18. April 2021

England, Schloss Windsor

Die Tinte auf dem Papier verschwamm vor Elizabeth' Augen. Die Zeit schien sich aufzulösen, während sie über ihr Tagebuch gebeugt saß. Die Gefühle der Jahre ihrer Kindheit und Jugend waren alle noch präsent. Auch die Momente, in denen sie Klavier gespielt und gesungen hatten, um die Vibration der Bomben, die auf London gefallen waren und deren Erschütterung sogar in Schloss Windsor deutlich zu spüren gewesen war, auszublenden.

Wenige Monate vor ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie ihren ersten militärischen Rang erhalten und damit den Platz ihres verstorbenen Taufpaten, Prinz Arthur, Duke of Connaught and Strathearn, eingenommen.

Damals waren junge Offiziere zu ihrem Schutz auf Schloss Windsor stationiert gewesen. Sie wusste noch, dass es ihr eine Herzensangelegenheit gewesen war, den Müttern jener Offiziere, die später im Dienst an ihrem Land ihr Leben ließen, einen Brief zu schreiben, damit sie wussten, ihre Söhne würden nicht vergessen werden.

Gern erinnerte sie sich an die Stunden, in denen Margaret und sie sich um ihren kleinen Garten gekümmert hatten. Das britische Ministerium für Agrarkultur hatte gleich zu Beginn des Kriegs die »Dig for Victory«-Kampagne ins Leben gerufen und die Menschen dazu aufgefordert, in Zeiten der Rationierung ihr eigenes Gemüse anzupflanzen.

An ihrem achtzehnten Geburtstag hatte ihr Vater sie darauf vorbereitet, zum Counsellor of State ernannt zu werden.

Elizabeth blätterte zu dem Eintrag von damals:

Papa sagt, er werde die Ausnahmeregelung zum Regency Act schon erlangen. Normalerweise ist das Mindestalter einundzwanzig. Aber ich werde bereits mit achtzehn ernannt, damit ich im Fall eines Auslandsaufenthalts oder einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit Papas bestimmte Amtsgeschäfte übernehmen kann.

Zwei Seiten weiter hatte sie das Weihnachtsfest 1943 schriftlich festgehalten:

Endlich habe ich Philip wiedergesehen. Er war unter den Zuschauern, als Margaret und ich das Märchenspiel Aladdin aufgeführt haben.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag haben wir das Grammophon angestellt und die Teppiche zurückgerollt, damit wir tanzen konnten. Philip ist ein hervorragender Tänzer. In seinen Armen fühle ich mich leicht wie eine Feder und gleichzeitig behütet. Meine Wangen glühen immer vor Hitze, wenn ich ihm körperlich so nah bin.

Philip ist so schneidig und wortgewandt, voller Leben, dazu ehrgeizig und entschlossen. Außerdem sieht er verboten gut aus. Er hat mir von seiner glänzenden Zukunft bei der Marine erzählt, dabei hat er mich mit seinen blauen Augen angesehen, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass sein Leben stets erfolgreich und glücklich sein würde.

Wir haben bis 1 Uhr morgens getanzt, erst dann sind wir zu Bett gegangen, und obwohl ich todmüde war, konnte ich nicht einschlafen, weil ich immer noch seine Worte gehört und seine Wärme gespürt habe.

Wie viel besser würde ich dereinst die Rolle als Monarchin mit einem Mann wie ihm an meiner Seite ausfüllen können.

Rasch blätterte Elizabeth weiter:

Februar 1945

Ich bin in Aldershot als Leutnant in den Dienst der Territorialverteidigung eingetreten. Jeden Tag werde ich zum Ausbildungslehrgang gefahren und lerne einen Motor auszubauen und zu warten, Kolonne zu fahren und Karten zu lesen. Das Gefühl, eine von vielen zu sein, die ihre Pflicht erfüllen, ist wunderbar. Außerdem macht es Spaß, während der kurzen Pausen mit den anderen zu plaudern.

