April 1955

England, London,
Downing Street,
Buckingham-Palast

Ein satter Summton war zu hören, während der Wagen durch die Straßen fuhr. Die Route war wie immer durch Scotland Yard freigemacht worden, und an den wichtigen Kreuzungen standen Polizisten, um die Fahrt zu überwachen.

Die Stadt zog an Elizabeth vorüber und kam ihr vor wie ein Lebewesen, das ständig in Bewegung war. Nichts blieb je gleich. Elizabeth tastete nach der Handtasche und zog sie auf den Schoß. Gewöhnlich nahm sie keine Einladungen zum Abendessen an. Schweres Essen, Zigarrenrauch und Tischreden gehörten zu den Dingen, die sie nicht mochte.

Wenn sie einen freien Abend hatte, war sie am liebsten privat und fütterte gegen fünf die Hunde. Es war entspannend, den Tieren zuzusehen, wie sie, die Köpfe eifrig über die Näpfe gebeugt, fraßen. Wenn die Hunde versorgt waren, spielte sie mit den Kindern, puzzelte mit ihnen oder fragte sie nach ihrem Tag. Charles war mittlerweile sechs und Anne vier. Die Momente, wenn sie den Kindern zusah, wie sie vorm Schlafengehen in der Badewanne plantschten, gehörten zu den schönsten, die das Leben ihr bieten konnte. Leider hatten Philip und sie nicht oft die Gelegenheit, als Familie zusammen zu sein.

An diesem Abend kam sie jedoch nicht umhin, den Buckingham-Palast zu verlassen, denn Winston Churchill war endlich so weit, zurückzutreten.

»Wir sind am Ziel, Ma'am. Downing Street Nummer 10«, teilte der Fahrer ihr mit.

Elizabeth murmelte einen leisen Dank. Sie war gespannt darauf, wie der Abend verlaufen würde. Offenbar gefiel es Churchill, sie als erster amtierender Premierminister zum Essen in die Downing Street einzuladen. Zurückhaltung lag ihm nicht, er blieb sich bis zum letzten Tag treu.

Als er sie gebeten hatte, ihm am Abend des 5. April die Freude eines gemeinsamen Essens zu machen, hatte sie nach kurzem Zögern zugesagt. Der 6. April war als Tag seines Rücktritts festgesetzt worden, und ein geordneter Abgang wäre wichtig.

Churchill erwartete sie bereits im Eingangsbereich seines Amtssitzes.

Schlagartig fiel ihr wieder ein, dass er anfangs die schützenswerte junge Frau in ihr gesehen hatte, die keine Ahnung vom politischen »Geschäft« hatte. Doch sie war schon damals weder rührselig noch uninformiert gewesen, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, wie Churchill es vermutet hatte. Sie hatte gewusst, dass Aufgaben pragmatisch anzugehen waren und private Befindlichkeiten und persönliche Meinungen nichts zur Sache taten. Ihren Beitrag zu leisten, darauf war sie von Kindesbeinen an vorbereitet worden.

»Eure Majestät.« Wie stets verbeugte Churchill sich vor ihr. »Danke, dass Sie mir die Freude Ihrer Gesellschaft gewähren.«

»Gern, Premierminister. Es ist für uns beide ein besonderer Abend«, erwiderte Elizabeth und folgte ihm zu Tisch, während sie etwas Smalltalk machten.

»Wie geht es Ihrer Frau? Sicher freut sie sich darauf, Sie bald häufiger um sich zu haben.«

»Zu diesem Thema kann ich Ihnen nicht verlässlich Auskunft geben, Ma'am. In letzter Zeit behauptet meine Frau, ich sei am besten auszuhalten, wenn ich einen Pinsel oder einen Stift in der Hand habe. Aber ich denke, das sagt sie schon seit Jahren, ich habe mich nur immer bemüht, es zu überhören.«

Elizabeth musste lächeln, obwohl Churchills Wehmut, sein Amt aufzugeben, deutlich spürbar war. »Ich lasse Ihnen einen Satz Pinsel zukommen, dann ist für den Hausfrieden gesorgt«, versprach sie.

»Sehr großzügig von Ihnen, Ma'am.« Churchill drehte leicht den Kopf. »Ich hoffe, in Ihrer Familie erfreuen sich alle guter Gesundheit?«

»Danke der Nachfrage. Allen geht es gut«, bestätigte Elizabeth.

Churchill wusste, wie rar freie Abende bei ihr waren, und so hoffte sie, dass der Abend sich nicht allzu sehr ausdehnen würde.

Zum Essen wurde Weißwein gereicht. Elizabeth nippte an ihrem Glas. Vom leisen Klappern des Bestecks begleitet, aßen sie. Nach dem Hauptgang nahmen sie in schweren Sesseln Platz.

