahre träumen durfte, ein Mensch zu sein.
»Joseph, hör mir zu.«
»Was ist?«
Hao Juns Braue wandert in die Stirn.
»Verzeihen Sie mir.« Es fällt mir schwer, die Gedanken abzuschütteln. Die Angst in ihnen macht sie klebrig.
»Du solltest die Sicherheitsvorkehrungen verdoppeln.« Er nickt jemandem zu, der sich außerhalb des Erfassungsbereiches befindet. »Rede mit den Shivas und den Securitys«, fährt er zu mir gewandt fort. »Was immer hier vor sich geht, darf die Schwelle des Monk nicht überschreiten.«
»Danke für Ihre Fürsorge.« Liams Name blinkt neben dem Kürzel eines angehängten Bildes. Die Leiche. Fast hätte ich sie vergessen. »Eines noch. Vermissen Sie einen Ihrer Männer? O’Farrell stolperte an der Grenze zu Tai Kok Tsui über einen Triadenkämpfer. Jemand tötete ihn mit einer Schallwaffe.«
»Er ist ein Dieb und wurde von mir dementsprechend bestraft. Offenbar hat er sich mit seinem iloyalen Verhalten noch mehr Feinde gemacht.«
»Sie müssen einflussreich sein, wenn sie sich an einen Ihrer Leute heranwagen.«
»Oder dumm. Ich schicke jemanden, der die Leiche beseitigt.« Seine Stimme klingt nach unterdrückter Wut.
Erstaunlich. Er ist ein Mann, der seine Emotionen wie kein anderer beherrscht.
»Wenn ich komme, reden wir über die unheilvollen Vorkommnisse. Aber erst, nachdem ich Juen genossen habe.« Auf seiner Miene zeigt sich einen Herzschlag lang ein Lächeln. »Ich bin dem Jungen sehr zugetan, doch er vermag nicht, dich zu ersetzen.«
Das dritte Mal, dass ich in dieser Nacht an meine Vergangenheit erinnert werde.
»Ich vermisse die Stunden im Heaven.«
Seine Stimme schmeichelt mir.
Ich schließe die Lider, doch die Szenen entfalten sich dahinter und lassen mich wieder der Junge sein, der zitternd vor Angst seinen ersten Gast empfängt.
»Gib auf dich acht, Joseph.« Sein Gesicht verschwindet.
Der letzte Schluck Whiskey genügt nicht, um die Erinnerungen fortzuspülen.
Ich muss meine Leute warnen. Vor allem diejenigen, die in der Oase arbeiten.
Überfliege die Reservierungen. Bis auf Juens Gast handelt es sich um Stammkunden. Sie würden im Notfall eine unangemeldete Sicherheitskontrolle akzeptieren.
Juens Schicht beginnt erst in einer Stunde. Steve hat die Reservierung angenommen. Der Mann hätte mit keiner Wimpern gezuckt, als er ihm den Preis nannte. Anscheinend ist er Qualität gewohnt.
Ein gutes Zeichen. Ich werde dennoch mit Juen reden. Er wird bei Kun sitzen und mit ihm über die Theorie eines schmerzfreien Lebens philosophieren. Seine Methode, um sich auf seinen Job einzustimmen.
Für die beiden wird es eine Theorie bleiben.
Die Tische in der Bar sind nur zur Hälfte besetzt. Die meisten Gäste haben sich mit ihren Spielzeugen bereits in eines der Zimmer zurückgezogen.
Juen sitzt am Tresen und plaudert mit Abraham. Was er ihm erzählt, scheint witzig zu sein, denn der Security lacht dermaßen laut auf, dass einige Gäste zusammenzucken.
Als er mich sieht, rückt er mir einen Barhocker zurecht. »Hey Boss! Lust auf eine Schale Macha?« Sein monströses Gesicht verzerrt sich zu einem Lächeln. »Juen versüßt mir meine Pause gerade mit Anekdoten über seinen letzten Gast.«
»Muss ich euch beide an die Verschwiegenheits- und Diskretionsklausel erinnern?«
»Nein.« Verlegen senkt Abraham den Blick. »Was im Monk hinter verschlossenen Türen geschieht, wird weder kommentiert noch nach außen getragen.«
»Wir tragen es nicht nach außen.« Juen sieht mich mit großen Augen an. »Und Sie und Mr. O’Farrell kommentieren sehr oft, was hinter verschlossenen Türen geschieht. Vor allem dann, wenn sich diese Türen in der Oase befinden.«
Ihm genügt ein Blick von mir, um den vorlauten Mund zu halten.
»Das ist etwas anderes«, erklärt Abraham mit schuldbewusst gesenkter Stimme. »Der Doc und der Boss reden nur in Notfällen darüber. Wenn es darum geht, dich zusammenzuflicken oder ob es Sinn macht, die Gäste auf das Amputationsverbot auch schriftlich hinzuweisen.«
Der letzte Vergnügungspendler, der sich mit einer Laubsäge an Abraham vorbeischleichen wollte, fand sich zwei Minuten später mit einem gebrochenen Handgelenk auf der Straße wieder.
Ich habe mich noch nicht gesetzt, da wirbelt Kun bereits mit dem Teebesen in eine der wenigen unversehrten Schalen giftgrünes Pulver in heißes Wasser.
»Eine gute Nacht.« Er grinst, während er das hauchdünne Porzellangefäß vor mich stellt. »Viele freundliche Gäste.«
»Es gibt schlechte Neuigkeiten.« Lins Bitte, im Notfall seine Shivas aufzunehmen, werde ich vorerst verschweigen. Noch ist es nicht so weit und ich reiße mich nicht darum, Juens Zorn darüber ertragen zu müssen, dass seine neuen Kollegen von der Konkurrenz stammen. Früher oder später blüht mir ohnehin eine Szene.
Alle drei hören mir aufmerksam zu, jedoch mit weniger Angst in den Blicken, als ich erwartete.
»Der Lotosgarten ist nicht das Monk, Sir« Kun fischt einen Glückskeks aus der Dose und legt ihn neben meinen Tee. »Die Securitys sind sehr aufmerksam. Vor allem Abraham.« Neben dessen Schale landet ein zweiter Keks. »Außerdem besteht unsere Kundschaft zu siebzig Prozent aus Stammgästen.«
»Dennoch werden wir die Sicherheitsvorkehrungen erhöhen.« Ich frage mich wie? Taschenkontrolle ist längst üblich. Ebenso wie Leibesvisitationen, zumindest bis zu einem gewissen Grad. »Ich will nicht, dass einem meiner Leute etwas zustößt, das O’Farrell nicht ausbügeln kann.« Tippe Juen gegen die Brust. »Vor allem du wirst vorsichtig sein.«
»Aber das bin ich immer!«
Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihm den Unschuldsblick glauben.
»Einen Scheiß bist du.« Abraham stößt ihn so derb an, dass Juen fast vom Barhocker kippt. »Bevor du das verdammte Safeword benutzt, schluckst du lieber deine Zunge runter.«
»Das ist nicht wahr.« Juen setzt sich wieder zurecht, beißt den Glückskeks auf. »Mir ist an meinem Ruf gelegen. Das ist alles«, nuschelt er und zieht den winzigen Zettel hervor. »Der Tag verglüht in prächtigem Rot.« Er zuckt die Schultern. »Da seht ihr es.«
Seine taoistische Dauergelassenheit fällt mir auf die Nerven. Spätestens wenn Lins Shivas vor der Tür stehen, ist es aus mit ihr.
Abraham greift zu seinem Keks.
Bevor er mich ebenfalls mit Sinnsprüchen quält, nehme ich ihm das Ding weg.
»Du sorgst dafür, dass Rodja strenger als sonst die Gäste kontrolliert. Ich will nichts Eingeschlepptes. Keine Süßigkeiten, keine Zigaretten nichts, was den Shivas angeboten werden könnte.«
»Wir könnten an den Zimmern Schilder anbringen.« Abraham zeichnet mit seinen Daumen und Zeigefingern die Umrisse in die Luft. »Füttern verboten.«
»Das ist kein Witz!« Packe ihn am Kragen. »Ihr Leben könnte davon abhängen!«
Er starrt mich erschrocken an.
»Ich fürchte, er scherzt nicht.« Seufzend schüttelt Kun den Kopf. Sein Lächeln zu dem Security fällt eher mitleidig als aufmunternd aus.
»Keine Schilder.« Ich lasse ihn los. »Aber ein neues Safeword und ich will, dass es jeder des Personals kennt.«
»Kein Problem, Sir.« Abraham richtet sich den Hemdkragen.
Wie konnte ich vergessen, dass ich ihn nicht wegen seiner Geistesgaben engagiert hatte?
»Wir alle wissen, dass wir bei Ihnen und dem Doc gut aufgehoben sind.« Juen nimmt meine Hand, küsst die Innenseite des Gelenks. »Sie sind nicht irgendein Klubbesitzer, sondern Mr. Joseph Wakane. Deshalb arbeiten wir für Sie.«
»Das ist Lin ebenfalls nicht.« Weder er noch Miles Lee oder Madame Nikobe. Das Fleur du Mal rangiert nur deshalb auf Platz drei, weil die Dämonin ihre Ressourcen nicht mit Konkurrenzgebaren verschwendet.
»Juen hat recht«, traut sich Abraham anzumerken. »Aber Sie auch. Wenn es da draußen jemand auf die Shivas abgesehen hat, müssen wir vorsichtig sein.« Abraham schlürft den letzten Schluck seines Tees, steht auf. »Ich rede mit meinen Männern. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich bin euer Boss.« Es ist meine Pflicht, mich um meine Leute zu sorgen. Einundfünfzig Menschen, die sich auf mich verlassen. Liam eingeschlossen. Davon fünfunddreißig Shivas. Jeder von ihnen ist auf das Funktionieren des Begging Monk ebenso angewiesen wie ich.
Juen rutscht von seinem Hocker, stellt sich zwischen meine Schenkel. »Sie sind zu angespannt, Sir. Darf ich Ihnen Erleichterung verschaffen?« Sein gertenschlanker, bis auf die Shorts nackter Körper schmiegt sich an mich. »Für die Gäste könnte es motivierend sein und ich liebe Publikum beim Ausüben meiner Kunst.« Seine Hand wandert in meinen Schritt, beginnt, mich zu massieren.
Für einen Moment schließe ich die Augen und gebe mich den geschickten Fingern hin.
»Ich mache Sie glücklich«, schnurrt er mir ins Ohr. »Ich kann es fühlen.«
»Wenn du deine Bemühungen fortsetzt, muss ich nach oben und mir eine frische Hose anziehen.« Ich pflücke seine Hand von mir, küsse sie, bevor ich sie loslasse. »Danke für das Angebot. Aber ich bediene mich nie vor den Gästen am eigenen Sortiment und das weißt du.«
Er zieht einen Schmollmund, malt mit dem Finger Kringel auf meinen Oberschenkel. »Sie könnten mich in Ihr Appartement bitten. Dann würden Sie sich nicht vor den Gästen an mir bedienen, sondern ganz privat.«
»Ich brauche mehr als deinen süßen Arsch und das werde ich dir gewiss nicht kurz vor deinem Job zumuten.« Ich stehe unter Strom und muss mich entladen.
An Liam. Immerhin ist er einer der Gründe für meinen Zorn.
Herr Schulz betritt das Entree.
Versuche mich vergeblich, unauffällig hinter Abrahams Masse zu verbergen.
Der Deutsche sieht mich, winkt. »Mr. Wakane!« Mit motiviert ausgreifenden Schritten eilt er zu mir, streckt mir an Juen vorbei die Hand hin. »Wie geht es Jana? Ich hoffe, sie ist wohlauf?«
Das Mädchen ist die einzige Deutsche unter den Shivas und Schulz ist vernarrt in sie. Vielleicht tröstet es ihn über sein Heimweh hinweg. Jedes Mal, wenn er das Monk besucht, zählt er mir die Vorzüge seines Heimatlandes auf, die er das letzte Mal vor zwanzig Jahren genossen hat. Die Shanghai-Grippe und die anschließende Wirtschaftskrise ließen von ihnen nichts übrig. Er gehörte der ersten Flüchtlingswelle an, die den Norden Richtung Osten verließ.
»So ein bezauberndes Mädchen.« Seine Augen leuchten.
»Sie ist diese Nacht bereits ausgebucht, tut mir leid. Aber Sie können sie gern für Ihren nächsten Besuch reservieren.«
»Fein, fein.« Er schüttelt meine Hand, als wäre es sein Lebensinhalt.
Ich verabscheue diese Art der Begrüßung.
»Ich bin hier, um mit ein paar Freunden meine Beförderung zu feiern.« Endlich lässt er mich los, um drei Herren an einem der Tische zuzuwinken. »Mein Chef war von meiner innovativen Idee zur Verbesserung der Salzfilter begeistert.«
»Ich gratuliere.« Er arbeitet als Umwelttechnik-Ingenieur für eine Firma zur Meerwasseraufbereitung, bewohnt ein Zwei-Zimmer-Appartement im Central-Bezirk von Hongkong Island und hält sich eine Schildkröte, die er vor dem Tod in einer Garküche rettete. All das erfuhr ich während seines ersten Besuchs im Monk und mein Wissen über sein Privatleben wird regelmäßig von ihm aufgefrischt.