Margaret fühlt sich ausgeschlossen und meint, sie sei zu spät geboren worden. Als sie jedoch meine khakifarbene, wenig ansehnliche Uniform gesehen hat, hat es ihr nichts mehr ausgemacht, nicht dabei zu sein.

Und der letzte Eintrag aus dieser Zeit:

8. Mai – endlich ist der Krieg für uns vorbei und damit auch unser Leben in der »Unterwelt«. Kein Sammeln von Staniolpapier mehr, kein Aufrollen von Mullbinden und Stricken von Socken, um unseren Anteil zu leisten.

15. August – Papa hat unsere Bitte erhört und zwei junge Offiziere dazu bestimmt, Margaret und mich aus dem Palast zu bringen.

In den hell erleuchteten Straßen herrscht jeden Tag buntes Treiben, es geht zu wie in einem Bienenstock.

Als wir draußen waren, trieb die Masse an Menschen zum Parlament, dann nach Whitehall hinunter zum Trafalgar Square, nach Piccadilly bis zum Hotel Ritz und zurück zur königlichen Residenz. Überall wurden Weltkriegs-Hits geschmettert, und die Menschen umarmten sich.

Margaret und ich fühlten uns wie gewöhnliche junge Frauen. Die Sorgen und Einschränkungen der vergangenen Jahre waren unter all den Feiernden plötzlich vergessen. Viele Einschränkungen werden noch lange bleiben, das weiß ich, doch der Krieg ist vorbei. Vor allem das zählt.

Elizabeth blätterte weiter, dabei ließ sie die freie Hand am Holz des Sessels hinabgleiten und spürte das weiche Fell Muicks.

Das leise Grunzen der Hunde im Ohr, las sie:

Crawfie hat ein Buch über Margaret und mich geschrieben. Vor allem Mummy ist außer sich …

Gedanken an ihre ehemalige Gouvernante suchten Elizabeth auch jetzt wieder mit gemischten Gefühlen heim. Damals war sie vierundzwanzig gewesen.

Die Familie hatte Crawfie sehr gemocht, als diese allerdings ein Buch über die Erlebnisse mit ihren Schützlingen schrieb, wurde sie zur unerwünschten Person.

»Was ist nur in sie gefahren? Sie erschien mir durchaus loyal, und dann hintergeht sie uns auf so abscheuliche Weise. Ich habe ihr im Vorfeld erklärt, dass sie nicht über die Kinder schreiben darf. Als Gouvernante hatte sie eine Vertrauensposition inne. Ich habe sogar zugestimmt, dass sie einem amerikanischen Magazin Hilfestellung bei der Verfassung eines Artikels leistet, solange ihr Name nicht darin vorkommt und es nicht um etwas so Privates und Kostbares wie unsere Familie geht. Und was tut sie? Sie schreibt gleich ein ganzes Buch über Elizabeth und Margaret Rose. Wie soll man ihr je wieder vertrauen, nachdem wir so hintergangen wurden. Crawfie ist für mich gestorben.«

Dem abschließenden Urteil ihrer Mutter hatten sich alle angeschlossen.

Elizabeth hatte lange überlegt, ob Crawfies Mann sie vielleicht gedrängt hatte, das Buch zu veröffentlichen. In ihrer Vorstellung konnte es nicht anders sein, schließlich hatte Crawfie ihre eigene Hochzeit um viele Jahre verschoben und war erst nach Elizabeth' Heirat mit Philip in den Ruhestand getreten; zwei Monate zuvor hatte sie sich selbst vermählt und Nottingham Cottage als Zeichen der Wertschätzung Königin Marys erhalten.

Elizabeth ließ von Muick ab, der ihr seine Nase entgegengestreckt hatte.

In ihren Tagebüchern hatte sie unzählige Begebenheiten festgehalten. Manche so ungewöhnlich, dass sie selbst kaum hatte glauben können, sie zu erleben.

Auch ihr Vater hatte bis 1947 Kriegstagebücher geschrieben, die nun in den Royal Archives in Schloss Windsor lagen.