In einem Aschenbecher auf dem Tisch neben Churchills Sessel lag eine unberührte Zigarre, nach der er, zu Elizabeth' Freude, jedoch nicht griff.

Nach einer Minute des Schweigens begann Churchill das offizielle Gespräch, dessentwegen er Elizabeth zu sich gebeten hatte.

»Ich werde keine offizielle Empfehlung für einen Nachfolger aussprechen, Ma'am«, kündigte er an. Er nahm einen Schluck Wein und stellte das Glas mit zitternder Hand zurück auf den Holztisch.

Elizabeth folgte seinem sehnsüchtigen Blick auf die Zigarre. »Allerdings würde ich Sie bitten«, fuhr er fort, »mit der Berufung meines Nachfolgers noch zu warten. Dann wird die Tatsache, dass es Ihr Vorrecht ist, den Premierminister zu bestimmen, hervorgehoben. Ich hoffe, Sie gönnen mir das kleine Vergnügen, Ihnen diesen Ratschlag geben zu dürfen.«

»Nun … wenn es Ihnen wichtig ist, Premierminister.«

»Das ist es, Ma'am.«

Elizabeth suchte in Churchills von Alter, Krankheit und ungesunden Lebensgewohnheiten gezeichneter Miene nach einer Antwort auf die Frage, ob er ohne die Herausforderung, die Würde und das Ansehen, die das Amt des Premierministers mit sich brachten, zurechtkäme. Zu ihrer Verwunderung verspürte sie selbst einen Anflug von Wehmut. Das Hin und Her seines Rücktritts hatte sie auf Trab gehalten und wäre morgen offiziell vom Tisch. Churchills Abgang markierte auch für sie das Ende einer Ära.

Nicht nur der scheidende Premierminister, auch Elizabeth hielt gern an Strukturen fest. Feste Abläufe beruhigten sie: die erste Tasse Tee, die Bobo ihr morgens zusammen mit der privaten Post ans Bett brachte; die erste Zeitungslektüre noch im Bett und die Vorfreude auf das Kreuzworträtsel des Daily Telegraph; Macdonald auf dem Dudelsack vor ihrem Fenster, dem sie lauschte – ein Ritual, das auf Königin Victoria zurückging, die 1843 Gefallen daran gefunden hatte, einen Dudelsackspieler zu beschäftigen –, und Philips Kommentare zu den BBC-Nachrichten. Um zehn am Vormittag brachten Michael Adeane oder Martin Charteris ihr die Post. Briefe mit politischem oder administrativem Inhalt leitete sie an die zuständigen Regierungsstellen weiter; Briefe von Kindern, die sie ebenfalls häufig erreichten, übernahmen die Hofdamen. Es war schade, dass sie keine Zeit hatte, sich selbst darum zu kümmern.

Abends ein Gin Tonic und die Red Box. Wenn Parlamentssitzungen stattfanden, erhielt sie vor dem Dinner einen zusammenfassenden Bericht über die Debatten. Waren sie in Sandringham oder Balmoral, wurde der Text telefonisch an einen ihrer Sekretäre weitergeleitet. Kleine Auszeiten, während der sie mit Anne und Charles spielte, ausritt oder mit den Hunden ins Gelände ging. Abends der angeschaltete Fernseher und die Zeitschriften mit Berichten auch über sich selbst. Ein Leben ohne Struktur kannte sie nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen.

Und nun saß sie in der Downing Street, Churchill im Gehrock ihr gegenüber. Selbst an seinem letzten Tag als Premierminister schonte er sich nicht.

Egal, wie es ihm gesundheitlich ergangen war, nichts hatte ihn je davon abgehalten, zu ihr nach Balmoral zu kommen und sich die Zeit zu nehmen, die Ponys der Kinder zu begutachten. Und mehr als einmal hatte Elizabeth sich davon überzeugen können, wie sehr er es genoss, anwesend zu sein, wenn Philip mit Gästen von der Jagd in den Hochmooren zurückkam.

Selbst während ihrer zweiten Reise nach Australien und Neuseeland war Churchill präsent gewesen. In den sechs Monaten, die sie fern von England verbracht hatte, hatte er seinem Sekretär Jock Colville Briefe an sie diktiert.

Auf jeden dieser Briefe hatte Elizabeth ihm, ganz in der Tradition ihres Vaters, handschriftlich geantwortet. Später hatte man ihr zugetragen, es habe Churchill zu schaffen gemacht, ihr nicht ebenfalls etwas Handschriftliches zukommen lassen zu können.

Elizabeth sah in Churchills wässrige Augen. Die Augen eines Mannes, der Unglaubliches erlebt, erlitten und erfahren hatte und immer noch nicht genug vom Leben hatte.

