1939/40

England, Norfolk,
Sandringham House,
Royal Lodge,
Schloss Windsor, Schottland,
Aberdeenshire, Birkhall,
Schloss Balmoral

»Wo Elizabeth und Margaret Rose sich befinden, wird unter allen Umständen geheim gehalten.« Bertie lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen durch den Raum. »Der Öffentlichkeit wird lediglich bekanntgegeben, dass die Prinzessinnen sich irgendwo im Land aufhalten. Was meine Töchter anbelangt, verfolge ich eine strikte Linie. Ihnen darf auf keinen Fall etwas zustoßen.«

Seit dem 3. September 1939, 15 Uhr, befand Großbritannien sich im Krieg. Seit diesem Tag war auch die königliche Familie im Ausnahmezustand.

Elizabeth und Margaret erfuhren auf Schloss Balmoral, wo sie gerade mit einigen ihrer Cousinen die Sommerferien verbrachten, vom Kriegseintritt. Bertie erteilte umgehend die Anweisung, die Kinder in eine weniger exponierte Familienresidenz auf dem Anwesen von Balmoral umzusiedeln.

»Das Schloss gilt als ein Hauptziel der Angriffe. Die Mädchen sind dort nicht länger sicher«, mahnte er.

»Wo müssen wir denn jetzt hin?«, wollte Margaret wissen.

Elizabeth unterdrückte die vielen Fragen, die auch sie hatte, und warf ihrer Schwester einen aufmunternden Blick zu. »Stellen wir uns doch vor, es wäre ein Rätsel, eine Art Geheimnis.«

Der spielerische Aspekt dieser Sichtweise lenkte Margaret augenblicklich ab. »Du meinst, wir machen ein Spiel daraus?«

Elizabeth nickte. »Warum nicht. Was glaubst du, wo wir hinkommen? Wie lautet dein Tipp?«

Sie zogen nach Birkhall, das aus mehreren weiß gestrichenen Gebäuden bestand, die miteinander verbunden waren. In Elizabeth' Augen hatte das Anwesen, das in das Tal von Dee eingebettet war, etwas ausgesprochen Romantisches. Sie mochte die Holzverkleidungen und die Karikaturen viktorianischer Politiker, die dort hingen. Doch am besten gefiel ihr der Garten, durch den ein Bach floss. An den Ufern wuchsen im Frühsommer Rhododendren und Goldregen, dessen verschwenderisch gelbe Blüten sie liebte.

»Ich weiß nicht, ob es mir hier gefällt«, schmollte Margaret, während sie sich in ihrem zukünftigen Zimmer umsah. »Ich vermisse Mummy und Papa schrecklich.«

Elizabeth wusste, sie würde sich Mühe geben müssen, Margaret die Mutter zu ersetzen, die sie nun nicht mehr um sich hatten.

»Ach, komm schon, Bud. Umziehen macht doch Spaß. Und jetzt, wo Crawfie wieder bei uns ist, werden wir uns sicher schnell an unser vorübergehendes Zuhause gewöhnen.«

»Crawfie war bestimmt traurig, als sie sich von ihrer Familie verabschieden musste. Sie hat sicher nicht damit gerechnet, dass Mummy sie bittet, früher aus dem Urlaub zurückzukommen. Und alles nur wegen diesem Hitler.«

Elizabeth nickte. »Sich von Menschen zu verabschieden, die man lieb hat, ist nie leicht. Aber sie hat ja uns. Wir passen gut auf sie auf.« Elizabeth setzte sich zu Margaret aufs Bett und nahm ihre Hand. »Komm, jetzt frühstücken wir erst mal, und dann bringen wir unsere Unterrichtsstunden hinter uns.«

Margaret blickte traurig zu Boden. »Ja, gut … Aber wie soll ich mich auf den Unterricht konzentrieren, wenn ich weiß, dass Mummy und Papa jeden Moment etwas zustoßen kann?«

Elizabeth gab sich alle Mühe, ihre eigene Traurigkeit vor Margaret zu verbergen. »Du weißt doch, dass Mummy und Papa immer aufeinander aufpassen, so wie du und ich. Deshalb wird ihnen nichts passieren.«

Margaret ließ sich für den Augenblick beruhigen und folgte Elizabeth in die Küche. Kurz darauf redete sie schon wieder ohne Punkt und Komma und fragte Elizabeth die unmöglichsten Dinge.