Juen schmiegt sich an meine Seite, bedenkt Schulz mit einem hinreißend berechnenden Augenaufschlag.
Er bleibt ohne Wirkung.
Schulz besucht das Monk seit zwei Jahren und wollte bisher nie jemand anderes als das blasse Mädchen mit den hellen Haaren.
»Kommen Sie doch für einen Moment an unseren Tisch«, schlägt er mir begeistert vor. »Wir würden uns freuen.«
Seine Kollegen heben lächelnd ihre Gläser.
Allesamt Stammgäste wie er.
Ich werde ihnen eine Weile um den Bart gehen müssen.
Juen stiehlt sich einen Abschiedskuss, bevor er mich Schulz überlässt.
»Du traust dich was«, brummt ihm Abraham zu, erntet jedoch nur ein helles Lachen von ihm.
– Liam –
Ich sollte etwas zu Kitao sagen. In irgendeiner Weise reagieren. Dazu muss ich es begreifen und das fällt mir im Moment schwer. Dass ich im Schneidersitz drei Schritte von einer in Fäulnis befindlichen Leiche entfernt sitze, ist dabei ein Problem, aber nicht mein größtes. Das sind Erschöpfung und blanke Angst.
Vierzehn tote Shivas allein im Lotosgarten. Alle sind binnen weniger Tage gestorben, auf dieselbe Weise wie Tien. Kitao hält es für einen Fluch. Ich halte es für beginnenden Massenmord.
Angeblich nahm keines der Opfer Drogen, was ich bezweifle, doch Kitao beharrt darauf, dass der Lotosgarten clean ist.
Ich hätte Tien Blut abnehmen sollen.
Dieses Mal schlage ich mir nur gedanklich vor die Stirn. Was soll ich in Kowloon mit einer Blutprobe? Die einzigen Laboratorien gehören der Mafia und dienen lediglich dem Zweck, Drogen herzustellen, und nicht sie nachzuweisen. Hao Jun nähme meine Bitte höflich lächelnd zur Kenntnis und würde mich fragen, welche Sorgen mich sonst noch umtreiben.
Gage zum Beispiel. Er hat vor, den Lotosgarten zu kaufen. Das perfekte Sprungbrett, um eine ernste Konkurrenz fürs Monk zu werden.
Joseph wird auf eine eiskalte Weise explodieren.
Mir geht es ähnlich. Dieses Arschloch sitzt mir quer, seit ich weiß, was zwischen ihm und Joseph abgelaufen ist.
In mir konkurrieren Eifersucht und Wut. Mal was anderes und durchaus beflügelnd. Leider ist Gage nicht in der Nähe, um diesen Mix auszubaden.
»Werden Sie mit Mr. Wakane reden?« Kitao sieht mich flehend an. »Ich will nicht für diesen Mann arbeiten. Mr. Lin traut ihm nicht.«
»Niemand mit einem Funken Verstand im Leib traut ihm.« Kitao will zu Joseph wechseln, doch so einfach ist das nicht. »Stehst du unter Vertrag?« In diesem Fall sähe es schlecht aus.
»Ja.« Er hebt den Arm. Unterhalb seiner Achsel prangt eine kleine Lotosblüte.
Die Shivas tragen ihren Status auf der Haut. Er ist zu wichtig, um verloren zu gehen. Papier verwittert in diesem Klima erschreckend schnell, zumal es in Kowloon bis auf wenige Ausnahmen nur recyceltes gibt und das in miserabler Qualität. Auf digitale Speicher verlässt sich hier ebenfalls niemand mehr. Die Halbwertszeit der Daten ist kläglicher als die Dauer eines Shiva-Lebens, und die Clouds sind in etwa so zuverlässig wie die altersschwachen Satelliten, die je nach Laune ganze Länder über Wochen in Funklöcher verwandeln.
Erstaunlich, trotz des maroden Zustandes der technischen Zivilisation ist noch niemand auf die Idee gekommen, relevante Daten wieder in Stein zu meißeln.
Ertappe mich dabei, wie ich ernsthaft darüber nachdenke.
Ich brauche Schlaf.
Kitao lässt den Arm sinken und das Tattoo verschwindet.
Letztendlich ist es nichts anderes als ein Brandzeichen. Nach all den Jahren in Kowloon sträubt sich mein Rechtsempfinden immer noch bei diesem Anblick.
»Du wirst niemanden finden, der dich davon befreit.« Mich eingeschlossen. Die Triaden wachen über die Einhaltung dieser Art von Verträgen und nehmen Einmischungen übel. »Kauft Gage den Lotosgarten, gehörst du ihm ebenso wie jeder verdammte Stuhl und jede angebrochene Schnapsflasche.«
Die meisten Shivas sind Besitz. Ohne Vertrag, ohne Absicherung, ohne Rechte. Jeder, der will, kann um sie schachern. Sie gehören vorübergehend dem, der am höchsten für sie geboten hat, doch das schützt sie nicht davor, wieder verkauft zu werden. Diejenigen, die sich einen Namen machen konnten, versuchen sich vertraglich an sichere Klubs wie dem Monk oder dem Lotosgarten zu binden, was sie von Sklaven zu Hörigen aufsteigen lässt. Der jeweilige Besitzer ist verpflichtet, sich an die ausgehandelten Absprachen zu halten. Wird der Klub geschlossen, gleichgültig aus welchen Gründen, erlischt die gegenseitige Bindung.
Ich rede mir umsonst ein, dass dies für Kowloon ein bedeutender Schritt in Richtung Humanität ist. Der Gedanke, dass Joseph ein geschätztes Drittel seiner Shivas ebenfalls gebrandmarkt hat, lässt mich resignieren. Die Kluft zwischen uns ist immer noch groß wie am ersten Tag. Es wird Zeit, dass ich das akzeptiere.
»Mr. O’Farrell?« Kitao berührt mich am Arm. »Ist Ihnen nicht gut?«
Meint er die Frage ernst? »Alles bestens.« Diese Nacht legt den letzten Rest meines Weltbildes in Schutt und Asche. »Wenn dein Boss fair ist, schließt er den Laden, statt ihn an Gage zu verkaufen.« Was er nicht tun wird. Warum sollte er auf ein Vermögen verzichten? »In diesem unwahrscheinlichen Fall wärest du frei und könntest arbeiten, als was und wo du willst.« Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich ihn als Verkäufer an einem Hot-Dog-Stand. Freundlich lächelnd und weit weg von Schmerz und Demütigung.
Die Vision löst sich in nichts auf. Zum einen, weil es in Kowloon keine Hot-Dogs, sondern lediglich aus zweifelhaften Quellen stammendes Gebratenes und Frittiertes gibt, zum anderen, weil ein Junge wie er ist, was er ist.
»Ich will nicht woanders arbeiten. Nur im Monk.«
War ja klar gewesen.
»Was denken Sie darüber?«
»Dass Juen wenig begeistert sein wird.« Ein Konkurrenzkampf zwischen zwei Spitzenshivas bringt Stress in den Alltag und davon haben sowohl Joseph als auch ich genug.
»Mr. Wakane ist der Boss«, erinnert er mich an die Tatsachen. »Juen wird sich seinen Entscheidungen fügen.«
»Wird er wohl.« Nachdem er mir, ihm und dir das Leben auf seine sanfte aber konsequente Weise zur Hölle gemacht hat.
»Ich trage Mr. Wakane deine Bitte vor und werde ihm die Umstände erklären.«
»Danke.« Er legt die Handflächen aneinander, verneigt sich. »Möge jeder Ihrer Schritte Sie näher zum Glück führen.«
Da sie mich ab diesem Moment schnurstracks ins Monk und damit in Josephs unmittelbare Nähe bringen, bleibt das mit dem Glück ein frommer Wunsch.
Bin zu geschafft, um Josephs Wut standzuhalten.
Da ist ein Gedanke, der mir noch mehr zusetzt.
Was ist, wenn Gage seine Finger im Spiel hat, um den Preis zu drücken? Er ist ein Arschloch, aber auch ein kaltblütiger Mörder? Ich weiß zu wenig über ihn, außer wie sich sein Kinn an meiner Faust anfühlt.
Und dass er Joseph übel zusetzte. Nicht nur, als er sein Shiva war.
Kitao verschwindet in einer der zahllosen Gassen.
Er will nicht für Gage arbeiten. Joseph hat es jahrelang getan.
Das Ziehen in meinem Herz verdrängt die Verzweiflung dieser Nacht. Sie wird wiederkommen. In einem schwachen Moment, wenn ich nicht auf der Hut bin. Sie wird mich mit all dem konfrontieren, was ich heute und in anderen üblen Nächten erlebte. Sie wird mir einreden, dass ich aufgeben, meine Sachen packen und die Halbinsel verlassen soll.
Ich muss zurück ins Monk. Zu Joseph und seiner Wut. Vielleicht zerreißt sie mein Herz, dann gibt es endlich Ruhe und krampft sich nicht länger zusammen.
Wie Tien, bevor er starb.
Oh Gott, lass mich einen Weg finden, Dinge zu ändern, die ich nicht ändern kann.
– Dean –
Starre zur Decke. Meine Gedanken kreisen. Halb vier morgens, aber ich bekomme kein Auge zu. Hiatos Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Als er von Hingabe sprach, klang es so feierlich, als handelte es sich um etwas Heiliges.
Ich will mich Joseph hingeben, mich ihm überlassen, mich aufgeben. Dann wäre ich mich los und er hätte das, was er wollte.
Mich.
Keine Chance. Sich ihm auszuliefern wäre der komplette Kontrollverlust. Das bisschen Kontrolle über mein Leben steckt in dem Satz nicht anfassen!
und selbst das weicht langsam auf.
Wenn Liam doch endlich da wäre. Nur ein bisschen mit ihm über den Tag reden, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufallen. Meine Hand in seine schieben und mich von ihm in den Schlaf mitnehmen lassen. So wie jede Nacht.
Ich bin ein Baby. Die Erkenntnis setzt mir zu, dabei ist sie nicht neu.
Keine Ahnung, wann er nach Hause kommen wird.
Auf ihn warten? Mein Hirn weiter kaputt grübeln? Besser, ich lenke mich ab. Die Bar ist noch geöffnet und Mr. Kun ist Kummer mit mir gewohnt. Wir reden ein wenig, nebenbei beobachte ich die Shivas, wie sie ihre Gäste beflirten, bevor sie mit ihnen in den Zimmern verschwinden.
Oder durch die Hintertür. Sie führt durch den Garten in die Oase.
Jedes Mal läuft es mir bei dem Anblick eiskalt den Rücken hinunter.
Keine Ahnung, wie sie dieses Leben aushalten. Vielleicht gehe ich ihnen deshalb aus dem Weg, weil sie mich an Dinge erinnern, die ich vergessen will.
Meine Kehle wird eng.
Okay, ich muss aus den Gedanken raus, muss zu Kun und seinem schlimmen Knie. Ich bin der Einzige, dem er von seinen Schmerzen erzählt. Bei den anderen lächelt er und sagt, alles wäre in Ordnung, obwohl er sich kaum auf den Beinen halten kann.
Er weiß, was mir passiert ist. Keine Kunst, das weiß jeder, aber er vertraut sich mir deswegen an. Um mich zu trösten, oder weil er ahnt, dass ich ihn trotzdem für ehrenwert und tapfer halte. Auch wenn er sich erlaubt, ein bisschen zu jammern. Vor einem seiner Landsleute würde er das nie tun und vor Joseph schon gar nicht.
Ich bin anders. Vor mir muss er kein Gesicht wahren.
Vielleicht weil ich meines verloren habe. Ging ganz schnell. Bereits nach dem ersten Hieb. Jeder hat es dabei gesehen. Jeder hat es mir weggenommen, indem er es dabei anstarrte.
Die Tür fällt hinter mir zu, der Aufzug steht offen.
Liam hält jeden für lebensmüde, der das Ding benutzt.
Ich riskiere es oft. Spricht nicht für meine seelische Stabilität, aber für die spricht ohnehin nur wenig.
Zeit für mein tägliches Schisshasespiel.
Die Türen schließen sich stückchenweise und dermaßen laut, dass sich mir die Haare bei dem metallisch schrammenden Geräusch aufstellen.
Der zweitunterste Knopf. Nummern gibt es nicht. Der unterste führt in die Tiefgarage. Habe ich schon ausprobiert und ein Genie muss man für diese Überlegung nicht sein.
Ruckele hinab. Ab und zu fühlt es sich nach fallen an. Wie viele Seile halten eine Fahrstuhlkabine? Macht es etwas aus, wenn eines reißt oder bereits fehlt? Diese Fragen stelle ich mir jedes Mal in dem nach altem Schweiß und Schmierfett stinkenden Ding.