»Was Ihren Nachfolger anbelangt, ist der Fall nicht besonders kompliziert.«

»Die Tories, das Establishment und die Presse sehen in Mr Eden den einzigen Kandidaten für das Amt, ich weiß«, polterte Churchill. »Und mir ist klar, dass er sich als ewiger Kronprinz schon eine ganze Weile nicht mehr wohl in seiner Haut fühlt.«

»Wer kann es Mr Eden verdenken? Wie die Dinge stehen, bleibt nicht viel für mich zu tun.«

Mitfühlend blickte Elizabeth auf Churchill. Er hatte die Schultern nach vorn über den korpulenten Körper geschoben und grummelte vor sich hin.

Als junge Königin war sie in eine Ära alter Männer eingebrochen, und nun schied einer aus diesem Bund aus.

»Ihre Nachfolge ist die eine Sache, Premierminister«, sagte Elizabeth.

Churchill zog die Schultern etwas nach hinten.

»Mich beschäftigt allerdings ein weiteres Thema, über das ich gern mit Ihnen sprechen möchte.« Sie hob die Stimme, um zu verdeutlichen, wie wichtig ihr war, was nun folgte. »Für Ihre langjährigen Dienste würde ich Ihnen gern den Titel eines Herzogs verleihen. Großbritannien hat Ihnen viel zu verdanken. Sie haben den Menschen mit Kraft, Ausdauer und Klugheit, nicht zu vergessen mit Besonnenheit gedient.«

Churchills Augen weiteten sich. Er richtete sich an dem Lob auf, und so fuhr Elizabeth fort und berichtete von der geplanten Titelvergabe. »Duke of London«, schloss sie ihre Überlegungen, »ein Titel, dessen Sie sich würdig erwiesen haben.«

Churchill hustete krächzend. »Sie waren bereits so großzügig mich zum Ritter des Hosenbandordens zu schlagen. Das haben Sie nicht vergessen, Ma'am, nicht wahr?«

»Wie könnte ich? Mein Vater hat Ihnen den Orden schon Jahre zuvor angetragen. Umso glücklicher war ich, als ich seinen Wunsch endlich umsetzen konnte. Es hätte meinen Vater gefreut, wenn er es hätte erleben können.«

»Zu freundlich von Ihnen, Ma'am. Ich nehme an, es wundert Sie nicht, zu hören, dass ich weiterhin Mitglied des Unterhauses bleiben möchte. Auf den hinteren Rängen des House of Commons werde ich hoffentlich niemanden stören. Ein alter Mann, der nicht mehr als Zeuge der Geschehnisse sein möchte.«

Der neue Titel würde nicht nur Churchill selbst, sondern auch seinen Sohn betreffen. Der Gesetzeslage nach war der Herzogtitel eine erbliche Peerswürde und würde nach dem Tod seines Vaters auf Randolph Churchill übertragen. Doch Randolph hatte sich ebenfalls der Politik verschrieben und wäre demnach dann gezwungen, in das Oberhaus, das House of Lords, zu wechseln.

»Nun, ich bin mir sicher, dass Sie sogar, ohne ein Wort zu sagen, einen gewissen Einfluss geltend machen werden. Sicher freut man sich, Sie dort in Zukunft zu sehen.«

Churchill hob die Hand und kratzte sich am Hals. Mit einem Mal wirkte er müde und erschöpft. »Zumindest einige wird es nicht stören, mich dort zu sehen«, schränkte er ein. »Und was den Titel anbelangt, muss ich ihn leider ausschlagen. Es war mir eine Ehre, dem Land und der Krone zu dienen, Ma'am. Das Einzige, was mich betrübt, ist die Tatsache, dass ich meinem Nachfolger das ungelöste Problem mit Prinzessin Margaret hinterlasse.«

Churchills düsterer Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass sich seine Meinung zu einer eventuellen Heirat Prinzessin Margarets mit Group Captain Townsend nicht geändert hatte. »Ich habe nicht vergessen, wie das Land durch den Rücktritt König Eduards VIII., um Mrs Simpson zu heiraten, verunsichert wurde. Es hat vielen das Herz gebrochen und auch mich zutiefst erschüttert, Zeuge dieser Periode der Instabilität zu sein.«

»Auch ich habe dieses schmerzliche Ereignis noch deutlich vor Augen«, sagte Elizabeth kummervoll. Dieses Thema berührte sie, würde es immer tun. »Der Rücktritt des Königs hat den Alltag meiner Familie von Grund auf verändert. Ohne ihn sähe mein Leben heute gewiss anders aus. Prinzessin Margaret ist jedoch lediglich die vierte in der Thronfolge.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Ma'am. Dennoch halte ich an den Werten der Kirche fest«, beharrte Churchill. »Wie Sie wissen, wird jede Ehe vor Gott geschlossen und hat vor ihm Bestand. Group Captain Townsend ist vor Gott noch immer verheiratet. Daran ändert auch seine Scheidung nichts. Deshalb bin ich entschieden dagegen, dass Prinzessin Margaret eine Verbindung mit ihm eingeht.«

Elizabeth maß Churchill mit einem ernsten Blick. Nein, es wäre nicht leicht für Margaret, eine Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen. Die Riege der alten Männer war entschieden gegen sie.

