Februar 1952

England, London,
Schloss Windsor

Es war bereits Abend, als sie in London ankamen. Kühle Luft wehte durch die geöffnete Flugzeugtür ins Innere. Elizabeth zog fröstelnd die Schultern hoch und drehte sich nach Philip um.

»Ich bin an deiner Seite, auch wenn ich laut Protokoll nun hinter dir gehen muss«, raunte er zu ihr.

Es fiel ihm schwer, seine Karriere bei der Marine endgültig aufzugeben, doch er würde sein Versprechen, den Weg mit ihr gemeinsam zu gehen, einhalten. Elizabeth nahm sich zusammen, um das Kommende zu meistern, und trat aus dem Flugzeug.

Nach Afrika war die Kälte Londons schneidend. Mit der Hand strich sie ihre Jacke glatt. Nicht nur das Land versank in dumpfen Farben, auch in ihr sah es dunkel und trostlos aus.

Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Philip folgte ihr mit zwei Schritten Abstand. Langsam stiegen sie die Treppe hinab.

Unten erwartete sie ihr Onkel Henry, Herzog von Gloucester, der jüngere Bruder ihres Vaters. Neben ihm entdeckte Elizabeth Clement Attlee, den früheren Premierminister, Winston Churchill und Anthony Eden. Alle waren in Schwarz gekleidet, und alle neigten ehrerbietig den Kopf vor ihr – der jungen Königin.

Du bist gerüstet, stark genug für diesen Augenblick.

Der Satz war wie ein inneres Korsett. Es blieb keine Zeit, um in die neue Rolle hineinzuwachsen. Sie musste sie schon jetzt ausfüllen.

»Eure Majestät«, hörte sie die Stimmen der Männer.

»Mein aufrichtiges Beileid«, rang Churchill sich ab.

Sie schüttelte Hände und sprach mit den Männern. Sie war die neue Königin, entschlossen, ihren verstorbenen Vater und das Land nicht zu enttäuschen. Das Schicksal hatte nicht nur sie überrascht, auch die Männer waren sichtlich geschockt.

Am Tag des Abschieds hielt nebliges Grau die Stadt wie hinter Schleiern verborgen. Alles wirkte dumpf und ohne jede Lebendigkeit. Seit sie zurück war, kam Elizabeth London fremd vor. Wohin sie auch sah, alles schien seine Farbe verloren zu haben.

Sie löste den Blick vom Fenster und ging in den Ankleideraum, wo Bobo sie erwartete. Elizabeth grüßte sie und bekam kaum mit, was Bobo tat.

Auch ihre Mutter versuchte, mit dem Geschehenen klarzukommen, doch es gelang ihr nur zeitweise. Sie war untröstlich wegen ihres Verlusts und gab David und Wallis Simpson die Schuld am frühen Tod ihres Mannes. Margaret weinte ununterbrochen. Trauer war eine einsame Angelegenheit.

Während Bobo ihr beim Ankleiden half, sah Elizabeth die Nashörner vor sich, die sie in der letzten Nacht in Afrika mit Philip beobachtet hatte. Die Tiere verschwanden vor ihrem geistigen Auge und wurden von ihrem Vater ersetzt, der sie – als kleines Mädchen – auf ein Pony hob. Us four … Wir vier. Das war ein für alle Mal vorbei.

Bobo räusperte sich und fasste sie am Arm, um sie auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich war in Gedanken, Bobo. Entschuldige«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.

»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte Bobo. »Ich weiß, wie du dich fühlst.«

Bobo langte nach dem Schleier, griff nach dem zarten Stoff. Elizabeth sah, wie die flüchtig wirkende Spitze zwischen ihren Händen hindurchglitt.

Ihre Großmutter hatte sie darum gebeten, in Marlborough House bleiben zu dürfen. Sie fühle sich zu schwach, um von ihrem Sohn Abschied zu nehmen. Für Mary war es der vierte Monarch und das dritte ihrer Kinder, das sie betrauerte. Elizabeth wäre der sechste Souverän, der zu Lebzeiten ihrer Großmutter regierte. Beruhigend war, dass ihre Großmutter Lady Airlie als tröstende Gesellschaft hatte.

Es war ein seltsamer Moment gewesen, als ihre Großmutter Elizabeth als Untertanin die Hand geküsst hatte. Mary war keine Träne entkommen. Sie konnte eisern sein, das wusste Elizabeth aus Erfahrung.

Ganz würde ihre Großmutter sich dem Abschied allerdings nicht entziehen können. Der Trauerzug samt Lafette mit dem Sarg käme auf der Mall in ihr Blickfeld. Vermutlich würde Mary, wenn sie auf den Sarg blickte, sich vor allem von ihrem Jungen verabschieden und nicht vom König.

Elizabeth wusste, dass ihre Großmutter bereits die Details von Königin Victorias Krönungsgewändern studierte, die ihr – Elizabeth – als Vorlage für ihre Robe dienen könnten.

