November 1936
England, London, Mayfair,
Buckingham-Palast
»Autsch«, schrie Elizabeth und zog den Kopf weg.
Margaret versuchte, mit dem Kamm den Knoten aufzulösen, der sich in Elizabeth' Haar gebildet hatte, doch egal, wie energisch sie ans Werk ging, es gelang ihr nicht.
Margaret war auf den Tag genau vier Jahre und vier Monate nach Elizabeth auf die Welt gekommen und hatte mit lautem Geschrei dafür gesorgt, dass sogar die Fledermäuse unterm Dach erfuhren, dass sie an jenem Augusttag das Licht der Welt erblickt hatte. Ein erster Eindruck, der zu dem quirligen Mädchen passte. Margaret war ein wahrer Wirbelwind. Doch das tat nichts zur Sache, denn Elizabeth liebte sie von ganzem Herzen.
»Autsch, das tut weh«, entfuhr es Elizabeth ein weiteres Mal, als Margaret immer heftiger an dem Knoten zerrte.
»Ich bin ja schon fertig«, tönte die Sechsjährige. Rasch griff sie nach dem Handspiegel, der auf der Kommode lag, und reichte ihn Elizabeth.
»Schauen Sie mal, wie Sie aussehen«, plapperte sie.
Elizabeth hob den Spiegel auf Augenhöhe und drehte ihn so, dass sie ihre Haare sehen konnte.
»Auweia.« Blitzschnell verschloss sie ihren Mund mit der Handfläche, damit Margaret es nicht hörte. Ihre Haare standen in alle Richtungen, als würden sie von einem versteckten Magneten angezogen.
Mit dieser Frisur konnte sie unmöglich das Haus verlassen. Doch sie wollte Margarets Freude keinesfalls schmälern. Sie liebte dieses wunderbare Funkeln in den Augen ihrer Schwester. Wenn Margaret in ihrem Element war, konnte man ihr einfach nicht böse sein.
»Und? Sind Sie zufrieden?« Margaret spielte die Rolle der Friseurin perfekt.
»Ja, durchaus. Wie viel bekommen Sie für diese zauberhafte Frisur, Miss?«
»Hmm.« Margaret ging einen Schritt zur Seite und begutachtete erneut Elizabeth' frisch gekämmtes Haar. »Ihr heutiger Besuch geht aufs Haus, aber nur, wenn Sie versprechen, morgen wiederzukommen«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Elizabeth tat ernst. »Wenn das so ist, komme ich morgen Vormittag selbstverständlich noch einmal vorbei.«
Plötzlich sprang die Tür auf und eine weibliche Stimme erklang.
»Hier seid ihr.«
Die Mädchen drehten die Köpfe in Richtung der Tür, wo ihre Mutter stand.
»Lilibet, Margaret Rose. Es ist Zeit aufzubrechen. Onkel David erwartet uns.«
Margaret ließ den Kamm fallen. »Warte kurz, Mummy.«
Sie lief an ihrer Mutter vorbei zu ihrem Zimmer. Kurz darauf kehrte sie mit einer Puppe in den Händen zurück. »Wir sind bereit«, verlautbarte sie mit Blick auf ihre Lieblingspuppe und streckte die kleine Hand der Mutter entgegen.
»Nun … dann wollen wir mal«, sagte die Herzogin und nahm Margaret an die Hand.
Elizabeth folgte den beiden und versuchte unbemerkt, ihre Haare glatt zu streichen. Jedoch ohne Erfolg. Der Knoten ließ sich einfach nicht lösen.
Auf dem Weg nach draußen kamen sie an dem Vorderfenster vorbei, von dem aus sie einst Grandpa England zugewinkt hatte.
Versonnen sah Elizabeth in Richtung Buckingham-Palast. Es war bald ein Jahr her, seit sie sich mit Tränen in den Augen von ihrem Großvater verabschiedet hatte. Sie dachte oft an die gemeinsame Zeit in Bognor zurück. Die Tage an der Küste würden immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen haben.
Margaret lief den Gang entlang. »Schau mal, ich kann fliegen«, rief sie und sprang von einem Bein auf das andere.
Kurz darauf erreichten sie den Buckingham-Palast. Das Schloss hatte sich überhaupt nicht verändert, seit ihr Onkel König war, fand Elizabeth. Alles erweckte den Eindruck, als würde Grandpa England jeden Moment von einem wichtigen Termin zurückkommen.
»Ich empfinde es als unmöglich, meiner Aufgabe als Monarch nachzukommen ohne Wallis an meiner Seite«, hörte Elizabeth die Stimme ihres Onkels. Sie blieb stehen und spinkste durch den Türspalt. Ihr Vater und Onkel David saßen sich in schweren Sesseln gegenüber. Beide rauchten.
»David, Mrs Simpson ist verheiratet. Wie stellst du dir das vor?«, gab Bertie zu bedenken.
»Mag schon sein, aber die Scheidung ist nur noch eine Frage der Zeit«, entgegnete David. »Mir ist bewusst, Bertie, dass das nicht meine erste Affäre mit einer verheirateten Frau ist, aber diesmal ist es anders. Ob du es mir glaubst oder nicht, Wallis ist die eine für mich. Ich will mein Leben mit ihr teilen.«
Das Gespräch klang ernst und beunruhigte Elizabeth.