Nach dem Frühstück betraten die Schwestern das Unterrichtszimmer.

»Nach getaner Arbeit gönnen wir uns einen Orangensaft und Biskuits«, versprach Crawfie, als sie die Tür hinter den Prinzessinnen schloss.

Elizabeth sah auf den Stapel Zettel auf ihrem Platz. Ihre Lippen öffneten sich zu einem erleichterten Lächeln. Dass weiterhin Unterrichtsmaterial in Recht und Verfassungsgeschichte von Henry Marten, dem Vize-Provost des Eton College, per Post eintrudelte, wertete sie als gutes Zeichen. So schlimm konnte der Krieg doch nicht sein, wenn sie noch immer von ihm unterrichtet wurde.

»Ich habe beschlossen, deinen Lehrplan zu ergänzen«, hatte Elizabeth' Vater ihr bereits Anfang des Jahres erklärt. »Es ist mir wichtig, dass du dich mit unterschiedlichen Themen auseinandersetzt, damit du alles, was in der Welt vor sich geht, verstehst.«

Seit geraumer Zeit legte ihr Vater Wert darauf, Elizabeth bei offiziellen Treffen zunehmend miteinzubeziehen. So hatte er sie während eines Mittagessens neben den amerikanischen Botschafter Joseph P. Kennedy gesetzt. Elizabeth freute sich über das Vertrauen ihres Vaters. Es machte sie stolz, dass er so große Stücke auf sie hielt.

Während Crawfie sich Margarets Französischkenntnissen widmete, machte Elizabeth sich mit Feuereifer an die schriftlichen Ausarbeitungen. Sie konnte es kaum erwarten, die Papiere Marten zur Korrektur zurückzuschicken.

Nach dem Unterricht belohnte Crawfie sie mit den versprochenen Leckereien.

»Crawfie, warum mussten Mummy und Papa zurück? Glauben Sie, die Deutschen werden kommen und sie mitnehmen?«, wollte Margaret wissen, als sie draußen auf einer Bank in der Herbstsonne Platz nahmen.

»Nein, die Deutschen nehmen sie bestimmt nicht mit. Du wirst sehen, wir bringen diese Zeit schneller hinter uns, als du denkst. Wir sind stark. Das trifft auch auf den König und die Königin zu. Sogar in besonderem Maße.«

Auch Elizabeth sorgte sich – nicht nur um ihre Eltern und die ganze Familie samt Philip, sondern auch um die Menschen da draußen, von denen Crawfie so oft zu ihnen sprach.

»Als Mitglied der Königsfamilie ist es wichtig zu verstehen, womit die Menschen sich abplagen, was sie fürchten und was sie sich erhoffen. Vor allem du, Lilibet, benötigst diese Informationen für deine spätere Aufgabe«, schärfte Crawfie ihr immer wieder ein.

Krieg, das hieß die Zähne zusammenbeißen, Stärke beweisen und stets Ruhe bewahren, um keine Fehler aus Unachtsamkeit zu machen, wie Crawfie ihnen erklärt hatte.

»Darf ich mir mal Ihr Zimmer ansehen?«, wollte Margaret von Crawfie wissen. Ihre Beine baumelten über dem Boden. »Ich bin neugierig, ob Sie es schön dekoriert haben.«

Crawfie lachte. »Du darfst mich gern jederzeit besuchen. Was das Dekorieren betrifft, muss ich dich aber enttäuschen. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Schließlich sind wir ja nur auf der Durchreise.«

Die Freude über Crawfies letzte Worte stand Margaret sofort ins Gesicht geschrieben.