»Eine ehrliche Chronik des gesamten Kriegs.«

So hatte er das Geschriebene bezeichnet. »Die Aufzeichnungen helfen mir bei der Orientierung … weil man seinem Gedächtnis nicht trauen kann.«

Elizabeth entkam ein leises »Oh«, als sie mit dem Ellbogen an den Stapel Tagebücher stieß. Einige fielen mit lautem Rumpeln zu Boden und blieben dort aufgeschlagen liegen. Sandy sprang auf und schnupperte neugierig daran.

»Das sind nur Erinnerungen, Sandy«, beruhigte Elizabeth den Hund und beugte sich hinab, um sich des Malheurs anzunehmen.

Sommer 1971, las sie, als sie nach dem ersten Buch griff.

Damals, wenige Monate nach ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag, hatte Idi Amin sich zu seinem ersten Staatsbesuch außerhalb Afrikas aufgemacht. Ein halbes Jahr zuvor hatte er sich in Uganda an die Macht geputscht. Premierminister Heath hatte ihn damals unbedingt auf seine Seite bringen wollen. Aus diesem Grund hatte er einen Besuch in Schottland für Amin arrangiert.

Zu ihrem Glück hatte man sie vorgewarnt, dass Idi Amin praktisch Analphabet und vor allem gefährlich sei.

Beim Lunch hatte sie sich selbst davon überzeugen können, mit wem sie es zu tun hatte. Als sie mit ihm zu Tisch saß, gestand Amin ihr unverblümt, er plane mit seinen Soldaten in Tansania einzumarschieren, um sich einen Bereich im Norden einzuverleiben.

Im ersten Moment hatte Elizabeth geglaubt, das sei ein Scherz, doch dann hatte sie begriffen, dass die Ankündigung ernst gemeint war. Sie hatte kaum noch das Essen hinunterbekommen, und sobald es ihr möglich war, hatte sie umgehend Außenminister Douglas-Home über das Gehörte informiert, um Schlimmes zu verhindern.

Elizabeth blätterte weiter und stieß auf einen Eintrag, den sie zwei Jahre später verfasst hatte.

Staatsempfang für Mobutu Sese Seko und seine Frau Marie-Antoinette.

Es war um einen Deal über ein Wasserkraftwerk gegangen. Elizabeth erinnerte sich, dass sie das Paar aus Zaire in der Belgian Suite im Buckingham-Palast untergebracht hatte und dass im Briefing gestanden hatte, Mobutu Sese Seko habe Rivalen kurzerhand erhängt. Er hatte außerdem westliche Mode verboten. Männer durften keine Jacketts und Krawatten tragen, Frauen keine Miniröcke oder Hosen. Allerdings war es seiner Tochter erlaubt, ein Mädcheninternat in Eastbourne zu besuchen. Das mochte verstehen, wer es konnte.

Marie-Antoinette hatte sich damals täglich rohes Fleisch in die Belgian Suite bringen lassen. Elizabeth hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wofür sie das Fleisch brauchte, bis sich schließlich herausstellte, dass Marie-Antoinette heimlich ihren Hund eingeschmuggelt und damit gegen das britische Anti-Tollwut-Gesetz verstoßen hatte. Der Höhenpunkt dieses Vorkommnisses war die krude Ausrede, ihr Hund sei »von Geburt Brite«, weshalb Marie-Antoinette ihn mit nach London gebracht habe, damit er endlich seine Heimatstadt sähe.

Elizabeth klappte das Tagebuch zu und griff nach dem nächsten, das auf dem Boden lag. Sandy sah ihr mit blinzelnden Augen zu.

Bis heute ist mir Weihnachten das liebste Fest. In Sandringham zu feiern, ist immer eine große Freude …

Wie sehr liebte sie das im jakobethanischen Stil gehaltene Anwesen. Königin Victoria hatte es 1862 als Wohnsitz für ihren Sohn, den Prince of Wales, und dessen Ehefrau gekauft. Später war es vollständig neu als Landhaus aus roten Ziegelsteinen errichtet worden.