Als sie nach Hause kam, war Philip in seinem Arbeitszimmer und sah auf, als sie eintrat.

»Wie war es?«, erkundigte er sich. »Nimmt der gute alte Churchill die Beförderung an?«

Elizabeth kam näher und gab Philip einen flüchtigen Kuss. »Du lagst richtig mit deiner Vermutung. Er will den Titel nicht. Davon abgesehen lief alles ohne besondere Vorkommnisse ab. Das Ende einer Ära ist so gut wie besiegelt.« Elizabeth deutete auf die Berge von Papieren auf Philips Schreibtisch. »Womit beschäftigst du dich zu so später Stunde? Was hält dich so lange wach?«

»Lastkraftwagen.« Philip griff nach einer Zeichnung, auf der eine Konstruktion zu sehen war, aus der Abgase entwichen.

»Sie gehören dringend umgebaut. Die Abgase sollten oberhalb der Fahrerkabine abgeleitet statt wie bisher horizontal in die Gesichter der Fußgänger und Kinder geblasen werden. Als Präsident des Automobilclubs sehe ich es als meine Pflicht an, Abhilfe zu schaffen.«

»Und das hier?« Elizabeth tippte auf einen Zettel mit Notizen. Rasch überflog sie einige Sätze. »Du willst zukünftige Chefs von Unternehmen und Gewerkschaften auf der ganzen Welt in gemischten Gruppen zusammenbringen, um Erfahrungen auszutauschen?«

Philip strahlte vor Enthusiasmus. »Warum nicht?! Anstatt langweiligen Reden beizuwohnen, die niemanden interessieren, könnten sie sich vernetzen und zusammenarbeiten – und so etwas bewirken, wovon die ganze Welt profitieren würde.«

»Duke of Edinburgh's Study Conference«, las Elizabeth auf dem vollgeschriebenen Papier. »Klingt innovativ. Wieso hat sich bisher niemand darum gekümmert?«

Philip zuckte mit den Schultern. »Weil es anscheinend keine Menschenseele interessiert. Vermutlich wird man mir vorwerfen, ein Freund der Labour-Partei zu sein. So links wie Onkel Dickie.«

Elizabeth rieb sich über den Knöchel. »Davon lässt du dich bestimmt nicht abschrecken. Du liebst es doch, deine Gegner aus dem Feld zu schlagen. Entweder mit stoischer Ruhe oder mit direktem Angriff.«

»Habe ich denn eine Wahl? Wenn ich etwas verbessern will, muss ich mich notfalls sogar einen linken Sympathisanten schimpfen lassen.«

»Siehst du. Genau das meine ich.«

Nicht wenige innerhalb des Hofs begegneten Philip immer noch mit Misstrauen. Andere reagierten mit Gleichgültigkeit auf ihn. Beides war nicht gerade ein Kompliment, doch an beides hatte Philip sich gewöhnt. Egal, was man ihm unterstellte, er verfolgte Themen, die ihn interessierten, hartnäckig, biss sich mitunter daran fest. Und von den Projekten, über die er gerade sprach, war er offenbar überzeugt.

»Ich bin müde und gehe zu Bett. Kommst du mit?«

Philip legte den Stift beiseite und deutete auf das Blatt, auf dem eine Liste zu sehen war. »Geh schon mal vor. Ich möchte das hier noch fertig machen. Ich komme später nach.«

Elizabeth strich Philip übers Haar, küsste ihn aufs Haupt und verließ sein Arbeitszimmer.

Im Schlafzimmer ließ sie sich in den Sessel vor dem Fenster sinken. Dort saß sie morgens manchmal, um kurz innezuhalten, bevor der Tag begann.

Dieses Jahr feierte Margaret einen ganz entscheidenden Geburtstag – ihren fünfundzwanzigsten. Bis dahin waren es nur noch vier Monate. Es gab kaum einen Tag, an dem Elizabeth nicht daran dachte, was dieses Datum für ihre Schwester und auch für sie selbst bedeutete. Sie dachte nach. Plötzlich war die Müdigkeit wie weggeblasen, sie war hellwach.