Wenn sie das Wort Zweckbestimmung im Zusammenhang mit der Monarchie hörte, verhärtete sich seit je alles in Mary. Die Krönung war für sie ein göttlicher Akt, etwas, woran der Mensch nicht rühren durfte. Ebenso sah sie den Tod an. Er war der Arm Gottes, der jeden auf Erden erreichte und beizeiten heimholte.

Ihre Großmutter wäre die Nächste, von der sie Abschied nehmen musste. Mary scheute sich nicht, es anzusprechen.

»Die Trauer um die ehemalige Gemahlin eines Königs darf nie die Krönung eines neuen Souveräns beeinträchtigen«, hatte sie zu Elizabeth gesagt. »Ich werde keinen Schatten auf deine Krönung werfen, falls ich vorher sterbe. Du weißt, die Krone steht über allem.«

Elizabeth' Gedanken wanderten zu Charles und Anne. Sie und Philip würden in Zukunft sehr viele Termine wahrnehmen müssen. Ihrer aller Leben würde sich drastisch verändern.

Am Abend zuvor hatte Elizabeth sich in der Dunkelheit hinter einem Torbogen versteckt, um zuzusehen, wie die Trauernden in der Westminster Hall am aufgebahrten Sarg ihres Vaters vorbeidefilierten. Sie war einfach losmarschiert, ohne Philip etwas zu sagen. Zuvor hatte es eine Aufbahrung in der St. Mary Magdalene Church in Sandringham gegeben, erst danach in der St. George's Chapel in Schloss Windsor.

»Fertig.« Bobo trat einen Schritt zurück und betrachtete ihren Schützling sorgenvoll.

Elizabeth sah sich im Spiegel, die Blässe war trotz des Schleiers zu sehen. Sie hatte tagelang kaum etwas gegessen, nun drohten ihre Knie nachzugeben.

»Der Schleier liegt wie ein Hauch auf dir. Ein guter Schutz vor neugierigen Blicken«, versprach Bobo.

»Nun denn …« Elizabeth zupfte an dem Stoff, froh, dass der Schleier ihr etwas Intimität gewährte und zugleich Halt gab.

Bobo drückte Elizabeth' zarte Hände, hielt sie in ihren. »Es tut mir unendlich leid, dass dir kaum Zeit bleibt, um zu trauern.«

Elizabeth' Augen verengten sich, dann fokussierte sie den Blick auf Bobo. »Lilibet ist tieftraurig. Sie ist untröstlich, Bobo. Elizabeth hingegen ist bereit, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ich bete, dass sie den Ansprüchen, die man an sie stellt, vollumfänglich gerecht wird.«

»Unsere Königin wird tun, was zu tun ist. Unter ihr als Souveränin versammeln sich alle unter der Krone.« In Bobos Stimme lag nicht die Spur eines Zweifels, sondern Zuversicht und Vertrauen.

Der Sarg des Königs senkte sich unter dem Klang dumpfen Trommelwirbels in die Erde. Das gesamte Land schien innezuhalten. Vermutlich nahmen die Briten sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren als erschreckend jung für das Amt der Königin wahr. Doch sie war die legitime Nachfolgerin ihres Vaters und würde das Volk nicht enttäuschen.

Elizabeth verfolgte, wie das Leinentuch über der Silberschüssel auf dem Hocker neben ihr weggezogen wurde.

Dankbarkeit für die Zeit mit ihrem Vater stieg tröstend in ihr auf. Sie nahm eine Handvoll Erde aus der Schüssel und streute sie über den Sarg. Ihr Vater hatte sein Stottern in den Griff bekommen, öffentliche Reden gehalten und England durch den Krieg gebracht. Während dieser schwierigen Zeit hatte er seine Frau und seine Kinder beschützt. Er hatte ihnen seine Liebe geschenkt und ihnen ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Wenn sie ihren Vater gebraucht hatte, hatte er ihr stets seine volle Aufmerksamkeit geschenkt.

Der Haushofmeister hob seinen Stab, brach ihn entzwei und legte die beiden Hälften ins Grab.

Elizabeth sah sich um und fing Blicke unverhohlener Wertschätzung auf. Von allen Seiten beobachtete man sie.

Als das Abschiedszeremoniell vorbei war, atmete sie innerlich auf.

Philip hatte sie kurz nach der Rückkehr in Clarence House daran erinnert, dass sie das Recht hatte, um ihren Vater zu trauern. Mit ernstem Blick und sanfter Stimme hatte er sie ermahnt, ihre Gefühle nicht beiseitezuschieben. »Du kannst die Empfindungen des Verlusts nicht auf ewig unterdrücken. Trauer lässt sich nicht leugnen«, hatte er sie beschworen.

Auch ihre Mutter hatte ihr geraten: »Kämpfe nicht gegen deine Trauer an, Lilibet.«

Elizabeth wusste, dass unterdrückte Trauer eines Tages übermächtig werden und einem alle Kraft rauben konnte. Doch sie wusste auch, dass sie als Privatperson hinter der Rolle als Monarchin zurückstehen musste. Wie sollte sie es angesichts dieses Widerspruchs schaffen, sich nicht völlig von ihren Gefühlen abzuschneiden?