Während seiner Zeit dort hatte Elizabeth' Großvater, König George V., alle Uhren eine halbe Stunde zurückdrehen lassen, um mehr Zeit für sein Hobby, die Jagd, zu haben. Diese Tradition war bis 1936 aufrechterhalten worden. Erst David hatte sie, als er König geworden war, aufgehoben. Er war in vielem anderer Meinung gewesen als sein Vater.

Sie selbst hatte jedes Jahr auf dem riesigen Anwesen die Weihnachtsbäume fürs Haus ausgewählt. Prinz Albert, Königin Victorias Mann, hatte den deutschen Brauch, einen Baum ins Haus zu holen und am Heiligen Abend die Geschenke auszupacken, nach England gebracht.

Auch sonst mangelte es nicht an Traditionen. Scherzgeschenke hatten bei ihnen eine lange Geschichte. Je verrückter das Präsent, umso lieber.

Einmal hatte ihr Enkel Harry Philip ein Furzkissen auf den Stuhl gelegt, woraufhin der ganze Tisch in amüsiertes Lachen ausgebrochen war.

Eine weitere Tradition war das Fußballspiel, das William und Harry lange Jahre gegen ein Team der Angestellten bestritten hatten.

Elizabeth dachte an das Herumbalgen und die Schreie der beiden, an das Kämpfen und Lachen und an ihre verschwitzten, zufrieden grinsenden Gesichter, wenn sie den Ausgang des Spiels bekanntgaben. Der Sieg war mehr symbolisch. Doch sie hatten jedes Jahr so getan, als habe er Bedeutung. Abends hatten William und Harry Jacketts mit roten Kragen getragen und freudig dabei zugesehen, wie die Corgis ihre Geschenke bekamen – in festliches Papier gewickelte Hundeleckerlis.

Der Zwist ihrer Enkelsöhne hatte viele liebgewordene Traditionen beendet. Und ohne Philip würde Weihnachten noch einsamer werden.

Auch dieses Jahr würde es, wenn die Pandemie anhielte, wieder ein ruhiges Fest werden. Keine Einträge bei Tisch in ihr Notizbuch, um Verbesserungen für das nächste Jahr festzuhalten, kein Dudelsackspieler, der in Sandringham am Ende des Mahls aufspielte und um den Tisch herumging, und keine Weihnachtsstrümpfe für die Urenkel, die Elizabeth eigenhändig an die Türen hängte.

Selbstverständlich würde sie ihre selbstverfasste Weihnachtsansprache halten. Was die Familie dazu sagte, würde sie jedoch nur per Telefon hören.

Elizabeth stieß einen Seufzer aus und langte nach einem weiteren Tagebuch.

Sommer 1946, Philip hat während seines Landurlaubs auf Balmoral bei Papa um meine Hand angehalten. Ich fühle mich wie im Himmel …

Ein Lächeln grub sich in ihr Gesicht.

Etwas Aufregenderes hatte sie mit ihren damals zwanzig Jahren nie zuvor erlebt.

Philip hatte von Anfang an eine ordentliche Portion frischen Wind in ihr Leben gebracht. Wenn er in seinem Sportwagen angerauscht kam und ihm mit offenem Hemdkragen entstieg, war seine Selbstsicherheit nicht nur für sie greifbar gewesen. Manche hatten getuschelt, er sei ein Prinz ohne Land und Vermögen. Elizabeth war das egal gewesen. Im Grunde fand sie diese Einordnung sogar empörend. Zählte nicht vor allem ihre Liebe zu ihm und seine zu ihr?

Erst als eine monatelange Reise nach Südafrika hinter ihnen lag, wurde am 9. Juli 1947 ihre Verlobung mit Philip offiziell verkündet.

Vier Monate später, am 20. November 1947, hatte die Hochzeit in der Westminster Abbey stattgefunden. Laut Margaret waren sie das glücklichste Paar, das die Welt je gesehen hatte …