Die Türen öffnen sich ebenso ungeschmeidig, wie sie sich schlossen.
Bao sitzt an einem der Tische. Er sieht an seinem Freier vorbei, lächelt mir zu. Wäre er kein Shiva, würden wir tagsüber vielleicht zusammen abhängen, aber er ist einer und das schüchtert mich ein. Vor allem, weil er manchmal in der Oase arbeitet.
Ein Tisch weiter sitzt Joseph. Er unterhält sich mit einer hageren Frau, deren Finger vor Ringen funkeln und regelmäßig im Ausschnitt von Jana verschwinden.
Er sieht zu mir.
Fühle mich wie eine Maus, die begreift, dass die Katze direkt vor dem Mauseloch lauert. Irgendwann muss ich raus, sonst verrotte ich da drinnen.
Joseph wird mich fressen. Mit Haut und Haar. So wie er mich ansieht, weiß er das ebenso wie ich.
Mein Herz stolpert.
Rette mich an die Bar, spüre seinen Blick im Nacken.
»Noch wach oder schon wieder?«, fragt Mr. Kun und füllt Wasser in den angelaufenen Teekocher.
»Irgendetwas dazwischen.« Wirklich tief schlafe ich ohnehin nie.
Doch, früher. In Charleston. Wie ein Stein.
Ein anderes Leben.
»Minze oder Kamille?« Er fischt meinen Lieblingsbecher aus dem Regal.
Ihm fehlt der Henkel, aber das stört mich nicht. Die meisten Becher und Tassen sind angeschlagen.
»Minze.«
Er lächelt, als hätte ich ihn mit meiner Wahl glücklich gemacht.
Riecht gut, als das brodelnde Wasser auf den Teebeutel fließt.
»Zucker?« Er beantwortet die Frage selbst, indem er drei Zuckerwürfel in den Becher plumpsen lässt. »Süßes ist gut fürs Chi und deines will gepäppelt werden.«
Er päppelt es, seitdem ich das erste Mal einen Cappuccino bei ihm bestellte.
»Und Zorn ist schlecht fürs Chi.« Sein langer dünner Zeigefinger schießt warnend in die Höhe. »Ganz, ganz schlecht.«
Das sagt er mir ständig. Aus irgendeinem Grund muss es für ihn ungemein wichtig sein.
»Ich bin nicht zornig«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Nur verwirrt.«
»Das ist auch nicht gut fürs Chi.« Ein vierter Zuckerwürfel landet in meinem Tee.
»Ich weiß.« Ich ziehe die Tasse näher zu mir, bevor er mir einen Zuckerschock verpasst. »Wie geht es Ihrem Knie?«
»Furchtbar.« Er grinst übers ganze Gesicht. »Gestern hat es geschmerzt, als würde es brennen. Heute sticht es so sehr, dass ich kaum laufen kann.«
»Das tut mir leid, Sir.« Außer mir nennt ihn niemand Sir
. Er gibt es nicht zu, doch er mag es. Seine Augen strahlen jedes Mal, als hätte ich ihm etwas Wertvolles geschenkt.
Ich mag Mr. Kun.
»Der Doc hat mir einen Käfig für mein Knie versprochen.« Er nickt begeistert. »Das würde helfen. Er hat Apotheker Han bereits …« Sein Blick schweift zur Hintertür.
Ein Mann mit Doppelkinn und hochtoupierter Frisur schlendert zum Tresen. Blutflecken an den Manschetten, an der Hose und im Gesicht klebt ebenfalls etwas.
»Wer arbeitet heute in der Oase?« Mir wird flau.
»Juen«, flüstert Mr. Kun. »Der Herr ist ein neuer Gast. Ich hoffe, Juen wurde seinen Ansprüchen gerecht.«
Sein Lächeln soll mich wahrscheinlich beruhigen.
Guter Versuch.
»Ein Bier.« Der Kerl schlägt mit der flachen Hand so heftig auf den Tresen, dass ein Stück von der Kante abbricht. Der Hand scheint das egal zu sein, dem Mann auch.
Die Haut ist glatter als auf der anderen. Keine Flecken, keine Adern, die hervortreten. Eine Prothese? Liam hat mir erzählt, es gäbe die Dinger auf Hongkong Island mittlerweile mit einem echten Hautüberzug. Im Regenerator gezüchtet aus den Zellen des Patienten, voll einsatzfähig und über einen Chip im Hirn ansteuerbar.
»Hey, Schlitzauge!« Er lehnt sich zurück, sieht Mr. Kun abschätzend an. »Warum lungert dieser hässliche Riese vor den Spielzimmern herum?«
Meint er Abraham?
»Es bringt mich aus dem Takt, wenn ein Security an der Tür lauscht.«
»Der Security belauscht nicht Sie, Sir.« Höflich lächelnd schiebt ihm Kun eine Bierflasche hin. »Sondern die Shivas. Für den Fall, dass sie ihr Safeword verwenden.«
»Ich habe keines mit der kleinen Ratte abgesprochen.«
Armer Juen. Wie hat er es fertiggebracht, sich diesem Kerl zu überlassen?
»Nein, Sir. Aber der Shiva mit dem Security.« Kuns Lächeln wird noch freundlicher. »Und mit Mr. Wakane, und Mr. Liam, und jedem anderen, der im Monk arbeitet. Sogar mit mir.«
Ich kenne es nicht. Will mich Joseph vor der Realität schützen? Wahrscheinlich hält er mich auch nicht für einsatzfähig genug, einem Shiva ernsthaft zur Hilfe zu kommen.
Fühle mich gleich noch ein Stück mieser.
»Die Securitys sind in erster Linie für die Shivas da«, erklärt Kun mit einer Engelsgeduld. »Manche Gäste halten sich nicht an die Regeln und Mr. Wakane hasst es, wenn seine Spielzeuge kaputtgespielt werden.«
Der Mann verzieht den Mund. »Ich bezahlte ein Vermögen für den Bengel. Dann will ich auch mit ihm machen können, was ich will.«
In Kuns Lächeln mischt sich Sorge. Sein Blick huscht erneut zur Hintertür.
Keine Spur von Juen.
»Und wenn ich ihn Scheiße fressen lasse, das hat die Gesichtsbaracke vor der Tür nichts anzugehen!«
Er meint definitiv Abraham.
»Das Spiel mit Exkrementen gehört nur in Ausnahmefällen zu Juens Repertoir«, informiert Kun nach wie vor freundlich. »Sein Metier ist der Schmerz. Wurden Sie darüber nicht in Kenntnis gesetzt?«
Wie schafft er es, diesen höflich-bedauernden Ausdruck hinzubekommen? Bei so einem Kerl?
Kun wischt den Tresen direkt vor meiner Nase. »Der Mann war einer von Hao Juns Leuten«, flüstert er kaum hörbar. »Aber er hat Informationen gestohlen und wurde dafür bestraft. Siehst du die glatte Hand?«
»Sie ist nicht echt«, wispere ich zurück.
»Hao Jun hat sie ihm persönlich abgehackt. Ist schon ein paar Jahre her. Da.« Er tippt unauffällig auf eine tiefe Kerbe im Tresen.
»Er hat es hier getan?« Scheiße!
»Psst!« Er sieht aus den Augenwinkeln zu dem Mann, doch der starrt mit gerunzelter Stirn auf seinen Multi-Kom und scheint nichts anderes mitzubekommen.
»Ich brauchte Stunden, um das Blut aus sämtlichen Ritzen zu schrubben«, flüstert Kun. »Hao Jun entschuldigte sich danach bei Mr. Wakane für die Unannehmlichkeiten.« Er lächelt breit. »Bei mir auch. Ich versicherte ihm, dass es eine große Ehre für mich wäre, das Blut seines Widersachers zu entfernen.«
»Hao Jun kann einfach so in der Öffentlichkeit jemandem die Hand abhacken?«
Kun nickt motiviert. »Die Bar war gut besucht. Einige Touristen filmten den Zwischenfall und waren sehr glücklich über das Abenteuer und die Aufmerksamkeit, die ihnen der Clip bei YouTube bringen würde.«
Richtig. Ich bin in Kowloon. Hier geht so was. »Hat der Typ nicht Angst, Hao Jun über den Weg zu laufen?« Angeblich ist der Triadenfürst häufig im Monk. Mir ist er zum Glück kein zweites Mal begegnet. Keine Ahnung, wie ich darauf reagiert hätte. Von spontanem Erstickungstod über Nervenzusammenbruch bis Totschlag aus dem Affekt wäre alles dabei.
»Warum?« Mit dem Fingernagel fährt er die Kerbe entlang. »Hao Jun und er sind quitt. Er wird für jemand anderes arbeiten. Jemand wie er ist ein guter Mitarbeiter. Sehr loyal.«
»Ich dachte, er hätte seinen ersten Boss bestohlen?«
»Und wurde dafür zur Rechenschaft gezogen.« Kun zwinkert. »Den Fehler begeht er nie wieder.«
Welche Menschen stellen so jemanden ein?
Die Hintertür öffnet sich ein zweites Mal.
Juen kommt ins Entree gestolpert. Er ist blass, hält sich an der Wand fest. Er bemerkt den Mann am Tresen, lässt erschöpft den Kopf hängen.
»Vielleicht braucht er Mr. Liam«, wispert Mr. Kun. »Aber der ist noch nicht zurück.«
»Mr. O’Farrell«, korrigiere ich aus Gewohnheit. Mr. Kun verwechselt Liams Vor- und Nachnamen ständig.
Juen steht im Schatten, wirkt verloren.
Das Gefühl kommt mir bekannt vor.
Er sollte nach dieser Tortur nicht allein sein.
Joseph ist nicht mehr in der Bar. Die hagere Frau und Jana sitzen allein am Tisch und küssen sich ausgiebig. Mr. Kun kommt ebenfalls nicht infrage. Keine Bar ohne Barkeeper. Von Bao ist auch nichts zu sehen und einen der wenigen Gäste kann ich schlecht bitten.
Das Blut auf den Hemdsärmeln des Mannes stammt von Juen. Diese logische Meisterleistung bekommt mein Hirn hin. Also ist er verletzt und braucht Hilfe. Einen Verband kann ich auch ohne Liam anlegen.
Ich rutsche vom Barhocker, gehe ihm entgegen.
Er sieht mich erstaunt an, weicht ein paar Schritte zurück.
Keine Ahnung, warum. Ich bin eher der schmächtige Typ und ganz und gar nicht bedrohlich. Außerdem kennt er mich.
»Schon gut. Ich bin’s.«
»Weiß ich doch.« Sein Lächeln ist zittrig. »Bin nur etwas neben mir.«
»Ist okay.« Ich an seiner Stelle wäre nicht mehr ansprechbar.
Riskiere einen Blick auf seinen Rücken. Durch den dünnen Stoff seines Shirts sickert es rot.
Seine Haare sind nass, duften nach Shampoo.
Er hat geduscht, trotz der Wunden.
Eine Badewanne, ich klammere mich an den Rand, während mein Blut in den Siphon läuft.
Als ob mir jemand den Hals zudrückt.
Muss aus der Erinnerung raus.
»Liam ist noch nicht da«, krächze ich durch die um sich schlagende Panik. »Kann ich dir helfen?«
»Du?«
Sein Erstaunen kränkt mich kein bisschen. Ich wäre auch nicht begeistert, wenn einer wie ich an mir herumbasteln wollte.
»Ich habe mit Liam zusammen das Sanitätszimmer eingerichtet.« Die einzig sinnvolle Tat in den letzten Monaten. Vielleicht stärkt das sein Vertrauen in mich. »Ich weiß zumindest, wo alles steht.«
»Weiß ich auch. Bin ja oft genug drin.«
»Richtig.« Mann, ich bin ein Idiot. »Aber ich will nicht, dass du allein bist. Nicht in so einem Moment.«
»Das ist nett von dir.«
Niedliches Lächeln. Wenn auch ein bisschen mitgenommen.
»Wollen wir?«
Er nickt, wird eine Spur blasser.
Ihm geht es schlechter, als er vorgibt, sonst würde er nicht bei jedem Schritt schwanken.
Ich halte ihn sicherheitshalber bloß am Ellbogen fest. Den sehe ich wenigstens und weiß, dass ich dort in keine Wunde greife. Ich will ihm nicht noch mehr wehtun.
»Wenn es so schlimm war, wieso hast du nicht Abraham gerufen?«
»Es gab keinen Grund.« Er stützt sich auf mich, lässt sich von mir Richtung Treppenhaus führen. »Es ist weniger schlimm als sonst, aber es hat sich falsch angefühlt.«
»Kann sich Schmerz richtig anfühlen?«
»Ja, natürlich.«
Dieses Thema verfolgt mich. Ich hätte nicht zu Hiato gehen dürfen.
»Ich wollte einen Tee trinken. Kun hat da was für uns. Es stammt von Apotheker Han und hilft, wenn das Chi aus dem Gleichgewicht geraten ist.«
Garantiert schmeckt er zuckersüß.
