März 1955
England, London,
Buckingham-Palast
Philip knotete den Gürtel seines Morgenmantels. »Wie stehen die Dinge in der Downing Street? Hat Churchill endlich eingesehen, dass es besser ist, sein Amt niederzulegen?«
Elizabeth legte die Haarbürste beiseite. »So gut wie. Er braucht nur noch einen kleinen Stups.«
»Na endlich. Er hat Anthony Eden auch lange genug herausgefordert.«
»Als würde der den Kampf um ein Amt nicht selbst am allerbesten kennen«, warf Elizabeth ein.
»Man schaut nun mal leichter auf die Fehler anderer als auf die eigenen.«
Elizabeth stieg in ihre Hausschuhe, bereit, sich in ihr Schlafgemach zurückzuziehen.
Winston Churchill war nach einem schweren Schlaganfall, in dessen Folge er teilweise gelähmt war, zum Problem geworden, dessen Elizabeth sich hatte annehmen müssen. Lord Salisbury und Richard Butler hatten sich entschlossen, Churchills Zustand zu verharmlosen, weil sie Angst hatten, ohne ihn die Macht zu verlieren.
»Die Menschen schätzen, was Churchill für das Land getan hat. Aber diesmal geht er zu weit. Er klammert sich an sein Amt, als könnte er ohne es nicht überleben«, hatte sie zu Philip gesagt, als ihr klar geworden war, dass der Premierminister partout nicht abtreten wollte.
Seine Rückkehr an die Macht 1951 war als Erfolg und Tragik zugleich zu werten. Die Reputation seines Namens hatte die Konservativen wieder an die Regierung gebracht, aber Churchills Gesundheit war der Bürde des Amtes nicht länger gewachsen. Es stand schlimm um ihn, doch er wollte es nicht wahrhaben.
Philip hatte ihr geraten, ein ernstes Wort mit ihm zu sprechen. »Du als Königin bist die Einzige, die ihn bitten kann, sein Amt niederzulegen.«
»Ich weiß, aber ich habe geschworen, im Sinne meines Vaters zu regieren. Und er hasste Veränderungen und liebte Churchill. Wo soll ich ansetzen, um den Premierminister zur Einsicht zu bringen?«, hatte sie erwidert.
Nun sagte sie zu Philip: »Wie ich Churchill kenne, wird er auf dem Parteitag der Konservativen im Herbst sprechen wollen.«
»Kann er das in seinem Zustand überhaupt bewerkstelligen?«
»Vermutlich wird er verbissen daran arbeiten, der Kampf um seine Gesundheit ist für ihn gleichbedeutend mit seiner Identität als Politiker. Und er ist nicht zu unterschätzen. Er ist dickköpfig und stur wie ein Esel und scheut sich nicht, sich mit mir anzulegen. Wenn er meine Bitte, zurückzutreten, ablehnt, kommt es zur Staatskrise.«
1953 hatte Elizabeth Winston Churchill zum Ritter des Hosenbandordens ernannt. Außerdem war ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen worden. Seine Marlborough-Biografie und seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hatten ihm die hohe Auszeichnung eingebracht.
Zigarren, Whisky und opulente Mahlzeiten waren seine Vorlieben, nicht zu vergessen seine Frau und die Pudel. Churchill liebte die zwergigen, rotbraunen Exemplare. Doch am meisten liebte er sein Amt. Ein Leben ohne Politik war für ihn offenbar kaum vorstellbar.
»Seine Reden zur Verteidigung menschlicher Werte haben mich immer inspiriert. Er ist brillant, wenn er spricht. Ich werde ihm nach dem Amtsverzicht den Titel eines Duke of London anbieten. Was der schicksalsgläubige Churchill wohl dazu sagen wird?«
»Ich denke, da kann ich mit einer Antwort dienen. Er wird um jeden Preis Mitglied des Unterhauses bleiben wollen. Dem House of Commons schwört er nicht ab. Er wird sich nicht auf seinen Landsitz in Kent zurückziehen, um sich dort der Malerei und den Hunden zu widmen.«
»Was ist mit dem Schreiben?«, warf Elizabeth ein.
»Keine Chance«, glaubte Philip.
Churchills Ansehen in der Öffentlichkeit hatte sich mit den Jahren gewandelt. Die Menschen nahmen ihn inzwischen als eine Art Antiquität wahr.