»Wir sind nur auf der Durchreise, genau«, wiederholte sie, »und bald wohnen wir wieder mit Mummy und Papa zusammen.«

Als Margaret kurz ins Haus lief, um etwas zu holen, sprach Elizabeth ihre Gedanken aus. »Ich finde, niemand sollte vor Margaret über Schlachten und solche Dinge sprechen. Wir wollen sie doch nicht in Angst und Schrecken versetzen«, bat sie. »Margaret setzt der Krieg furchtbar zu.«

Ein paar Tage später brachen sie mit Crawfie und dem Pony George zu einem Ausflug auf. Manchmal stellte Elizabeth sich vor, wie es sich wohl anfühlte, barfuß über das Moos am Ufer des Flusses zu laufen. Es musste herrlich sein, wenn die Füße darin versanken.

Als sie sich der Holzfälleranlage näherten, sahen sie die Bulldozer, die gerade einen Baum zu Fall brachten.

»George, ich verspreche dir, dass du keine Angst haben musst«, sprach Margaret beruhigend auf das Pony ein. »Ich finde Bulldozer spannend. Du auch, Lilibet?«

»Hmm«, murmelte Elizabeth, »ich hoffe, sie lassen uns noch ein bisschen Wald übrig.«

»Sie nehmen nur so viel, wie sie für den Krieg brauchen«, versicherte die Gouvernante.

Margaret dachte nach. »Aber wenn der Krieg zu lange dauert, gehen uns dann die Bäume aus?«

Elizabeth half Margaret in den Steigbügel. »Ach was. Bis dahin ist noch viel Zeit.«

»Dann ist ja gut. Oh, schau mal, Lilibet. Die Arbeiter freuen sich, uns zu sehen.« Margaret war sichtlich aufgeregt, als die Männer ihr freundlich zulächelten.

Neben dem Unterricht und Spaziergängen bildeten die wöchentlichen Treffen der Bauersfrauen eine willkommene Unterbrechung ihrer stets gleichen Tage, ebenso die Nähstunden und andere Kriegsarbeiten, die Allah organisierte. Elizabeth und Margaret nahmen pflichtbewusst an allem teil. Wenn sie etwas taten, verging die Zeit schneller, und sie fieberten nicht den ganzen Tag dem allabendlichen Anruf der Eltern entgegen.

Punkt sechs war es dann so weit. Margaret sprintete immer als Erste zum Telefon, obwohl sie wusste, dass die Mutter zuerst mit Crawfie sprechen wollte. Auch Elizabeth hielt sich an diesem kleinen bisschen Normalität fest. Genauso ungeduldig, die Stimme ihrer Mutter und ihres Vaters zu hören.

»Mummy, Papa … Stellt euch vor, Lilibet und ich haben heute genäht. Wir helfen bei den Kriegsarbeiten, weil wir Prinzessinnen sind und weil Lilibet und ich euch stolz machen wollen …« Margaret redete, so schnell sie konnte. »… außerdem haben wir für die anderen Näherinnen, die bei uns zu Besuch waren, Musik auf dem Grammophon abgespielt. Die Musik war schrecklich laut, deshalb hat Crawfie sechs Schals in das Horn gesteckt. Mein Lieblingslied ist Your Tiny Hand is Frozen. Crawfie meint, das passt ganz gut, weil es so kalt im Haus ist und meine Hände sich manchmal anfühlen wie Eiszapfen.«

Als Elizabeth abends zu Bett ging, schwor sie sich, durchzuhalten. Die Decke bis zur Nase gezogen, versuchte sie sich auszumalen, was auf das Land und sie alle wohl noch zukäme. In ihrer Vorstellung war der Krieg ein Zug, der viel zu schnell auf sie zurollte und vor dem ihre Eltern sie und ihre Schwester in Sicherheit gebracht hatten. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was tatsächlich geschähe. Sie wusste nur, seit Krieg war, fühlte sie sich wesentlich älter als dreizehn.

Die darauffolgenden Wochen vergingen schnell und langsam zugleich, und als der Herbst vorüber war, verlebten sie ihren ersten schottischen Winter in der idyllischen Landschaft von Birkhall. Sie liefen über weiße Schichten Schnee, unter denen der Rasenteppich verschwand. Die Landschaft versank im Weiß, und die kahlen Äste der Bäume, die wie mahnende Wächter aussahen, wehten im schottischen Wind. Auch die Wildgänse waren zu den Flüssen zurückgekehrt.