»Aber der Mann saß am Tresen und ich wollte ihm nicht begegnen.«
»Kann ich verstehen.«
»Nein, glaube ich nicht.« Sein Lächeln ist ein wenig stolz. »Die meisten wissen meinen Dienst an ihnen zu schätzen. Sie respektieren mich während des Spieles. Sie respektieren mein Opfer. Aber dieser Gast …« Stolz und Lächeln verschwinden. »Er hat mich wie den letzten Dreck behandelt.«
»Willst du drüber reden?«
Juen schüttelt den Kopf.
»Verstehe.« Dieses Mal wirklich.
»Ich weiß.«
Redet er von der Sache mit Jones?
»Auch für einen erfahrenen Shiva wäre es eine Herausforderung gewesen, was du in Zimmer drei geleistet hast.«
Ja, tut er.
»Du warst sehr tapfer. Das wollte ich dir längst sagen. Aber mir schien, du wolltest es dir nicht sagen lassen, also drängte ich mich nicht auf.«
»Ich war nicht tapfer.« Habe mir bloß die Stimme weggeschrien.
Juen bleibt stehen, sieht mich an. »Darf ich dich berühren?« Seine Hand ist bereits auf dem Weg zu meiner Wange. »Nur ganz zart.«
Bin so überrumpelt, dass ich vergesse, zurückzuweichen.
»Sei nicht zu streng mit dir.« Er streichelt mich, lächelt, streichelt mich weiter. »Es ist normal, dass du deine Tapferkeit nicht wahrnehmen kannst. Das kommt erst mit der Zeit und der Übung.«
»Ich will keine Übung.« Mein Hals wird schon wieder eng.
»Aber du willst mir helfen.« Seine Finger gleiten so sanft über meine Kehle, dass ich es kaum spüre. »Das ist nett von dir.« Er lehnt sich an mich, während wir die letzten Stufen hinter uns bringen.
Ein schönes Gefühl, trotz der Nähe. Sie macht mir kaum etwas aus.
In dem Zimmer riecht es penetrant nach Desinfektionsmitteln, was weniger an Maybes nicht vorhandenem Sauberkeitsfimmel liegt, sondern an der Tatsache, dass zwei der Flaschen nicht richtig schließen. Ist mir schon beim Einräumen aufgefallen.
Ich öffne das schmale Fenster, doch was mir aus Kowloons Nacht entgegenströmt, riecht auch nicht besser, nur anders.
Juen dreht sich mit dem Rücken zu mir, zieht sein Shirt aus.
Blutige Striemen inmitten von unzähligen Narben.
Mir wird schwindelig.
»Du musst das nicht machen.« Er setzt sich auf die Kante der Liege, senkt die Lider. »Ich kann Steve bitten, dass er mir hilft.«
»Nein. Schon gut.« Mein Rücken sieht ähnlich aus. Liam meinte, ich sollte mir den Blick in den Spiegel sparen, aber das konnte ich nicht. Danach sprühte er mir das erste Mal sein Asthmaspray in den Mund. Ich dachte trotzdem, dass ich nie wieder Luft bekomme.
»Ich bin kein Profi wie Liam«, entschuldige ich mein inkompetentes Verhalten. »Bitte fühl dich nicht gekränkt, wenn ich komisch reagiere.«
»Gekränkt?« Seine Brauen verschwinden unter den Ponyfransen. »Es ist für mich eine Ehre, dass du dich um mich kümmern willst.«
»Echt?« Ich frage mich, warum, aber wenn es für ihn okay ist, sollte es das für mich ebenfalls sein.
»Du wirst diese Aufgabe meistern.« Er setzt sich so, dass ich leichter an seinen Rücken herankomme. »Ich bin mir sicher und du solltest es auch sein.«
Gute Einstellung. Ich meditiere sie ein paar Atemzüge lang, bevor ich zum Desinfektionsmittel greife. »Es brennt ziemlich.« Ist nur fair, ihn davor zu warnen. »Ich schätze, wir müssen es trotzdem benutzen.« Regel Nummer irgendwas: Wunden unter allen Umständen reinigen.
Ich sollte Liam besser zuhören, wenn er mir etwas erklärt.
»Ich weiß. Der Doc behandelt mich oft.«
»Klar.« Ich bin ein Trottel.
»Außerdem ist Schmerz okay. Ich kann fast immer damit umgehen.«
»Mich machen schon die Erinnerungen daran fertig.« Ich tränke ein Stück Mullverband mit der nach Alkohol und Lavendel riechenden Lösung und tupfe vorsichtig über die Verletzungen. »Verrate mir deinen Trick. Vielleicht hilft er mir nachträglich.«
»Ich nehme den Schmerz hin.« Er atmet tief ein und aus, bevor er weiterspricht. »Versuchst du, davor zu fliehen, wird er unerträglich.«
»So wie jetzt?« Ich hasse es, ihm wehzutun.
»Nein. Jetzt muss ich nichts hinnehmen.« Er sieht über die Schulter, lächelt. »Ich genieße es.«
»Das Brennen?«
»Deine Zuwendung.« Wieder das tiefe Atmen. »Du behandelst mich sanft. Zeigst mir deine Anteilnahme. Das macht alles viel leichter.« Sein Blick dringt gefährlich nah zu dem Ort in mir, den ich seit Monaten zuschütte. »Auf eine andere Weise als der Doc oder Mr. Wakane, aber ebenfalls sehr wohltuend.«
»Freut mich, wenn es dir gefällt.« Ich wollte nie jemanden berühren. Schon gar keinen Shiva. Jetzt versorge ich Juens Wunden und es fühlt sich an, als wäre es normal.
Ich sollte Liam fragen, ob er einen Assistenten braucht.
»Du hattest nichts davon.« Er klingt, als wäre ich der Verletzte und nicht er. »Nur Angst, Panik und Brutalität. Es ist schwer, unter diesen Bedingungen durchzuhalten.«
»Das habe ich nicht.« Hätte ich durchgehalten, würde ich funktionieren und Joseph und Liam nicht zur Last fallen.
»Du bist immer noch zu streng zu dir.«
Da ist ein so friedlicher Ausdruck in seinem Gesicht.
Es ist schön. Nicht nur, weil es ohne Narben ist. Joseph sagt, kein Shiva dürfte im Gesicht verletzt werden. Selbst in den No-Names wäre das tabu. Ein entstelltes Gesicht würde die Shivas in den Augen der Gäste zu Monstern machen. Das wäre Kassengift.
»Möchtest du mit mir einen Tee trinken?«, fragt Juen schüchtern.
»Jetzt?«
»Nein.« Er lacht mich aus. Aber so charmant, dass es mich nicht kränkt. »Morgen und übermorgen habe ich frei. Wir könnten uns ein bisschen unterhalten. Das würde dir helfen und mich glücklich machen.«
Wow, was für ein hinreißender Augenaufschlag.
»Gerne.« In meinem Magen kribbelt es. Fühlt sich nicht schlecht an. Ein bisschen Nervosität, ein bisschen mehr Vorfreude.
»Wir sollten uns anfreunden«, stellt er fest. »Wir passen zusammen, weil wir beide berühmt sind. Du bist der Junge aus Zimmer drei und ich der beste Shiva in Kowloon. Die Leute werden unsere Namen in einem Atemzug nennen.«
»Mir wäre es lieber, die Leute ließen mich in Ruhe.« Die Mullbinde ist dunkelrot. Nehme eine neue, wiederhole die Tortur, die für Juen keine zu sein scheint.
»Das ist eine vollkommen falsche Grundhaltung.« Er schnalzt, was nach purem Tadel klingt. »Du bist
berühmt. Damit kannst du arbeiten.«
»Ich will keine Arbeit, die irgendetwas mit Zimmer drei zu tun hat.«
»Du versorgst mich und ich war in Zimmer drei.«
Wie bekommt er trotz seiner schmalen Augen diesen Rehblick hin?
»Das ist Arbeit.«
Im Moment fühlt es sich nach Vergnügen an.
»Wie weit bist du?«
»Fertig.« Jedenfalls mit dem Reinigen der Wunden. »Noch der Verband und du hast es geschafft.« Ob Liam die ein oder andere genäht hätte?
»Du brauchst mir keinen anlegen. Das heilt so.«
»Machst du Witze?«
»Nein«, sagt er entschieden. »Ich schlafe ohnehin meistens auf dem Bauch. Aber Mr. O’Farrell schmiert mir immer eine Salbe drauf. Sie stinkt, aber sie sorgt dafür, dass es sehr schnell heilt.«
»Weißt du, welche es ist?« In dem Regal stehen lediglich Schraubgläser mit chinesischen Schriftzeichen. Ich werde mich durchschnüffeln müssen.
»Sie ist schwarz.«
»Schwarz?« Gut. Davon gibt es die meisten Gläser. Die Paste darin sieht gleich aus, die Zeichen auf dem Etikett ebenfalls. »Brennt die auch?«
»Ziemlich.« Er rümpft die Nase.
Niedlich.
»Aber wenn du sie sehr behutsam aufträgst, so, dass die Risse dabei nicht klaffen, bin ich dir dankbar.«
Dass die Risse nicht klaffen. Oh Mann!
Beim Aufschrauben fällt mir fast der Deckel aus der Hand.
»Ich will dir das nicht antun.« Die Paste stinkt nach Teer. Ich halte es ihm unter die Nase. »Was so riecht, kann unmöglich gut sein.«
»Doch, ist es.« Eine lässige Geste scheucht mich an die Arbeit. »Apotheker Han ist ein kluger Mann und Mr. O’Farrell ein hervorragender Arzt. Beide befürworten diese Salbe. Vertrau ihnen.«
»Wie du meinst.« Ich tupfe ihm das zähe Zeug vorsichtig auf die Verletzungen.
»Das machst du sehr gut.« Erneut atmet er tief. »Hilfst du mir beim nächsten Mal wieder?«
Da ist eine Wärme in mir. Ganz plötzlich. »Wann wird das sein?« So eine Tortur kann er sich unmöglich jede Nacht zumuten.
»Erst, wenn es etwas verheilt ist. Die Gäste mögen keine blutenden Wunden, die von ihren Vorgängern stammen.«
»Was du durchmachst, ist furchtbar. Wie hältst du es aus?«
»Ich mache es nicht umsonst.«
»Kein Geld der Welt wäre mir das wert.«
»Es ist nicht bloß das Geld, mit dem ich meine Familie unterstützen kann, es ist vor allem der Ruhm.«
»Der Ruhm?« Mir war nicht bewusst, dass es ruhmreich ist, sich zu prostituieren.
»In Kowloon kennt jeder meinen Namen und jeder weiß, dass ich in dem berühmten Begging Monk arbeite, und zwar nicht als normaler Shiva, der sich einfach nur durchvögeln lässt, sondern in der Oase.« Er strafft die Schultern, zuckt nicht einmal zusammen, als ein Riss deswegen klafft. »Wäre ich ein gewöhnlicher Shiva, wäre ich ebenso gesichtslos wie alle anderen. Niemand würde mein Schicksal interessieren. Aber so kümmern sich zwei der bedeutendsten Männer um mich.« Seine Augen leuchten heller als die Glühlampe. »Mr. Wakane und Mr. O’Farrell. Das ist eine große Ehre.«
Ich mag sein Lächeln. Ich mag es wirklich.
»Außerdem versüßt du mir das Furchtbare gerade.«
»Mach ich gern.« Seit ich in Kowloon strandete, war ich derjenige, der ständig Hilfe brauchte. Fühlt sich gut an, zur Abwechslung nützlich zu sein.
Endlich ist der letzte Riss zugeschmiert.
Juen wird alles einsauen, was er berührt.
Ich schneide ein paar Streifen von dem Verband, pappe sie vorsichtig auf die Wunden. Sie kleben wie angeleimt.
»Hält. Und frische Luft kommt ebenfalls noch dran.«
»Danke.« Er setzt sich wieder nach vorn, sieht eine Weile zu seinen Füßen. »Er hat mich nicht gevögelt«, sagt er schließlich. »Der Gast, weißt du?«
»Ich dachte, du bist stolz darauf, kein normaler Shiva zu sein.«
»Bin ich. Aber seine Gründe waren kränkend. Er meinte, er würde ein rattiges Schlitzauge wie mich niemals ficken. Darauf könnte ich lange warten. Stattdessen hat er mir ins Gesicht gespritzt, was okay ist.«
Seiner Miene nach eher nicht.
»Das machen einige. Aber die Art, wie er mit mir geredet hat, war anders. Es gehörte nicht zum Spiel. Keine der Beleidigungen. Ich höre das mittlerweile raus.«
Ob er es mag, wenn ich seine Hand halte? Mir tut so etwas gut. Jedenfalls dann, wenn es Liam macht. Außerdem ist heute mein verwegener Tag.
Ich setzte mich neben ihn, schließe die Finger um seine. Es fühlt sich richtig an und er zuckt nicht zurück. Dann wird es auch richtig sein.