»Churchill hat viele meiner anfänglichen Zweifel mit einem Handstreich weggewischt«, erinnerte sich Elizabeth. »Das werde ich ihm nie vergessen.«
Die wöchentlichen Termine mit ihm würden ihr für immer in Erinnerung bleiben. Ebenso die vielen Stunden, die er sich Zeit für Margaret und sie genommen hatte, als sie noch Kinder waren. Er hatte sein Wissen und seine Erfahrungen stets mit ihnen geteilt und war nie müde geworden, ihre Fragen zu beantworten. Aber für jeden kam der Zeitpunkt, an dem man sich klarmachen musste, dass man alt, und, in seinem Fall, gebrechlich war und Jüngere auf ihre Chance warteten.
»Ich weiß, ich als Königin auf Lebenszeit habe leicht reden«, sprach Elizabeth weiter. »Niemand wird mich je infrage stellen. Zumindest hoffe ich das … Aber wahrscheinlich liegst du mit deiner Einschätzung richtig. Er wird den Titel ausschlagen. Das sei ihm unbenommen. Also keine erbliche Peerswürde für Winston Churchill.« Elizabeth' Gesichtszüge wurden weich, als sie über den Teppich auf Philip zukam. »Sag mal«, begann sie, »wäre es etwas für dich, zurückgezogen auf dem Land zu leben und nur noch das zu tun, was dir in den Sinn kommt, wenn du die achtzig überschritten hast?«
Elizabeth glaubte die Antwort bereits zu kennen, doch sie wollte sich nicht des Vergnügens berauben, sie aus dem Mund ihres Mannes zu hören.
»Ich bin ein anderes Kaliber, das solltest du inzwischen wissen.« Philip sah auf die Hunde hinab, die um Elizabeth herumtollten. »Außerdem lässt du nie und nimmer zu, dass die Corgis zu mir überlaufen, wenn ich es mir später im Grünen gemütlich mache.«
Das Bild, das Philip zeichnete, amüsierte Elizabeth.
»Du schiebst es tatsächlich auf die Hunde? Die schwächsten Glieder in der Kette.«
»Die schwächsten Glieder in der Kette?« Philip lachte auf. »Hast du unsere Flitterwochen vergessen? Wer hatte in dieser Zeit denn das Sagen? Ich oder dein Liebling Susan?«
Elizabeth breitete die Arme aus und umarmte Philip. »Ich gebe zu, dass Susan uns hin und wieder gestört hat, wenn sie raus wollte.«
»Sie wollte mit dir raus! Wohlgemerkt«, erinnerte Philip sie.
Sie standen eng umschlungen da, scherzten und wünschten sich, nachdem die Hunde in ihr Zimmer gebracht worden waren, eine gute Nacht.
»Gute Nacht, Liebes. Bis morgen.« Philip gab Elizabeth einen Kuss.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ließ Elizabeth sich aufs Bett sinken und schob die Füße unter die Daunendecke.
Der tägliche Ablauf im Buckingham-Palast funktionierte immer besser. Seit letztem Jahr kümmerte sich Lord Plunket, Stellvertreter ihres obersten Hofmeisters, um das öffentliche und private Leben, koordinierte Staatsempfänge und Hauspartys und besorgte sogar die Geburtstagsgeschenke für Anne oder Charles. Plunket legte sein ganzes Augenmerk auf die Arbeit. Auf ihn konnte sie auch in schwierigen Momenten zählen. Er wusste, wie lange ein Mittagessen dauerte – nicht länger als fünfzig Minuten – und dass ein Essen abends keine zwei Stunden in Anspruch nehmen sollte, Tischreden inklusive. Außerdem wusste er, dass Samstage für Elizabeth normale Wochentage waren.
»Wie sonst sollen Menschen, die von montags bis freitags rechtschaffen ihrer Arbeit nachgehen, mich sehen? Schließlich komme ich nicht jeden Tag bei ihnen vorbei«, lautete ihre Devise.
Ein wichtiger Punkt waren außerdem die Sicherheitsmaßnahmen.
»Zu viele Maßnahmen erschweren meine Arbeit oder machen sie zunichte. Es ist wichtig, dass ich Kontakt mit den Menschen aufnehme. Also keine Kolonne von Motorradfahrern neben meinem Wagen, sonst sieht man mich nicht. Menschlichkeit ist gleichbedeutend mit Verwundbarkeit. Und ich möchte mich den Leuten als Mensch zeigen, nicht nur als ihre Königin.«
Elizabeth' Blick fiel auf das Buch auf ihrem Nachttisch. Margaret hatte ihr den Roman bei ihrem letzten Besuch mitgebracht. Sie war schon in Kindertagen eine unersättliche Leserin gewesen und verschlang noch heute alles, was ihr in die Finger kam.
Elizabeth griff nach dem Buch, doch ein Bild schob sich vor ihre Augen: Margarets weißbehandschuhte Hand, die über das Revers von Peter Townsends Uniform streicht und dort einen Fussel entfernt …