Doch so idyllisch es in Birkhall auch war, die Sehnsucht nach den Eltern wuchs von Woche zu Woche, ebenso die Sorge, ob ihnen hoffentlich nichts zustieß.

»Das Schlachtschiff Royal Oak wurde in Scapa Flow von einem deutschen U-Boot versenkt.«

Mit dieser Nachricht aus dem Radio wurde ihnen endgültig bewusst, was es bedeutete, im Krieg zu sein. Zu wissen, dass Menschen starben und ihr Zuhause verloren, dass Männer verwundet wurden und Kinder ihren Vater verloren, war schrecklich. Seltsamerweise war Elizabeth froh, wenn Crawfie ihre Fragen ehrlich beantwortete. Es war immer besser, informiert zu sein, als im Dunkeln zu tappen und sich noch Schrecklicheres auszumalen.

Margarets Kichern riss Elizabeth an diesem Morgen aus ihren Gedanken.

»Schau mal.« Sie drehte die Wasserkaraffe, die sie in ihrer Hand hielt, auf den Kopf und lachte glucksend. »Das Wasser ist schon wieder gefroren. Unsere Waschlappen auch.« Sie griff mit spitzen Fingern danach. »Das bedeutet bestimmt, dass wir uns heute nicht waschen müssen.«

Sie hatten sich längst daran gewöhnt, dass sie in ihren Schlafzimmern keine Heizung und keinen Ofen hatten und oft vor Kälte schlotterten.

Elizabeth gähnte verschlafen. »Was hat dich denn dazu getrieben, so früh aufzustehen, Bud?«

Margaret ging zum Fenster und deutete auf die Scheibe. »Ich wollte die Eisblumen sehen. Sind sie nicht wunderschön?!«

Abends kam wieder der tägliche Anruf der Eltern.

»Crawfie, es geht uns gut«, hörten Elizabeth und Margaret undeutlich die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende. »Es gibt auch Neuigkeiten. Wir werden Weihnachten in Sandringham mit Lilibet und Margaret verbringen.«

Elizabeth sah in Crawfies strahlende Augen und stieß einen Freudenschrei aus. Margaret hüpfte wie ein Hampelmann herum und konnte sich kaum beruhigen. Es war fast vier Monate her, seit sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen hatten.

»Hoffentlich erkennen Mummy und Papa uns noch«, gab Margaret zu bedenken, als das Telefonat beendet war. Sie wirkte ehrlich erschrocken, als glaubte sie, was sie sagte.

»Aber sicher tun sie das«, beruhigte sie Crawfie. »Man vergisst seine Kinder doch nicht.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein, Crawfie? Papa ist der König und hat so viel zu tun. Und Mummy hat gewiss auch keine ruhige Minute. Und am Telefon hören sie nur unsere Stimmen.« Margaret wirkte überzeugend wie immer.

Crawfie streichelte ihr besänftigend übers Haar. Elizabeth tat es ihr gleich.

»Bud, dich erkennen sie als Erstes. Weil du die Allererste bist, die in ihre Arme fällt. Und das hübscheste Mädchen, das Eltern nur haben können«, setzte sie hinzu.

»Aber gleich danach bist du dran, Lilibet. Du bist doch die Thronfolgerin.«

In Sandringham wünschte Elizabeth sich jeden Morgen beim Frühstück, die Zeit möge stehenbleiben, denn es war zu schön, wieder mit den Eltern zusammen zu sein.

Doch schon im Februar mussten sie sich erneut trennen. »Wenigstens geht es uns nicht wie den anderen Kindern, die irgendwohin gebracht werden, wo sie niemanden kennen«, versuchte Margaret sich selbst zu trösten, als sie in den Wagen stiegen, der sie in die Royal Lodge in Windsor bringen sollte, während die Eltern zurück nach London fuhren. »Außerdem kommen Mummy und Papa an den Wochenenden. Mummy hat es mir fest versprochen.«

Doch es waren keine Wochenenden wie früher. Oft kamen Boten vorbei und überbrachten Bertie wichtige Nachrichten. Wenn sie fort waren, sah Elizabeth ihren Vater mit verschränkten Armen und sorgenvollem Blick auf und ab gehen.