»Dieser Mann hat alles ernst gemeint.« Sein Blick ruht auf unseren Händen. »Er verachtet mich und sagte es mir jedes Mal, wenn er mich verletzte. Abschaum wie ich hätte kein besseres Leben verdient. Insgeheim wüsste ich das, deshalb würde ich in Dreckslöchern wie dem Monk arbeiten und mich für Geld quälen lassen.«
Das Monk ist kein Drecksloch. Für Kowloons Verhältnisse ist es ein Palast. Die angeschlagenen Tassen und der kaputte Aufzug bedeuten in einem Bezirk wie diesem rein gar nichts.
»Danach fiel er ins Schema. Er pinkelte auf meine Wunden und erwartete, dass ich mich vor Schmerz krümme, doch ich tat es nicht.«
Da ist er wieder, der Stolz. Er sieht mich aus den dunklen Augen an und ich kann nicht anders, als Juen dafür zu bewundern. Als Jones in meine Wunden pisste, brüllte ich wie am Spieß.
»Ich halte viel mehr aus, weißt du? Aber dieser Mann schien nicht zu bemerken, dass er mich an ein bisschen aufgeplatzte Haut und Pisse verschwendete. Selbst Bao wäre damit zurechtgekommen und der steckt wirklich gar nichts weg.«
Er ist der Held. Nicht ich. Er und jeder andere, der in den Zimmern der Oase arbeitet.
»Sein Abscheu verletzte mich. So sehr, dass mir zwischendrin schlecht wurde. Das ist mir bisher nur einmal passiert. Aber mit mehr Schmerzen. Mr. Wakane musste mich retten.« Seine Finger schließen sich fester um meine. »Er schlug einen der Männer nieder und Viktor hat sie dann rausgeschmissen. Danach hat mich Mr. Wakane geküsst. Ganz lang und ich durfte ihn zurückküssen.«
So wie seine Augen leuchten, muss es ein wundervoller Kuss gewesen sein.
»Wirst du gern geküsst?« Seine Lippen sehen weich aus.
»Ja. Sehr.« Er neigt sich näher zu mir. »Hattest du nach der Nacht in der Oase Sex?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht kann.«
»Du fürchtest dich davor, dich auszuliefern.« Er lässt meine Hand los, legt sie mir aufs Bein. »Du hast Angst, die Kontrolle zu verlieren. Das passiert, wenn man unvorbereitet diese Art Spiele spielen muss.«
»Geht es weg?«
»Manchmal.«
Seine Hand ist so warm.
»Ich werde gern berührt«, sagt er leise. »Vor allem zärtlich.« Mit dem Finger zieht er Kreise auf meinem Oberschenkel. »Magst du das hier? Wenn nicht, höre ich auf.«
»Nein. Mach weiter.« Ich mag es. Sogar sehr.
»Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder entscheidest du dich für den Weg, den Mr. Wakane gegangen ist, oder du folgst meinem.«
»Ich will stark sein.« Ich will den Phönix. »So wie er.«
»Hältst du mich für schwach?«
»Nein.« Wie könnte ich?
»Uns unterscheidet etwas von Leuten wie Mr. Wakane.«
»Und was?«
»Hingabe.«
Hiato verfolgt mich immer noch.
»Wir geben, sie nehmen.« Er dreht sich zu mir, legt mir die Hand auf die Brust. »Wann klopft dein Herz schneller? Wenn du daran denkst, dich jemandem hinzugeben oder wenn du dir vorstellst, jemanden zu nehmen?«
»Irgendjemand?« Dann würde mein Herz vor Panik rasen.
»Jemand, den du magst und dem du vertraust.«
Ich schließe die Augen, falle in den Moment, als ich zwischen Liam und Joseph lag. Liam hat mich geküsst und Joseph hat mir den ersten Blowjob meines Lebens verpasst. Ich musste nichts geben, nichts machen. Habe nur bekommen. Es war unglaublich.
»Das funktioniert bei mir nicht.« Warum wundert mich das nicht? »Als ich mich hingab, bekam ich so viel, dass ich nicht mehr wusste wohin mit mir.«
»Ja, so ist es richtig.« Juen lacht leise. »Versuche es weiter.« Er drückt seine Hand stärker gegen mich.
Der Lagerschuppen. Liam hielt mich fest, während mich Joseph aus der Verzweiflung fickte.
Spüre meinen Herzschlag im gesamten Körper.
»Das ist es!«
Dieses unglaubliche Lächeln. Als hätte er nie Schreckliches in seinem Leben erfahren.
»Du weißt, was du willst und was dich glücklich macht.« Juen tippt mir energisch auf die Brust. »Trau dich, den Schritt dahin zu gehen.«
»Das ist das Problem.«
»Nein, ist es nicht. Dieser Mann in Zimmer drei ist einfach nur ein erbärmlicher Spieler gewesen.«
Fast hätte ich gelacht.
»Ich kenne viele gute. Die meisten meiner Stammkunden zum Beispiel. Sie wissen ganz genau, wie es funktioniert und halten sich an die Regeln.«
»Es gibt Regeln?«
»Die des Gebens und Nehmens.« Erneut zieht er mit dem Finger Kreise auf meinem Bein. »Ich gebe ihnen meine Schmerzbereitschaft und sie danken es mir mit Respekt und Zuwendung.«
»Aber sie machen schreckliche Dinge mit dir.« Was für eine kranke Art Zuwendung soll das sein?
»Sicher. Dafür haben sie bezahlt«, plaudert Juen, als wäre das völlig okay. »Sie schlüpfen in ihre Rolle, sind grausam, hämisch oder widerlich zu mir, je nachdem, was sie brauchen, aber in den Pausen werden sie wieder sie selbst und fragen mich, ob ich mit ihnen etwas trinken oder eine Zigarette rauchen will. Manche bedanken sich bei mir. Sogar mit einer Verbeugung. Sie lassen mich wissen, dass ich in diesen Momenten wichtig für sie bin. Damit machen sie mich zu etwas Besonderem.« Er nickt zur Tür, verzieht das Gesicht. »Der Mann mit der falschen Hand weiß nicht, dass er ein Stück Scheiße ist. Stattdessen hält er mich dafür.«
Jetzt muss ich wirklich lachen.
»Du glaubst mir nicht?«, fragt er in gespielter Empörung.
»Doch. Jedes Wort.«
»Das ist gut.« Er rückt näher zu mir. »Ich kann dir nicht geben, was dein Herz schneller schlagen lässt. Aber wenn du willst, kannst du mich küssen.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« Mein Herz schlägt trotzdem einen Takt flotter. »Es liegt nicht an dir.«
»Versuch es. Vielleicht magst du es.« Sacht legt er seine Lippen auf meine.
Bin zu überrumpelt, um zurückzuzucken.
»Und?«, haucht er. »Magst du es?«
»Ja.« Sehr.
»Möchtest du wissen, wie ich schmecke?«
Ich nicke, will mehr von diesen weichen Lippen.
Seine Zungenspitze tastete sich nach vorn, schiebt sich in meinen Mund.
Keine Panik, keine Atemnot. Hätte Joseph das mit mir gemacht, wäre ich in Ohnmacht gefallen. Entweder ist heute tatsächlich der verwegendste Tag seit Monaten, oder bei Juen funktioniere ich auf einem anderen Level.
»Und, schmecke ich dir?«, wispert er und lässt meinen Mund allein.
»Ja.« Nach etwas, das ich lange probieren will, ohne es aufzuessen.
Ich streichle ihm über den Nacken, küsse ihn noch einmal. Seine nachgiebigen Lippen, seine vorwitzige Zungenspitze. Warm, feucht, lecker. Mir wird ein bisschen schwindelig, aber schön ist es trotzdem.
Ob es ihn stört, wenn wir das bis zum Morgen machen?
Nach einer Weile löst er sich aus dem Kuss.
»Bitte berühre mich dabei.« Seine Augen glänzen. »Oder willst du die Narben nicht anfassen?«
»Ich will bloß meine Narben nicht anfassen.«
»Du schämst dich dafür.«
»Ich hasse sie.«
»Auf meine bin ich stolz.« Er nimmt meine Hand, legt sie sich auf den Oberschenkel. »Fühlst du sie?«
Allerdings. Rau, aufgeworfen, viel zu viele. Will sie trotzdem streicheln. Wandere unter den Stoff der Shorts, küsse Juen dabei.
Das leise Keuchen an meinen Lippen prickelt mir bis in den Bauch.
Schiebe die Hand in Juens weites Hosenbein.
Er ist hart.
Nur weil ich ihn streichle?
Ich werde es nicht einmal dann, wenn ich Joseph und Liam beim Sex zusehe, obwohl dabei die Luft brennt. Ich nehme die Glut wahr, aber sie lässt mich aus. Vielleicht will sie nicht zu jemandem, der so feige ist wie ich.
Unter meinen Fingerspitzen sind ähnliche Unebenheiten wie auf seinem Schenkel.
»Narben?«
Er nickt, küsst mich weiter.
»Zeigst du sie mir?«
Ohne mit dem Küssen aufzuhören, zieht er sich die Short hinunter.
Helle, knubbelige Streifen.
Er ist stolz darauf.
Ich streichle darüber.
Sein Schwanz zuckt.
Ich streichle die Narben, den Schaft, das Zucken, Juen. Streichle immer mehr, küsse immer mehr.
Juen seufzt so dankbar.
Wie kann man einem Jungen wie ihm absichtlich wehtun?
»Bitte«, wispert er. »Versüße mir diese Nacht.«
»Ich habe das noch nie bei einem anderen getan.«
»Ist ganz einfach. Mach es wie bei dir.«
Das liegt ebenfalls länger zurück.
Ich rutsche von der Liege, stelle mich zwischen seine Beine. Langsam lasse ich meine Faust über seinen Ständer gleiten.
Juen seufzt ein dermaßen sinnliches Danke
, dass es mir in die Knie fährt.
»Küss mich dabei«, bittet er auf dieselbe Weise. »So hingebungsvoll, als wäre ich dir wichtig.«
»Du bist mir wichtig.« Nicht nur in diesem Moment. Auch morgen, übermorgen, überübermorgen.
Seine Lippen sind so nachgiebig, das meine darin versinken.
In mir beginnt es zu ziehen.
Wie habe ich dieses Gefühl vermisst.
Seine Narben reiben über meine Handfläche. Ich fasse stärker zu, verwöhne ihn schneller.
Juen stöhnt lauter, ich werde noch schneller.
Er beginnt zu keuchen, flüstert etwas, das verrucht und gleichzeitig zärtlich klingt.
Ich verstehe kein Wort, bilde mir ein, meinen Namen zu hören.
»Dean!«
Es war mein Name.
In meiner Faust zuckt es, meine Finger werden nass.
Juen sinkt gegen mich, seufzt hinreißend erschöpft. »Du hast mich glücklich gemacht.«
Bin atemlos wie er. Fühlte mich ewig nicht mehr so lebendig.
»Bitte verzeih meinen Egoismus.« Er zupft ein Papiertuch aus der Packung, reinigt meine Finger. »Ich hätte mich dir anbieten sollen, aber du hast mich so sanft geküsst. Ich wollte nicht damit aufhören.«
»Ich habe es gern gemacht.«
»Weiß ich.« Grinsend zieht er sich die Shorts an, nickt zum Schreibtisch. »Holst du uns die Zigaretten? Wenn uns der Doc versorgt hat, raucht er danach eine mit uns.« Er zuckt die Schultern. »Jedenfalls dann, wenn wir dazu noch in der Lage sind.«
Ich verdränge sämtliche passenden Szenen aus meinem Kopf, hole stattdessen die Zigaretten. Die Packung ist fast leer, dafür steckt ein Feuerzeug darin. Ich halte sie Juen hin, der sich eine herauspickt und zwischen die Lippen schiebt. Statt mir das Feuerzeug abzunehmen, neigt er seinen Kopf näher zu mir.
Alles klar, ich soll sie ihm anzünden. Habe ich auch noch nie gemacht.
Er genießt zwei Züge, bevor er sie mir gibt.
»Nein danke.«
Er hebt die Braue, hält mir das Ding weiter hin.
»Mein Ernst, ich rauche nicht.«
»Du hast das erste Mal einen anderen Mann gewichst.« Ohne mit der Wimper zu zucken, klemmt er mir die Zigarette zwischen die Lippen. »Lass die Lunge einfach aus. Es geht um den gemeinsamen Moment.«
Der Rauch schmeckt garstig und brennt auf der Zunge. Ich puste ihn aus, muss husten, weil ich dämlich genug bin, trotzdem einzuatmen.
Juen nickt zufrieden, übernimmt den Rest selbst.
Mir genügt es, ihn dabei zu beobachten.
Er sieht glücklich aus, als hätte er die Wunden auf seinem Rücken und den widerlichen Mann vergessen.
»Der ehrenwerte Hao Jun reserviert mich manchmal.« Verträumt blickt er einer Rauchwolke hinterher. »Ich liebe es, wenn er sich mit mir eine Zigarette teilt. Vor allem, wenn ihre Glut mich vorher versengte.«
Mich schaudert, was mehr mit Hao Jun als mit verbranntem Fleisch zu tun hat.