Schon an seinem ersten Tag als König hatte ihr Onkel das Protokoll gebrochen und die öffentliche Proklamation seines Herrschaftsantritts gemeinsam mit seiner Freundin von einem Fenster des St.-James's-Palastes verfolgt. Elizabeth wusste davon, weil sie ein Gespräch ihrer Eltern aufgeschnappt hatte. Danach hatte sie lange über das Gehörte nachgedacht.
Für sie stand fest, dass ihr Onkel sich verändert hatte, seit er König war. Zwar konnte sie nicht sagen, was es war, aber sie spürte, dass ihm etwas auf der Seele lag. Wie sie, wenn mit ihrem Pony oder den Hunden etwas nicht stimmte und sie sich sorgte, schien er ständig zu grübeln. Dieses Gefühl der Unruhe spürte sie auch jetzt, während sie ihn regelrecht in dem Sessel versinken sah.
»Lilibet, jetzt komm endlich.« Margaret war vorgelaufen und kam nun zurück. Mit in die Hüften gestemmten Händen stellte sie sich vor ihre Schwester. »Sollen wir Catching Happy Days spielen? Es sind noch genügend Blätter an den Bäumen.«
Elizabeth mochte das Spiel, bei dem sie möglichst viele Blätter fangen mussten, die von den Bäumen fielen. Dabei rannten sie wie die Verrückten um jeden Baum herum. Doch gerade jetzt wäre sie lieber an Ort und Stelle geblieben, um zu erfahren, wie es mit ihrem Onkel und Mrs Simpson weiterginge.
»Warte«, antwortete Elizabeth ausweichend. »Gib mir noch einen Moment.«
»Wie lange dauert ein Moment?«, wollte Margaret wissen.
Elizabeth verzog das Gesicht. Wie sollte sie die Frage beantworten, sodass Margaret zufrieden wäre? Mit ihrer Schwester wurde es nie langweilig, was allerdings im Umkehrschluss bedeutete, dass es oft unmöglich war, eine ruhige Minute für sich zu haben.
»Ich mache dir einen Vorschlag. Was hältst du davon, wenn wir zuerst eine Runde Verstecken spielen und du dir schon mal ein sicheres Versteck aussuchst?«
»Aber nur, wenn du die Augen zumachst. Sonst macht es keinen richtigen Spaß.«
Elizabeth gab nach. »Natürlich schließe ich die Augen. Ich schummle nicht. Ehrenwort«, versicherte sie.
»Und du suchst mich auch wirklich? Oder sagst du das jetzt nur so?«
Elizabeth beugte sich zu Margaret hinunter. »Habe ich jemals ein Versprechen gebrochen?«
Margaret dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, mir fällt nichts ein.«
»Na siehst du.« Elizabeth richtete sich wieder auf. »Und jetzt lauf.«
»Na gut. Fang schon mal an zu zählen.«
Ehe sie sich's versah, war Margaret aus ihrem Blickfeld verschwunden. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sie nicht auf die Idee kam, sich in einem ganz anderen Teil des Schlosses zu verstecken, dann müsste Elizabeth einen Suchtrupp nach ihr losschicken.
Elizabeth wandte sich wieder dem Türspalt zu.
»David, ich bitte dich, überleg dir diesen Schritt gut«, hörte sie die leise Stimme ihres Vaters.
»Das habe ich bereits getan. Der Premierminister und der Erzbischof sind nach wie vor der Ansicht, es sei politisch und gesellschaftlich inakzeptabel, eine Frau zu heiraten, deren geschiedene Ehemänner noch leben. Und bevor dir die Frage in den Sinn kommt … auch eine morganatische Ehe kommt nicht infrage«, erklärte David. »Somit habe ich keine andere Wahl, als zurückzutreten.«
Elizabeth hörte ihren Vater laut ausatmen. Sie hatte keine Ahnung, was eine morganatische Ehe war, aber das Gespräch schien sowohl ihren Onkel als auch ihren Vater zu bedrücken. Hektisch zogen beide an ihrer Zigarette.
»Möchtest du wirklich ihr dritter Mann werden, David? Du weißt, dass Papa weder mit eurer Affäre einverstanden war, noch hätte er dir jemals seinen Segen gegeben, Mrs Simpson zu heiraten. Und denk bitte an das Wichtigste: Großbritannien zählt auf dich.«
Elizabeth' Onkel schien von den Worten seines Bruders unbeeindruckt. »Meine Entscheidung steht, Bertie. Daran kannst du nichts ändern.«
Für einen kurzen Moment war es so still, dass Elizabeth angst und bange wurde.
»Nun … dann … wünsche ich dir, dass diese schwerwiegende Entscheidung auch später noch die richtige für dich ist«, sagte Bertie. »Ich wünsche dir alles Glück. Ich hoffe, das weißt du.«
Elizabeth stand erstarrt da. Sie konnte nicht einschätzen, ob man schlichtweg als König geboren wurde oder ob man es sich aneignen und jeden Tag ein bisschen mehr lernen konnte, es zu sein. Ihr Onkel hatte zweifelsfrei seine Entscheidung getroffen. Daran war sicher nicht zu rütteln.
Doch wenn er nicht mehr König sein wollte, hieß das, dass ihr Vater es werden müsste. Und dann würde sich gewiss auch Margarets und ihr Leben ändern. Wie genau, wusste Elizabeth nicht, aber sie würde es bald erfahren.