In Windsor nahm Elizabeth ihre Stunden bei Henry Marten, auf der anderen Seite der Themse, wieder auf.

Und an ihrem vierzehnten Geburtstag im April sahen sich alle gemeinsam Pinocchio an. Als die Fee die Marionette Pinocchio in eine lebende Puppe verwandelte, waren alle begeistert, auch der König. Gelöstes Lachen flog durchs Zimmer, und erleichterte Seufzer waren zu hören, als der Film zu Ende ging. Für kurze Zeit war ihre Welt wieder wie früher.

Doch im Mai erreichte Hitlers Wehrmacht Frankreich. Elizabeth spürte, wie die Anspannung ihres Vaters stetig wuchs. Selbst ihre Mutter wirkte immer betrübter.

Eines Nachmittags kam Crawfie zu ihnen: »Wir werden nach Schloss Windsor umziehen. Genauer gesagt in den Lancaster Tower. Wo ihr sonst auch wohnt, wenn ihr dort seid.«

»Aber warum müssen wir schon wieder weg?«, fragte Margaret überrumpelt.

Elizabeth ahnte, dass die Gouvernante ihnen den Grund des erneuten Umzugs verschweigen wollte.

»Es ist wegen Hitler, weil seine Soldaten in Frankreich einmarschiert sind … und weil Frankreich nicht weit von uns ist. Nicht wahr, Crawfie?«, sagte sie ihr später auf den Kopf zu.

Crawfie wiegelte ab. »Deine Eltern wissen, was sie tun. Sei unbesorgt.«

In Elizabeth' Augen glich das Schloss einer Festung. Vermutlich war das der Grund, warum sie hergekommen waren, überlegte sie, als sie am zweiten Abend im Lancaster Tower zu Bett ging.

Sie dachte über das Glockensystem nach, von dem Allah ihnen mit eindringlicher Stimme erzählt hatte.

»Elizabeth, Margaret Rose, hört mir bitte aufmerksam zu. Im Schloss wurde ein Glockensystem zu unser aller Sicherheit installiert. Sobald ein bestimmter Ton erklingt, suchen wir unverzüglich den Schutzraum auf. Habt ihr das verstanden?«

Margaret hatte nur halb zugehört, trotzdem war von ihr ein beflissenes »Ja, sicher« gekommen während sie die Nase weiter in das Buch gesteckt hatte, das sie unbedingt zu Ende lesen wollte.

»Und wie funktioniert das Glockensystem?«, hatte Elizabeth nachgefragt.

Allah hatte die Wächter auf dem Dach erwähnt, die mit den Luftschutzwarten, die das Glockensystem bedienten, in ständigem Austausch standen, und noch einmal bekräftigt, dass alle im Schloss genau wussten, was bei welchem Glockenklang zu tun wäre.

Am Tag darauf horchte Elizabeth auf die hallenden Schritte der Luftschutzwarte, die unermüdlich auf Patrouille waren, um sicherzugehen, dass kein Licht nach außen drang.

»Das Schloss muss dunkel sein, damit uns niemand findet«, erklärte ihr einer der Männer. Elizabeth verstand. Nun hatte der Krieg sie eingeholt.

Als die Glocke erstmals erklang, war sie kurz davor einzunicken. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie aus dem Bett, riss die Schublade der Kommode auf, dass sie fast herausfiel, und wühlte aufgeregt durch ihre Sachen.

Margaret kam im Schlafanzug mit Allah angerannt und schrie: »Es läutet, Lilibet. Wir müssen uns anziehen, sonst erfrieren wir unten.«

Allah versuchte, Margaret, so schnell sie konnte, in einen Cardigan zu helfen. Doch es gelang ihr nicht, weil Margaret sich versteifte.