»Er ist der beste Spieler, den ich kenne.«
»Besser als Joseph?« Wie komme ich auf die Idee, dass er auf Shivas Zigaretten ausdrückt? Er würde niemals Schwächeren ein Leid zufügen.
Was weiß ich schon von ihm? Nur das, was er mir sagt, und vieles davon macht mir Angst. Außerdem lässt er zu, dass andere Schwächeren Leid zufügen und verdient damit eine Menge Geld.
»Das kann ich dir nicht sagen.« Er streicht mit dem Finger über eine centgroße Narbe am Unterarm. »In der Oase hat er noch keinen von uns bespielt. Aber manchmal nimmt er sich einen Shiva zum Vergnügen.«
»Dich auch?« Da ist ein komischer Stich in meiner Brust.
»Nein.« Er runzelt die Stirn, drückt die Zigarette in einer der drei leeren Kaffeetassen aus. »Was ist? Bringst du mich auf mein Zimmer? Dann glauben mir die anderen, wie wichtig ich dir bin.«
»Du willst damit angeben, dass ich dir einen runtergeholt habe?«
Juen nickt ebenso begeistert wie Mr. Kun, wenn ich ihn frage, ob sein Knie schmerzt.
– Liam –
Nur noch die Straße hinunter. Kann das Monk bereits sehen. Fünf Stockwerke fallen inmitten von zusammengeklebten Flachbauten und Hochhausruinen auf. Zumindest hier. Drüben in Sham Shui Po ist das anders. Die haben es geschafft, ganze Wohnburgen aus Schrott und Betonbruchstücken zu errichten. Ich fürchte den Tag, an dem sie einstürzen und hunderte von Menschen unter sich begraben.
Rodja lehnt rauchend neben dem von mir gemalten Bettelmönch. Seit ihn Abraham wegen der Katastrophe in Zimmer drei niedergeschlagen hat, ist seine Nase doppelt so breit.
Als er mich kommen sieht, strafft er die Schultern. »Sie waren heute lange unterwegs.«
»Länger als nötig.« Mir sind auf den letzten Kilometern die Augen zugefallen und als ich endlich klar im Kopf wurde, fand ich mich im Hafen an den Piers wieder.
Die Geschichte ist zu peinlich, um sie Rodja auf die Nase zu binden.
»Harte Nacht?«, fragt er vorsichtig.
»Eine der härtesten meines Lebens.«
»Sir, so sehen Sie auch aus.«
»Herzlichen Dank.« Jede Wette, ich fühle mich schlimmer, als mein Äußeres erahnen lässt.
»Sie brauchen eine Mütze Schlaf.«
»Ist nicht dein Erst.« Bei dem Gedanken, meinen aus dem letzten Loch pfeifenden Körper in den fünften Stock zu schleppen, wird mir schwindelig, aber um den maroden Aufzug zu benutzen, fehlt es mir an dem Quäntchen Todessehnsucht.
»Alles ruhig?« Lediglich eine Taktik, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.
»Alles ruhig.«
»Niemand in der Oase?«
»Nicht mehr. Juen war der Letzte und anscheinend ging alles gut.«
Gott sei dank. Eine weitere Tragödie hätte mir den Rest gegeben.
»Ist Hao Jun zufällig da?« Er beehrt das Monk hin und wieder, um mit Joseph zu reden. Über die politische Lage, die Konkurrenz, das Wetter oder weiß der Teufel was. Gönnt er sich einen Shiva, geht das aufs Haus. Eine Gefälligkeit dafür, dass das Begging Monk zu den wenigen freien Einrichtungen Kowloons gehört. Keine Schutzgelder, keine Überfälle, keine sonstigen Erpressungen.
Hao Jun scheint einen Narren an Joseph gefressen zu haben.
So wie ich. Seit dem ersten Augenblick bin ich diesem Mann verfallen. Ob er mich in eiskalten Zorn oder glühende Leidenschaft taucht, spielt dabei keine Rolle. Mein Leben hängt an seinem. In mehr als einer Beziehung.
»Nein, er nicht«, unterbricht Rodja mein gedankliches Schmachten. »Aber jede Menge Stammgäste, die den Boss in Beschlag nehmen.« Sein Grinsen drückt nur teilweise Bedauern aus. »Der Schulz hat es bis jetzt ausgehalten.«
»Schulz?« Der Mann schafft es, seine Mitmenschen in Grund und Boden zu reden. »In meinem eigenen Interesse werde ich Mr. Wakane von ihm erlösen.« Vielleicht habe ich dann etwas bei ihm gut.
Rodja nickt mir zu, wünscht mir eine schöne Nacht.
Scherzkeks.
Die Idee mit dem gnädigen, alles verdrängenden Rausch nistet sich gefährlich tief in mir ein, während ich die Schwingtür aufdrücke und Josephs Reich betrete.
Ein Rausch. Da sitzt er. Umgeben von belanglosen Männern, die in seinem Schatten zu Nichts verblassen. Einen Drink in der Hand, ein knapp an Arroganz vorbeischrammendes Lächeln auf den sinnlichsten Lippen, die ich jemals küssen durfte. Das elfenbeinfarbene Hemd steht weit genug offen, um in mir die Sehnsucht zu wecken, über die haarlose Bronzehaut seiner Brust zu lecken. Die Ärmel sind bis knapp unter die Ellbogen hochgekrempelt und geben die sehnigen Unterarme preis.
Bilde mir den Duft der Kirschblüten ein, wie er sich mit Josephs Schweiß mischt. Der Gedanke weckt ein Pulsieren in meiner Mitte, das ich mir in diesem angekratzten Zustand nicht zugetraut hätte.
Ein paar Strähnen haben sich aus seinem Haarknoten gelöst. Sie verführen meine Finger, hineinzugreifen. Das letzte Mal liegt zu lang zurück. Es ist meine Schuld. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf, zu viel Kaffee, um aus dem Bett zu kommen, zu viel Whiskey, um hineinzufinden.
Zu viele Sorgen. Nicht zuletzt um Dean.
Zu viel Streit. Ebenfalls wegen Dean.
Und Nächte wie diese.
Ich vermisse Josephs glatte Haut unter meinen Fingerspitzen, seine dunklen, harten Nippel zwischen meinen Lippen, seinen bildschönen Schwanz, seine heiße Enge. Sie macht mich wahnsinnig, weil ich weiß, dass ich der Einzige bin, der sie genießen darf. Dafür habe ich einen entbehrungsreichen Weg beschritten, der noch lange nicht hinter mir liegt.
Ich will in diesen Mann. Mir egal, ob er mich dabei oder danach ersticht.
Sein Blick trifft meinen.
Härte. Nur für einen Wimpernschlag. Dann Erstaunen, dann ein Lächeln. Es lässt mein Hirn aus, flutet mein Herz und senkt sich hinab in meinen Unterleib.
Ich will ihn. So sehr, dass es mir den Atem verschlägt.
Josephs Miene wechselt erneut in den Spott-gepaart-mit-Arroganz-Modus. Wie zufällig leckt er sich über die Lippen, ebenso zufällig lehnt er sich zurück, lässt seine Schenkel weiter auseinanderklappen.
Jedem außer mir muss es vorkommen, als hätte er sich lediglich bequemer hingesetzt. Aber er spielt mit mir. Wie immer, wenn wir nicht allein sind. Er ist der Boss. Er hat das Sagen. Er lässt mich zappeln, so oft und so lange er will. Undenkbar, zu ihm zu gehen und ihn zur Begrüßung zu küssen oder zu umarmen. Er würde mir zuerst die Lippen abbeißen und im Anschluss die Arme auskugeln.
Gesicht wahren. Unter allen Umständen. Erst hinter den verschlossenen Türen seines Appartements zeigt er mir, was er wirklich von mir will.
Seine Hand gleitet lässig zwischen die Beine, macht das, was viele Männerhände tun: Den Schwanz richten.
Auch kein Zufall. So etwas existiert bei Joseph Wakane nicht. Er arrangiert jedes Detail. Weil er zu sehr Japaner ist, um auf diese Art Spiel zu verzichten. Das englische Erbe seines Vaters zeigt sich nur in der weniger breiten Nase und den natürlichen Lidfalten.
Josephs Blick fordert mich auf, gefälligst zu ihm zu kommen und ihn vor dem sinnfreien Gerede zu retten.
Ich liebe den Glanz in seinen Augen. Eine Mischung aus Zorn, Begierde und Jagdtrieb. Mit jedem meiner Schritte nimmt er zu.
Höflich begrüße ich die Gäste, bevor ich mich mit ernster Miene zu ihm hinabbeuge. Dazu muss ich nicht heucheln. Was ich heute sah, wird sich in mein Gesicht graben wie die Schrecken davor.
»Bisher war meine Nacht beschissen.« Meine Lippen streifen sein Ohr. »Komm mit hoch und ändere das.« Mein Flüstern klingt, als hätte ich es dringend nötig. Habe ich auch, und wenn ich in ihm ins Koma falle.
Mit einer Handvoll hingeworfener Floskeln, er müsste etwas Wichitges erledigen, verabschiedet er sich und schlendert mit mir Richtung Treppenhaus. Kaum fällt die Tür hinter uns zu, drückt er mich mit dem Rücken an die Wand. Bevor ich protestieren kann, presst er seinen Unterarm gegen meine Kehle.
»Erwische ich dich noch einmal allein in dieser Drecksgegend, mache ich dich fertig.« Seine Augen lodern vor Zorn. »Dass wir ab und zu miteinander ficken, gibt dir nicht das Recht, dich meinen Anweisungen zu widersetzen.«
Ich würde ihm gern etwas Passendes entgegenschleudern. Leider bekomme ich bloß ein Krächzen zustande.
»Du leichtsinniger irischer Idiot!« Sein Fauchen duftet nach Whiskey und dem, was ich küssen möchte. »Willst du da draußen draufgehen?«
Nicht nötig. Der Tod hockt keinen Schritt von mir entfernt und bedient sich clevererweise Josephs Ellbogen. Seelenruhig wartet er darauf, dass ich ersticke.
»Ich lege dich in Ketten, wenn du noch einen Fuß in die Slums setzt!« Endlich lässt er von mir ab.
Sinke auf die Knie, ringe nach Luft. Husten und Würgen werden eins. Hoffentlich bleibt mein Mageninhalt da, wo er hingehört.
Kein Problem. Ich habe nichts im Magen.
Breitbeinig steht er vor mir und betrachtet mein Elend mit einem Ausdruck, den ich ebenso wenig einordnen kann wie diese verdammte Situation.
»Du willst mich in Ketten legen?« Ich hieve mich auf die Beine, huste, bis ich weiterreden kann. »Ist mir klar, dass dir das gefallen würde, aber das kannst du vergessen. Ich bin weder dein Hund noch einer deiner Shivas.«
»Dann sag mir, was ich tun muss, um dich zur Vernunft zu bringen.« Dieses Mal packt er mich am Kragen, doch der Aufprall Rücken an Wand ist ebenso hart. »Sag es mir!«
»Fick mich.« Die Worte kommen aus meinem Mund, als hätten sie Ewigkeiten auf die Gelegenheit gewartet. »Bitte, nimm mich mit in dein Bett und fick mich, bis ich keinen Laut mehr von mir gebe.« Der Druck unter meinen Lidern wird zu einem Brennen.
»Liam?«
Er darf mich nicht so ansehen. Das macht alles schlimmer. Ich stehe auch so kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Gib es zu.« Zwinge mir ein Grinsen ins Gesicht. »Du wünschst es dir schon lange und es wäre ein echter Triumph für dich.« Hoffentlich glaubt er mir die Kaltschnäuzigkeit.
»Was ist passiert?«
Nein, tut er nicht.
Ich erwidere seinen Sorgenblick mit all der Abgebrühtheit, die ich aufzubringen noch im Stande bin: »Was ist? Keine Lust auf meinen jungfräulichen Arsch?«
»Ist das dein Ernst?«
»Worauf du dich verlassen kannst.« Bin kaum fähig, mich auf den Beinen zu halten. Mir fehlt die Kraft, ihn unter mich zu zwingen, und widerstandslos wird er sich mir nach dieser Nummer keinesfalls hingeben. Aber ohne den hirnschmelzenden Sex mit ihm überstehe ich die verfluchte Nacht nicht. »Mach mit mir, was immer du willst.« Mir ist egal, ob ich mein Gesicht verliere oder ob er es in die nächste Tonne tritt. Ich bin Ire, kein Japaner. Was interessiert mich mein Gesicht?
Das Erstaunen weicht aus seinem Blick. Was zurückbleibt, lässt mich schaudern.
Er presst mich an die Wand, verschlingt mich.
Gott ja! Genau so.
Er leckt mir seinen Geschmack in den Mund, beißt mir die Erinnerung an all das in die Lippen, was ich erleben will.
Mir rutscht die Tasche aus der Hand. Josephs Küsse machen mich fertig. Schnappe nach Luft, kriege sie kaum rein, noch weniger raus.
Verdammtes Smogasthma.