Wenn sie im Kreis der Familie über ihren Vater sprachen, versteifte sie sich häufig. Es hatte Tage gedauert, bis sie nach dem ersten Schmerz in Kenia ein zaghaftes, schneidendes Gefühl in sich wahrgenommen hatte, das sie immer dann überkam, wenn sie die schreckliche Gewissheit zuließ, ihren Vater nie wiederzusehen. Dieses Gefühl machte ihr die Endgültigkeit seines viel zu frühen Todes nur allzu deutlich klar.

Eines Nachts war sie erwacht, und salzige Tränen waren über ihr Gesicht geströmt. Der Verlust, den sie erlitten hatte, schien ihr untragbar. Hinzu kam die diffuse Angst vor ihren neuen Aufgaben. Konnte sie in die Fußstapfen ihres Großvaters und ihres Vaters treten? Würden die Menschen sie als Königin respektieren? Im Grunde war sie nur eine junge Mutter und Ehefrau. Sie fühlte sich so verloren.

In Clarence House hatte sie mit Philip vor dem Kamin im Salon gesessen, vereint in stummer Eintracht. Wenn er bemerkte, dass sie mit sich rang und die trüben Gedanken in ihr überhandnahmen, hatte er sie in seine Arme gezogen und schweigend gehalten.

»Wir finden einen Weg.« Philip würde ihr beistehen. Er tat es bereits, denn er war für sie da.

Abends hatte Elizabeth vor ihrem Bett niedergekniet, den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet. In der Intimität dieses Moments hatte sie die Worte gemurmelt, die sie schon so lange kannte: »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden …«

Seit sie denken konnte, war ihr das Gebet eine wichtige Stütze. Groll und Hass sollten keinen Platz im Leben haben. Negative Gefühle waren zerstörerisch und hielten einen davon ab, nach dem Guten im Menschen zu suchen. Zu vergeben, falls es nötig war.

Margaret war regelmäßig vorbeigekommen. Zerbrechlich und blass hatte sie sich in ihr Taschentuch geschnäuzt, bis es nur noch ein winziges Knäuel in ihren Händen gewesen war.

»Ich kann nicht mehr schlafen, weil das Gefühl der Überforderung keinen Moment aufhört. Auch nachts nicht«, klagte sie, die Augen vom Weinen geschwollen. »Ich denke ständig an Mummy und mache mir Sorgen um sie. Sie fühlt sich so allein und verloren. Verlassen vom wichtigsten Menschen ihres Lebens.«

»Ach, Bud. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dich trösten könnte …«

Sie waren in ihrer Trauer vereint und wussten beide, dass sie den Kummer aushalten mussten, bis er hoffentlich irgendwann schwächer würde.

Auch heute versteckte Margaret die Augen hinter einem Taschentuch.

»Was mache ich nur, wenn ich diesen Kummer nie mehr loswerde? Wenn ich nie wieder ich selbst bin?« Diese Frage hatte sie ihr häufig gestellt.

»Du wirst wieder du selbst sein, Bud. Ich verspreche es dir. Ich weiß nur nicht, wie lange dieser schmerzliche Prozess dauert.«

Elizabeth stellte sich vor allem die Frage, woher sie die Kraft nehmen würde, ihr Amt auszufüllen und ihre Rolle als Mutter mit der der Souveränin zu verbinden.

»Die Menschen werden mich an den Taten meines Vaters messen«, hatte sie Philip gestern beim Abendessen anvertraut. »Ich trete ein großes Erbe an. Ich darf das Volk nicht enttäuschen.«

»Auch du selbst wirst dich an deinem Vater messen. Du hast Angst, und diese Angst zeigt, dass du dir deiner Aufgabe bewusst bist und sie ernst nimmst. Du kannst niemanden ersetzen oder kopieren. Du kannst nur du selbst sein und dich dem Volk als die zeigen, die du bist. Du wirst die Menschen davon überzeugen, dass du willens und fähig bist, dem Land zu dienen. Der Dienst an der Krone ist die für dich vorgesehene Aufgabe. Diese Pflicht wirst du erfüllen, Lilibet. Und ich helfe dir … jeden einzelnen Tag.«

Philip hatte ihre Zweifel beiseitegewischt, jedenfalls großteils. Ihr Glaube und seine Unterstützung würden ihr helfen, eine gute Monarchin zu sein.

Auch Margaret und ihre Mutter hatten versprochen, für sie da zu sein. Ihre Mutter musste sich allerdings zuerst mit der Rolle der Königinmutter – der Queen Mum – zurechtfinden.

Elizabeth trat einen Schritt vor und ergriff die Hand ihrer Schwester. Ich bin da, sagte ihr Händedruck.

Ich bin da, sprach sie ein weiteres Mal stumm aus. Diesmal waren die Worte an die Menschen gerichtet – an ihr Volk. Als Versprechen, ihre Aufgabe, solange sie lebte, niemals aus den Augen zu verlieren.