»Allah. Wo sind Sie? Alle sind schon im Schutzraum. Sie müssen sofort hinunter«, hörten sie Crawfie vom Gang aus rufen. Sie schrie, als wollte sie das ganze Schloss aufwecken.

Elizabeth hielt in ihrem Tun inne, als die Tür aufsprang und ihre Gouvernante vor ihnen stand. Ihr Haar war in Unordnung und ihre Miene undurchschaubar.

»Was in Gottes Namen macht ihr hier noch?«, schrie Crawfie entsetzt, dabei sah sie Allah mahnend an.

»Die Kinder müssen sich etwas überziehen«, erklärte Allah.

»Sonst erkälten wir uns unten«, verteidigte sich Margaret.

»Hört sofort auf damit.« Crawfie fasste Margaret am Arm. »Ihr müsst nach unten. Das ist keine Generalprobe.« Sie griff nach Elizabeth' Mantel. »Bleibt in euren Schlafanzügen und zieht eure Mäntel drüber. Sofort!«

Alles musste rasend schnell gehen. Gemeinsam stolperten Elizabeth und Margaret hinter Crawfie und Allah durch die steinernen Gänge nach unten, vorbei an abgedunkelten Fenstern und leeren Wänden, die ehemals Gemälde geziert hatten. Erneut fiel Elizabeth auf, wie dunkel es im Schloss war. Die Kronleuchter hingen nicht an ihren Plätzen und die lichtspendenden Glühbirnen waren gegen viel dunklere ausgetauscht worden.

»Wir sind gleich da«, murmelte Crawfie, die Margarets Hand fest umschlossen hielt.

»Lilibet, bist du noch hinter mir?«, rief Margaret ängstlich.

»Ja. Ich bin da«, versicherte Elizabeth. Sie bildete gemeinsam mit Allah das Schlusslicht.

Als sie im Schutzraum ankamen, blieb Elizabeth stehen. Das war kein besonders einladender Ort, sondern ein düsteres Verlies.

»Sie müssen dafür sorgen, dass die Kinder das nächste Mal augenblicklich heruntergebracht werden. Ganz egal, welche Kleidung sie tragen«, schimpfte der Hofmeister Hill Child. Er wusste über alles Bescheid, auch darüber, dass Allah ab sechs Uhr abends für die Kinder zuständig war.

»Crawfie, sind hier auch mal Menschen gefangen gehalten worden?«, wollte Margaret wissen und blickte sich ängstlich um.

Elizabeth sah auf den Boden, wo ein Käfer zu einem zweiten krabbelte.

»Ich finde es hier ziemlich gruselig«, flüsterte Margaret. »Du auch?«

Elizabeth sah, dass ihrer Schwester Tränen in den Augen standen. Die letzten Monate hatten ihr einiges abverlangt. Auch sie selbst fühlte sich hier unten unwohl.

»Wir sind hier in Sicherheit. Das ist jetzt das Wichtigste. Soll ich dich halten, Margaret?«, kam es von Crawfie.

Während Margaret sich bei Crawfie verkroch, legte Elizabeth sich auf eins der aufgestellten Betten und griff nach einem der Bücher, die das Personal offenbar mitgebracht hatte. Doch sie konnte sich nicht auf ihre Lektüre konzentrieren. Nach einer Weile drehte sie sich nach Margaret um, von der nichts mehr zu hören war. Sie war eingeschlafen und lag mit verschränkten Armen und angezogenen Beinen in Crawfies Schoß.

Elizabeth legte das Buch zur Seite und schloss die Augen.

»Es handelt sich um Alarmstufe Rot«, hörte sie einen Mann hinter sich murmeln. Sie versuchte, den Satz zu vergessen, doch es gelang ihr nicht.

Gegen zwei Uhr nachts kam endlich die Entwarnung. »Sie können nun ins Bett gehen, Ma'am«, sagte Hill Child zu Elizabeth.

Schlaftrunken rappelte sie sich auf und tapste hinter Crawfie und den anderen nach oben.

Am nächsten Morgen lag eine beklemmende Stimmung über dem Schloss.

»Lilibet, Margaret Rose, ich werde nach dem Frühstück eure Koffer holen, damit ihr alles, was euch wichtig ist, einpackt«, kündigte Crawfie an.