Er fischt den Sprayer aus meiner Hosentasche, tauscht seine Lippen gegen das Mundstück. »In deinem Alter solltest du dich nicht mehr übernehmen.«
Mistkerl.
Er sprüht mir das Aerosol in den Mund, saugt dabei an meinem Kehlkopf.
Wie soll ich das Zeug in der Lunge halten, wenn ich stöhnen muss?
Er greift mir zwischen die Beine, massiert mit einem kehligen Knurren mein bestes Stück.
Er liebt es und ich weiß es. Weil sich seine Pupillen ins Unendliche ausdehnen, wenn er es betrachtet, weil er hart wird, wenn er es berührt, weil er auf diese unglaublich tiefe, sinnliche Weise stöhnt, wenn er sich draufsetzt und es zwingt, viel zu schnell in ihn zu gleiten.
Während es unter seinen Zuwendungen wächst, sehe ich ihm in die Augen und lasse ihn an meinen Fantasien teilhaben.
Ein Gefühl, als fiele ich in Lava. Ich bin krank, dass ich es genieße.
– Joseph –
»Danke für die Rettung.« Liam nimmt mir den Sprayer ab, steckt ihn zurück in seine Tasche. »Ist eigentlich mein Part.« Atemlos lehnt er den Hinterkopf an die Wand.
»Heute nicht mehr.« Die Nacht ist fast vorbei. Ich weiß nicht, was sie ihm angetan hat, aber es war zu viel für ihn. Diesen verlorenen Ausdruck sah ich lange nicht in den eisblauen Augen.
Er braucht eine Pause doch sein Blick bittet mich nicht um Ruhe. Sein großer, wundervoller Schwanz ebenfalls nicht.
Ich liebe den Anblick, wenn seine Hose im Schritt spannt. Es genügt ein fester Griff und Liam stöhnt so tief, dass mir seine Gesundheit egal wird.
»Wir nehmen den Fahrstuhl.« Die Nacht hat ihn eine Menge Kraft gekostet. Der letzte Rest gehört mir.
»Nein.« Er presst meine Hand fester gegen seine Mitte. »Ich hänge an meinem Leben und gerade fühlt es sich wieder freundlicher an.«
»Dann solltest du so schnell wie möglich in mein Bett kommen, sonst garantiere ich dir für nichts.« Er hat sich mir angeboten. Der Gedanke versengt mein Inneres.
Ich dränge ihn in die Kabine, widme mich erneut seiner beeindruckenden Männlichkeit. Sie in mir zu fühlen, den Dehnungsschmerz zu genießen …
Nicht heute.
Liam lehnt sich gegen mich, fasst mir ins Haar. »Los, entscheide über Leben und Tod.« Seine Lippen verwöhnen meinen Hals. »Wenn wir heil oben ankommen, gehöre ich dir.«
Ob ihm klar ist, was er sagt?
Ich drücke den obersten Knopf, ertrage das Ruckeln und Knarren.
Nervtötend langsam quält sich der Aufzug hinauf. Noch länger dauert es, bis sich die Tür einen Spalt öffnet. Für den Rest muss ich nachhelfen.
Liam sieht mir zu, wie ich das Ding aufschiebe. »Bitte lass mich alles vergessen, was mit Tod und Schmerz zu tun hat.«
Resignation. In seiner Stimme, in seinen Augen.
Dieses Gefühl ist Gift für ihn. Wegen ihm verließ er Hongkong Island. Wegen ihm tauschte er Sicherheit und Wohlstand gegen Dreck und Chaos.
»Du musst mich um gar nichts bitten.« Ich ziehe ihn aus der Kabine, halte ihn in meinen Armen. »Alles, was du brauchst, werde ich dir geben.« Nicht einmal mein Leben schließe ich aus.
Der Gedanke verwirrt mich nur einen Atemzug lang.
Er neigt den Kopf, lächelt unverschämt. »Dich.« Seine Hand schiebt sich unter mein Hemd. »Ohne diese teuren Klamotten.«
Keinen Atemzug später liegt es auf dem Boden.
»Genieße diese Nacht.« Er drängt mich an die Wand, krallt sich in meine Brustmuskulatur. »Vielleicht ist es meine letzte.« Seine Lippen schließen sich schmerzhaft fest um meine Nippel.
Seine Bisse, sein hartes Saugen.
Ich gebe mich seiner verzweifelten Leidenschaft hin. Sie dringt in meinen Unterleib, lässt ihn glühen.
»Wir sollten leise sein«, keucht er heiser und leckt mir über die Kehle. »Ich will Dean nicht wecken.«
»Ich will Laute von dir hören, die ganz Kowloon wecken werden.« Mit fliegenden Fingern gebe ich den Sicherheitscode des Appartements ein.
Liam starrt sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Was ist?« Ich öffne die Tür, führe ihn in meine Privaträume.
Er nimmt meine Hand, betrachtet sie. »Deine Finger, sie waren nie in mir drin.« Zeige- und Mittelfinger verschwinden zwischen seinen Lippen. Er schließt die Augen, saugt an ihnen.
Ich genieße das Gefühl, das er damit in mir weckt, beginne nach einer Weile, seinen Mund zu vögeln.
»Ich will mehr in dir versenken, Liam.«
Er lässt von ihnen ab, streicht mit dem Daumen über meine Unterlippe. »Wasser, Seife und einen Tullamore.« Sein Blick folgt sehnsüchtig der Berührung. »Danach bekommst du mich.«
Ich knöpfe sein Hemd auf, streife es ihm von den Schultern. Ich liebe den Anblick der mit Silber durchzogenen Härchen auf seiner Brust. Lasse meine Finger darüber wandern, bis hinunter zum Hosenbund. Ich öffne auch ihn, doch weiter lässt mich Liam nicht kommen.
»Joseph, es ist mein Ernst.« Er zieht meine Hände von sich. »Ich muss unter die Dusche.«
»Nicht für mich.« Küsse seine Schulter, necke mit der Zungenspitze seine Achsel.
»Gerade für dich.«
Ein sanfter Kuss verwöhnt meine Lippen.
»Lass mich den Dreck dieser beschissenen Nacht von mir waschen.«
»Und wenn ich kein hygieneversessener Japaner wäre?« Endlose Male hat er darüber gespottet.
»Bist du aber.«
Da ist er wieder. Dieser Ausdruck in seinen Augen.
Verloren, ratlos.
Kowloon hat es immer noch nicht geschafft, Liams sanftmütiges Herz zu stählen.
Er tritt einen Schritt zurück, kleidet sich aus. »Denk an den Tullamore.« Mit schweren Schritten geht er ins Badezimmer.
Ich sehe ihm nach, lausche dem Wasserrauschen hinter der Tür.
Wie konnte ich zulassen, dass dieser Mann zum Wichtigsten meines Lebens wird?
Es ist die spröde Art, mit der er mir immer wieder aufs Neue sein Herz anbietet, ohne einen Gedanken an seinen Stolz zu verschwenden. Die irische Halsstarrigkeit, mit der er sich weigert, sich den Bedingungen Kowloons zu beugen. Stattdessen hält er stur an seinen moralischen Werten fest, obwohl er weiß, dass er auf verlorenem Posten kämpft.
Er zwingt sie mir nicht auf, ebenso wenig wie seine Liebe.
Der Tag, an dem ich ihn verliere, darf niemals beginnen.
Meine Hand zittert, während ich ihm den Whiskey eingieße. Ich halte inne, atme ein paar Mal tief ein und aus.
Ich bin Joseph Wakane, Besitzer des erfolgreichsten Klubs Mongkoks, Herr über erstklassige Shivas. Ich werde von meinen Konkurrenten ebenso akzeptiert wie von den Triaden. Mein Wort hat Gewicht, meinen Taten wird vertraut. Ich kann mir Sentimentalität nicht leisten. Ich kann mir Liebe nicht leisten. Alles was ich von Liam erwarten sollte, ist, dass er mir gehört.
Seine Seele ist so frei wie der Wind in seiner kalten Heimat. Selbst wenn ich es könnte, ich würde ihre Flügel niemals brechen.
»Was soll die düstere Miene?« Tropfnass kommt er zu mir, nimmt mir das Glas ab und leert es mit wenigen Schlucken. »Das kränkt mich. Ich dachte, du freust dich über mein Angebot.«
Ich will ihm jede Sorge, jeden schweren Gedanken aus dem Kopf, jeden Schmerz, jede Müdigkeit aus dem Körper vögeln.
Sein Schwanz ist halbsteif, nimmt Form an, während ich seinen Anblick genieße.
Liam breitet die Arme aus, neigt den Kopf. »Mein Wort gilt.« Er stellt sich so dicht vor mich, dass mir seine Spitze gegen den Unterbauch drückt. »Heute Nacht gehöre ich dir. Egal, wie du mich willst.« Langsam sinkt er auf die Knie. »Nutze diese Chance.« Sein Wispern streichelt mich, seine Bartstoppeln kratzen mir Lust unter die Haut. Mit Zunge und Lippen liebkost er meine Hüftknochen, öffnet meine Hose, befreit meinen Schwanz aus seinem Gefängnis. Selbst hier scheut er sich nicht, mir sein unrasiertes Kinn zuzumuten.
Beiße mir auf die Lippen.
»Nein.« Er legt den Kopf in den Nacken. »Lass es mich hören.« Während er mich ansieht, schrammen seine harten Stoppeln über empfindliche Haut.
Versuche, das Ziehen aus mir zu stöhnen. Es gelingt mir nicht.
Er lächelt, bevor er meinen Schaft verschlingt.
Liam kniet vor mir. Nach einem Tag voller Mühen, müde und abgekämpft. Dieser starke, große Mann mit den sanften Händen. Sein Stolz ist ihm egal. Nur nicht sein Herz.
Er hat so viel mehr verdient, als ich ihm geben kann.
»Was willst du zuerst?« Mit einem knurrenden Laut leckt er über meine Spitze. »Meinen Mund oder meinen sexy Arsch?«
Ich nehme ihn an den Schultern, helfe ihm auf die Beine. »Ich werde jeder deiner Körperöffnungen die gebührende Aufmerksamkeit schenken.«
Ich liebe es, wie sich sein Kehlkopf während des Schluckens bewegt.
Rückwärts geht Liam zum Bett, lässt sich darauf nieder.
Ich stelle mich über ihn, schäle mich langsam aus der Jeans.
Er versinkt in meinen Anblick, beginnt, sich über die Erektion zu streichen.
»Sind dir die eigenen Hände lieber als meine?« Auch ich berühre mich. »Dann sollten wir uns mit dieser Spielerei begnügen.« Ziehe die Vorhaut straff zurück, präsentiere ihm die pralle Spitze.
»Du willst mich wahnsinnig machen.« Er lässt den Kopf zurücksinken, doch sein Blick haftet weiterhin dort, wo ich ihn hingelockt habe. »Ich liege vor dir wie ein Stück Sushi, und du bindest dir in Seelenruhe die Serviette um und legst die Stäbchen zurecht.« Er tastet nach dem Ölfläschchen, wirft es mir zu. »Hör auf, grausam zu sein.«
»Ungeduldig?« Vorerst benötige ich kein Öl. Ich lege es beiseite.
Liam runzelt die Stirn. In seinen Blick schleicht sich ein Hauch Misstrauen.
Es ist unnötig.
Ich knie mich vor ihn, beuge mich tief zwischen seine Beine. Langsam und fest lecke ich ihm über den Eingang.
Liam zuckt zusammen.
»Ein Geschenk.« Ich lasse meine Zungenspitze auf dem bebenden Muskel kreisen. »Verschmähe es nicht.« Lausche seinem tiefen Stöhnen, während ich meine Zunge in ihm versenke.
Liam spreizt seine Schenkel weiter, zieht seine Backen für mich auseinander.
Dränge meine Zunge erneut in ihn, lasse sie hinausgleiten, wiederhole es.
Ein Laut verlässt seine Lippen, den ich heute Nacht noch oft hören will.
Ich nehme mir Zeit, verwöhne ihn immer intensiver.
»Joseph!« Er keucht meinen Namen, bis er zu etwas Verheißungsvollem wird.
Noch einmal koste ich diese sensible Stelle, entlocke Liam ein hilfloses Wimmern.
Ich richte mich auf, genieße, was ich sehe.
Die hervortretenden Adern seines Schaftes, der Lusttropfen, der hinabrinnt.
Liams tiefer Atem weitet die ohnehin breite Brust, die Schweißtropfen in den Härchen glitzern wie Silbersplitter. Doch am betörendsten ist der lustverhangene Blick seiner Augen.
»Auf diese Weise wurde ich noch nie berührt.« Er schluckt hart, versucht, seinen Atem zu beruhigen.
»Es war mir ein Vergnügen.« Küsse ihm die Nässe von der samtig glänzenden Spitze. »Sanfte Zärtlichkeit ist ein guter Türöffner.«
Sein Lächeln ist verklärt wie sein Blick, lädt mich ein.
Ich verteile das Öl auf meinen Fingern, massiere seinen Eingang.