Als sie Margarets ängstliche Miene sah, sprach sie weiter: »Keine Sorge, ich habe bereits in die Wege geleitet, dass der Schutzraum besser ausgestattet wird. Ihr bekommt ein vernünftiges Bett und Decken. Dann fühlt ihr euch vielleicht zumindest ein bisschen wohler.«

Elizabeth hatte bereits geahnt, dass die vergangene Nacht nicht ihre letzte im Schutzraum bleiben würde. Trotzdem bedrückte sie die Aussicht, ganze Nächte dort unten zu verbringen.

Nach dem Frühstück legten sie los.

»Wir können nicht alles mitnehmen«, warnte Elizabeth ihre Schwester, als Margaret dabei war, ihren Koffer mit allen möglichen Sachen zu füllen.

»Meine Bücher und Broschen brauche ich aber«, protestierte Margaret. »Vor allem in einem Verlies. Wenn ich sie hierlasse, werde ich trübsinnig.«

»Aber nicht in solchen Mengen. Wir müssen darauf achten, dass wir den Koffer noch zukriegen … Crawfie hat mir erzählt, dass wir demnächst auch einen Sirenenanzug bekommen. Für alle Fälle«, erzählte Elizabeth, während sie das Tagebuch, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte, in den Koffer legte. Es machte ihr Freude, abends ein paar Zeilen in das Buch mit dem kleinen Schloss zu schreiben.

»Dann sehen wir wie Zwillinge aus«, freute sich Margaret.

Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag mehr zu, vor allem, seit die Luftwaffe ihre Angriffe verstärkt hatte. Auch London war betroffen.

Als die Nachricht kam, dass der Buckingham-Palast am Vormittag bombardiert worden war, schrie Margaret erschüttert auf.

»Mummy und Papa dürfen nicht sterben. Ich brauche sie doch noch … und du brauchst sie auch, Lilibet«, schluchzte sie und klammerte sich mit aller Kraft an Allah. »Warum wirft dieser Hitler Bomben auf Mummy und Papa? Sie haben ihm doch nichts getan. Und wir ihm auch nicht.«

»Ich verspreche euch, dass es euren Eltern gut geht. Sie kommen heute Abend zu euch«, bemühte Allah sich, die Situation zu beruhigen.

»Aber Sie waren doch nicht dort, Allah. Vielleicht geht es ihnen ganz schlecht? Oder vielleicht schwindeln Sie, damit wir nicht noch trauriger sind. Vielleicht haben wir gar keine Eltern mehr, und niemand sagt es uns.«

Elizabeth griff nach Margarets Hand. Sie war selbst ziemlich durcheinander und machte sich ebenfalls große Sorgen. Doch um Margarets willen bemühte sie sich, stark zu sein. Sie durfte sie nicht noch mehr verunsichern.

»Bud. Allah lügt uns sicher nicht an. Mummy und Papa sind der König und die Königin. Alle wüssten, wenn es ihnen nicht gut ginge.«

Allah nickte, sichtlich erleichtert, dass Elizabeth Margaret zu beruhigen vermochte.

Die Stunden bis zum Abend wollten einfach nicht vergehen. Elizabeth und Margaret liefen immer wieder nach draußen, um nachzusehen, ob ihre Eltern schon kamen. Doch jedes Mal war es umsonst.

Als sie schließlich den Wagen näherkommen hörten und sich die Türen öffneten, liefen sie juchzend auf die Eltern zu und fielen ihnen in die Arme. Elizabeth schmiegte sich an ihre Mutter. Sie spürte die Wärme ihres Körpers und sog den Geruch ihrer Kleidung ein. Sie war noch nie so glücklich gewesen, ihre Mummy umarmen zu dürfen.

»Wie habt ihr es geschafft, dass euch nichts passiert ist?«, fragte Margaret, als sie, sich an den Händen haltend, gemeinsam hineingingen.

»Wir haben gut auf uns aufgepasst. So, wie ihr es auch tut«, sprach die Königin beruhigend auf ihre Jüngste ein. Der wunderbar weiche Klang ihrer Stimme konnte die ganze Welt beruhigen, fand Elizabeth.

Später hörte sie, wie ihre Mutter leise mit Hill Child sprach.

»Der König und ich haben ein Geräusch gehört, das von einem Flugzeug kam. Ein weiteres Geräusch hörte sich an, als würde ein Flugzeug mit großer Geschwindigkeit fliegen. Dann war dieser furchtbar laute Knall … wir haben gesehen, wie die Bombe im Innenhof explodierte.«

Elizabeth' Hände suchten instinktiv die Ohren. Ein paar Wortfetzen hörte sie trotzdem noch.

»… eine Säule aus Rauch und Erde, die in die Luft geschleudert wurde … in den Korridor gelaufen … weitere gewaltige Explosion … damit uns kein Glas um die Ohren fliegt.«

Sie nahm die Hände wieder von den Ohren. Die letzten Worte waren von ihrem Vater gekommen. Wie furchtbar ernst und besorgt er aussah. Ganz anders als in dem Moment, als er aus dem Wagen gestiegen und seine Töchter wiedergesehen hatte.

Elizabeth drehte sich um und ging mit hängenden Schultern zu Margaret.

»Ist jetzt alles kaputt? Weil doch Bomben gefallen sind.« Ihre Schwester saß auf dem Bett und hatte die Knie mit ihren Armen umschlungen. Ihre Fantasie hatte sie offenbar wieder einmal fest im Griff und zeichnete ein Schreckensbild nach dem nächsten.

Elizabeth setzte sich neben sie. »Wir werden das, was zu Bruch gegangen ist, reparieren. Dann ist alles wieder wie vorher, Bud.«

»Und was, wenn auf uns auch eine Bombe fliegt?« Margarets linke Hand löste sich aus der Umklammerung und griff nach Elizabeth'.

»Das Warnsystem hier ist gut durchdacht, und die Luftschutzwarte wissen immer genau, was vor sich geht. Das weißt du doch.« Elizabeth versuchte, nicht nur ihre Schwester zu beruhigen, sondern auch sich selbst.

Dass ihr Vater sich mittlerweile eine Maschinenpistole zugelegt hatte und ihre Mutter demnächst Übungsstunden mit dem Revolver absolvieren wollte, beunruhigte sie. Was man wusste, wurde manchmal so lebendig in einem, als hätten die Worte die Fähigkeit erlangt, sich für alle Zeiten in einem einzurichten.

Auch von einem Notfallplan, der vorsah, dass Margaret und sie mit nur einem Corgi nach Wales oder Gloucestershire im Westen Englands gebracht würden, hatte Elizabeth gehört. Doch ob das stimmte, wusste sie nicht.

Einen Monat später hielt sie ihre erste Rundfunkansprache über BBC. Sie hatte die Rede in den Tagen zuvor mit ihrer Mutter geübt, um ja keinen Fehler zu machen.

»Es ist wichtig, den Tonfall richtig zu treffen, nicht wahr, Mummy?« Elizabeth presste unter dem Tisch die Hände zusammen.

»Lilibet, du wirst das hervorragend meistern. Ich weiß es, ich bin schließlich deine Mutter«, erklärte die Königin, ohne den Hauch eines Zweifels in der Stimme.

Als es so weit war, schaffte Elizabeth es tatsächlich, ihr Lampenfieber zu überwinden.

»Ich kann euch aufrichtig sagen, dass uns Kinder in der Heimat Frohsinn und Mut nicht verlassen haben«, las sie vom Blatt ab.

Sie schaffte die Rede mit Bravour und erreichte die Menschen, weil sie war, wie sie war. Zurückhaltend, pflichtbewusst und ernsthaft.

Am Ende wandte sie sich an ihre Schwester: »Los, Margaret«, forderte sie die Jüngere auf und sah Margaret auffordernd an.

Die beugte sich zu dem Mikrofon. »Gute Nacht, Kinder«, wünschte sie mit ihrer hohen Stimme, glücklich, etwas zu der wichtigen Rede beigetragen zu haben.