Der Duft nach Sandelholz erfüllt die Luft.
Dränge meine Spitze in ihn, lausche seinem Keuchen, während ich mich langsam tiefer schiebe.
Er ist eng, benötigt Zeit.
Es fällt mir schwer, mich zu beherrschen.
Liam verzieht das Gesicht, zieht scharf die Luft ein. »Gib mir einen Moment.« Seine Beine beginnen zu zittern.
Ich streiche an ihnen hinab, schließe die Hand um seinen Schaft. »Stell dir vor, es wären Deans Lippen.«
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Das wäre der Himmel.«
Dean über Liams Mitte gebeugt, der wundervolle Schwanz gleitet wieder und wieder in Deans süßen Mund.
Eine Fantasie.
Ich will sie wahrwerden lassen.
Reize Liams Männlichkeit mit fester Hand, spüre, wie die Härte zurückkehrt. Behutsam dringe ich tiefer in ihn.
»Oh Gott!« Er krallt ich ins Laken, hebt mir sein Becken entgegen. »Fick mir um Himmels willen diese Nacht aus dem Leib!«
Lasse mich in ihn fallen, lausche seinem heiseren Schrei.
Liam presst den Kopf ins Kissen, beißt sich auf die Lippen.
Der Anblick seines Kehlkopfes ist für einen Moment alles, was ich wahrnehme.
Seine Enge drückt mich zusammen, ihre Hitze lässt es in mir pulsieren. Keine Gedanken. Nur der Mann unter mir existiert. Sein Schmerz, seine Bereitschaft, ihn für mich auszuhalten.
Ich lecke ihm über die verkrampften Lippen, bis sie sich für mich öffnen. Alles, was ich für ihn empfinde und nicht sagen kann, küsse ich ihm in den Mund.
Meine Stöße werden tiefer, schneller.
Liams Keuchen klingt nach Lust.
Seine Lider heben sich. Der Blick darunter ist reine Glut.
Ich will ihn. Jetzt.
Lasse alle Rücksicht fahren.
Sein prachtvoller Schwanz wippt im Takt meiner Stöße, beginnt erneut zu tropfen.
Seine Finger in meinen Haaren. Er zieht mich zu sich heran, nimmt meinen Mund ebenso wild wie ich seinen Eingang.
Ich werde in diesem Mann verglühen und es genießen.
– Dean –
Juen sagte, ich hätte ihn glücklich gemacht.
Sein Lächeln geht mir nicht aus dem Sinn. Zum Abschied hat er mir einen zärtlichen Kuss gegeben, bevor er die Tür vor meiner Nase schloss. Dass er dahinter Mingtong haarklein erzählte, was im Sani-Zimmer geschehen ist, bekam ich trotzdem mit.
Wenn das die Runde macht und Joseph erfährt, dass ich bei ihm eine Mimose bin, aber hinter seinem Rücken einem seiner Shivas einen runterhole: Ach du Scheiße!
Endlich, der fünfte Stock. Ich will ins Bett. Noch ein bisschen schlafen, bevor die Nacht vorbei ist.
Liam ist zurück. Sein Stöhnen dringt aus Josephs Appartement.
Anders als sonst. Tiefer, hilfloser.
Ich habe ihnen lange nicht mehr zugesehen. Einfach, weil sie lange nicht mehr miteinander gevögelt haben.
Lege mein Ohr an die Tür. Die Geräusche dahinter klingen so innig. Ich will die beiden nicht stören. Ich sollte ins Bett gehen und schlafen.
Kein Auge würde ich zubekommen.
Nur ein kleiner Blick. Der Tag war etwas Besonderes, also hat er auch einen besonderen Abschluss verdient.
Gebe den Sicherheitscode ein, schleiche auf Zehenspitzen ins Appartement.
Leise fällt die Tür hinter mir ins Schloss.
Ich hätte sie auch zuknallen können. Weder Liam noch Joseph würden es bemerken. Sie sind vollkommen damit beschäftigt, sich gegenseitig in Lust zu ertränken.
Als würden Dämme brechen.
Ihre Erregung füllt das Zimmer wie der Duft nach Sandelholz. Ich spüre sie, als würde sie ein Echo in mir wecken.
Liam geht darin verloren. Seine Laute verraten es. So erleichtert, so erfüllt von Josephs Unerbittlichkeit.
Mich schaudert beim Anblick dieser Wucht. Joseph begräbt Liam darunter.
Das Fallen in die Macht eines anderen. Alles geschehen lassen, bloß da sein und es aushalten. Wie damals, als mich Joseph in der Lagerhalle von einem Delirium ins nächste vögelte. In einem einzigen Moment öffneten sich Himmel und Hölle gleichzeitig.
Verschlungen haben mich beide.
Ich will es wieder.
Hingabe. Fühle das Wort statt es zu denken.
Als hätte mich jemand von innen in ein heißes Bad getaucht. Ein Kribbeln, ein Pulsieren, viel zu intensiv. Meine Shorts verwandelt sich in ein Zelt. Sehe es, kann es nicht glauben. Ich dachte, Marvin Jones hätte mir diese Gefühle weggeprügelt.
Joseph sieht zu mir.
Dieser glühende Blick.
Er stößt dermaßen heftig in Liam, dass mir weich in den Knien wird. Liams heisere Laute sind meine. Sein Schmerz, seine Lust. Beides schmilzt mein Hirn. Spüre Joseph in mir. Wild, kraftvoll.
Die Shorts wird nass, meine Beine geben nach. Taumele aus dem Appartement, um in das andere zu stolpern.
Ziehen in meinen Lenden. Mich anfassen, diesen Schwanz, der endlich wieder mir gehört, zum Spucken bringen.
Oder einfach genießen, dass ich nur halb so tot bin, wie ich dachte.
Lege mich in Liams Bett, rolle mich zusammen.
Josephs Hand in meiner. Meine Lippen auf seiner Haut. Damit hat es begonnen. Bei Meister Hiato. Plötzlich war diese Sehnsucht da, ihm nah zu sein.
Ich weiß, was er von mir erwartet. Keine Ahnung, ob ich es ihm geben kann.
Ein Teil von mir brennt darauf.
Der andere rennt kreischend davon.
– Liam –
Vor meinen Augen verschwimmt die Welt. Sie besteht aus Joseph. Aus nichts anderem. Sein Duft, seine unbändige Kraft, sein auf mich tropfender Schweiß.
Drifte davon.
Seltsam, an einem Ort verloren zu gehen, den ich nicht denken, nur fühlen kann. Aber er ist schön. Schöner, als ich es aushalten werde.
»Liam?«
Meine Lider sind zu schwer.
Keuchend sinkt er auf mir zusammen.
Schlinge die Arme um ihn. Sie zittern.
Joseph leckt mir den Schweiß aus dem Grübchen zwischen den Schlüsselbeinen. Nehme es wahr wie durch ein Mikroskop. Jede einzelne Berührung setzt meinen überstrapazierten Nerven zu. Fühle mich wie ein rohes Ei und dennoch unendlich geborgen.
Langsam gleitet er aus mir heraus, küsst sich bis zu der Pfütze auf meiner Brust, leckt sie ab.
Das Gefühl seiner nassen Zunge auf mir ist zu viel für mich. Bin völlig überreizt.
»Du gehörst mir.« Er nimmt mich an den Handgelenken, drückt sie neben meinem Kopf ins Kissen. »Mir allein.« Sein Griff schmerzt, er ist zu fest. »Weil ich der einzige Mann bin, der dich gefickt hat.«
»Und wenn es nicht so bleibt?« Reine Provokation. Vielleicht rette ich damit den Rest meines Stolzes.
Seine Augen werden sichelschmal. »Achte auf deine Worte, Gaijin.«
Bin zu atemlos, um zu lachen. »Ich bin keiner deiner Shivas.«
»Aber du arbeitest für mich.«
Mit seinem ganzen Gewicht lässt er sich auf mich sinken.
Gott, wie ich das liebe. Scheißegal, dass ich gleich ersticke.
»Du nimmst mein Geld, isst mein Essen, trinkst meinen Kaffee.« Er beißt mir das Grinsen von den Lippen. »Dieser lächerliche Automat hat mich ein Vermögen gekostet. Ich habe ihn nur für dich und deine Koffeinsucht gekauft.« In seinen Augen blitzt es. »Wenn ich es recht bedenke, bist du meine teuerste Anschaffung.«
Dank meiner Honorare kommt das hin.
»Und wenn ich eines Tages gehen will?« Für den Bruchteil einer Sekunde war ich heute so weit.
»Du wirst niemals gehen.« Mit breiter Zunge leckt er mir über die Kehle. »Kowloon hat dich geschluckt. Es wird dich nicht mehr hergeben.«
»Was ist mit dir? Würdest du mich hergeben?« Irgendwann, wenn der Whiskey und der tägliche Anblick von Leid ein Wrack aus mir gemacht haben?
»Was ich besitze, behalte ich.«
Seine Finger in meinen Haaren, seine Lippen auf meinem Mund.
»Sag es«, flüstert er dagegen.
»Was denn?«
Sein Raubkatzenblick lässt mich erneut grinsen.
»Sag, dass du mir gehörst.«
Der Moment, in dem ich dem Teufel meine Seele verkaufe.
Darauf kann er lange warten.
»Du irischer Mistkerl.« Aus dem schmerzhaften Biss in meine Lippen wird ein zärtlicher Kuss.
Einschlafen, aufwachen, Joseph lieben, wieder einschlafen, aufwachen, sich von Joseph lieben lassen. Ein perfektes Leben. Ohne verzweifelte Schreie und Wunden, deren Blut ich nicht stillen kann.
Ein Zimmer weiter schläft Dean. Seine Wunden wird er niemals vergessen.
»Ich muss zu dem Jungen.« Seine Hand in meiner, dann sind seine Albträume nicht ganz so schlimm.
Joseph setzt sich auf, streicht sich die nassgeschwitzten Haare zurück. »Schaffst du es unter die Dusche?«
»Nein.« Ich weiß nicht einmal, wie ich in mein Appartement kommen soll.
»Ich werde dir helfen.« Mit einer beneidenswerten Geschmeidigkeit schwingt er sich aus dem Bett.
Höre dem Wasserplätschern im Badezimmer zu, lasse mich tiefer in die wohlige Trägheit sinken. Kurz vor dem Einschlafen gibt die Matratze nach.
Joseph lächelt mich an, streicht langsam mit dem Frotteetuch zwischen meinen Backen entlang. »Ich hätte sanfter sein sollen.«
»Bist du doch.« Er reinigt mich dermaßen behutsam, dass ich schnurren möchte.
Er beugt sich zu mir hinab, küsst mich. »Danke.«
»Für das hier?« Es war fantastisch. Er hat mich hoch genug fliegen lassen, dass ich alles andere vergessen durfte. »In ein paar Stunden werde ich mein Zugeständnis bereuen.« Spätestens wenn ich versuche, mich zu setzen.
»Zugeständnis?«
Nur er kann dermaßen arrogant die Braue zucken.
»Denkst du etwa, das wird ab jetzt öfter stattfinden?« Vielleicht gelingt es mir, erstaunt zu klingen, vielleicht auch nicht.
Ich taumele aus dem Bett, küsse ihm meinen Dank auf die Lippen.
Meine Tasche?
Er nickt zur Tür.
Sie steht davor wie ein klägliches Hindernis.
Joseph sieht mir nach, wie ich aus dem Zimmer stolpere.
Bloß ein paar Schritte bis zu meinem Appartement.
Dean liegt zusammengerollt im Bett. Ein geprügelter Welpe, der sich in den Schlaf geflüchtet hat.
Mein eben noch leichtgevögeltes Herz wird schwer, dass es durch die Geschossdecken kracht.
Leise lege ich mich neben ihn. Will ihn nicht wecken. Er schläft viel zu wenig. Kaum berührt mein Kopf das Kissen, tastet er nach meiner Hand, schließt die Finger um sie. Sacht fahre ich mit den Lippen darüber. Alles andere ist tabu. Dabei will ich ihn küssen, ihn an mich drücken, seine samtweiche Haut streicheln, seinen Jungmännerschwanz durch meine Faust gleiten lassen, sein Stöhnen hören, wenn es aus ihm herausspritzt.
Geschichte.
Dank einer Nacht in der Oase. Dank eines abgeschnittenen Stromkabels, einer aus dem Handgelenk geschüttelten Entscheidung eines Triadenfürsten, eines sadistischen Konzernchefs und zu viel Fremdpisse in offenen Wunden.
Für die Gesichtslosen ist Dean ein Held.
Für mich ist er ein Junge, den ich liebe und dem ich kein Stück aus seiner privaten Hölle heraushelfen kann.
Kowloon wird ihn verschlingen. Ihn und mich auch. Es wird nichts von uns beiden übriglassen. Wir sind ihm nicht gewachsen. Sind nicht duldsam wie die Shivas, nicht stark und entschlossen wie Joseph.
Man muss hier geboren sein, um überleben zu können.
Bei Tien hat auch das nicht funktioniert.