18. April 2021
England,
Schloss Windsor
Das Geräusch der Türklinke holte Elizabeth zurück in die Realität. Paul Whybrew stand in der offenen Tür und kündigte an: »Eure Majestät, Mrs Kelly ist da.«
Hinter Paul der vertraute Anblick Angela Kellys. In einem schwarzen Kleid kam sie, voller Vorfreude auf das gemeinsame Mittagessen, auf Elizabeth zu. Elizabeth schob die Tagebücher beiseite. Vom Frühstück abgesehen, war sie seit Stunden mit ihren Aufzeichnungen beschäftigt. Sie erhob sich und strich das schlichte schwarze Kleid glatt, das sie heute angezogen hatte.
Das Erscheinen ihrer Stylistin zauberte ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht. »Angela, Sie bringen hoffentlich nicht nur Appetit, sondern auch die ein oder andere Anekdote zu unserer Unterhaltung mit«, begrüßte sie sie.
Angela ging auf den privaten Ton der Königin ein. »Ma'am, in der Pandemie gönne ich mir, wie Sie wissen, jedes Vergnügen, das uns erlaubt ist. Ein angenehmes Gespräch mit Ihnen gehört selbstverständlich dazu.«
»Mir geht es genauso«, erwiderte Elizabeth.
Angela Kelly war die Tochter eines irischstämmigen Kranführers in den Docks von Liverpool und hatte in den Neunzigern als Assistentin der damaligen Garderobiere im Königshaus angefangen. Bei ihrem ersten Gespräch hatte Elizabeth erfahren, dass Angela geschieden und alleinerziehend war. Später war ihr zu Ohren gekommen, Angela habe sogar ihre Waschmaschine verkauft, um sich für das Vorstellungsgespräch im Palast ein angemessenes Outfit leisten zu können.
Inzwischen lautete Angelas offizieller Titel: Persönliche Assistentin, Beraterin und Kuratorin Ihrer Majestät der Königin … im Stillen setzte Elizabeth gern noch Freundin und AK47 hinzu. Von ihren Kolleginnen und Kollegen war Angela angeblich eine Zeitlang nach dem russischen Sturmgewehr Kalaschnikow benannt worden. Wahrheit oder nicht, es amüsierte Elizabeth.
Seit Beginn der Pandemie lebte Angela, die Bobo nachgefolgt war, als diese 1993 mit 89 Jahren verstorben war, mit Elizabeth in der Royalen Isolationsblase. Darin befanden sich außerdem noch ihr Stallmeister Terry Pendry, ihr Privatsekretär Sir Edward Young und ihr Butler Paul Whybrew. Ein kleiner Kreis, der ihr in dieser besonderen Zeit nahekommen durfte.
Angela war mit ihrem siebenköpfigen Team für Schmuck, Insignien und Garderobe zuständig und inspizierte zudem vor königlichen Besuchen die Veranstaltungsorte. Selbstverständlich achtete sie stets auf die symbolische Bedeutung der Farben von Elizabeth' Garderobe.
Kaum jemand war derart akribisch und perfekt organisiert wie sie. Elizabeth wusste zu schätzen, dass Angela stets den Überblick behielt. Ihrer Kompetenz war es zu verdanken, dass nach neun Monaten Arbeit eine Replik des brüchigen viktorianischen Taufkleids von 1841, in dem ehemals Elizabeth selbst, ihr Sohn Charles und ihr Enkel William getauft worden waren, zur Ansicht fertig gewesen war. Die Nachbildung sah tatsächlich ähnlich vergilbt aus wie das Original, denn Angela hatte das Taufkleid in Yorkshire-Tee gelegt, bis die Farbe ihrer Vorstellung entsprach. Das Ergebnis hatte für sich gesprochen.
Längst hatte Elizabeth Angela zum Mitglied des Königlichen Viktorianischen Ordens ernannt.
Die beiden Frauen nahmen im Speisezimmer Platz. Elizabeth sah auf Angelas schwarze Schuhe.
»Sind sie schon eingelaufen?«, erkundigte sie sich.
»So gut wie, Ma'am. Das Leder ist bald weich genug. Keine Gefahr für Druckstellen oder Blasen.«
»Wunderbar«, seufzte Elizabeth. »Meine Füße wissen es zu schätzen.«
Angela lief nicht nur die neuen Schuhe der Königin ein, neuerdings schnitt sie ihr auch die Haare, weil das übliche Protokoll wegen der Pandemie nicht eingehalten werden konnte. Vor allem jedoch war Angela in Zeiten wie diesen als Gesprächspartnerin unentbehrlich.
Während sie sich unterhielten, wurde die Suppe aufgetragen. Sie kosteten von der Brühe und nippten am Wasser. Elizabeth verzichtete seit einer Weile auf Alkohol.
»Erinnern Sie sich, Angela? 2006? Australien?«, warf Elizabeth nach dem ersten Gang in die Unterhaltung.
Angela ließ ein glucksendes Lachen hören. »Oh, ja.« Sie verzog das Gesicht zu einem Schmunzeln. »Sie haben Kookaburras, aus der Gattung der Eisvögel, erwähnt. ›Der Vogel macht ein Geräusch, das man nie wieder vergisst. Wahrscheinlich sehen wir auf unserer Reise viele von ihnen‹, das waren Ihre Worte, Ma'am.«
»Und dann haben wir nicht einen einzigen gehört oder gesehen.« Elizabeth lächelte bei dem Gedanken daran, was Angela sich deshalb hatte einfallen lassen.
»Was mich dazu verleitet hat, in Sydney einen Spielzeug-Kookaburra zu kaufen und ihn in einem kleinen Käfig auf Ihren Balkon zu stellen. Meine Güte, wie bin ich nur darauf gekommen?« Angela schüttelte amüsiert den Kopf.
»Das habe ich mich auch gefragt, als ich die Käfigtür öffnen wollte und Sie mich warnten: ›Tun Sie das nicht, Ma'am. Er wird wegfliegen.‹ Es hat einen Moment gedauert, bis ich begriffen hatte, dass es nur ein Plüschvogel war.«
»Woraufhin ich ›Aprilscherz‹ gerufen habe, und Sie sagten … ›Sie sind entlassen‹.«
Die Frauen lachten und teilten den Moment fröhlicher Ausgelassenheit. Es tat gut, die Trauer um Philip kurz in den Hintergrund treten zu fühlen. In diesen Momenten erholte sich Elizabeth. Den Rest ihres Mahls nahmen sie plaudernd ein.
Kurz nachdem Angela gegangen war, rief Andrews Exfrau an. Sarah hatte sich in den letzten Monaten immer wieder nach Elizabeth erkundigt, und obwohl die Scheidung schon viele Jahre zurücklag, waren ihr Sohn und Sarah Freunde geblieben, was es für Elizabeth leichter machte, mit der ehemaligen Schwiegertochter Kontakt zu halten.
»Wie geht es Beatrice und Eugenie?« Elizabeth fragte immer zuerst nach den Enkeln und Urenkeln. »Und dem kleinen August?«
August Philip war das erste Kind von Prinzessin Eugenie und ihrem Mann Jack Brooksbank und Elizabeth' neunter Urenkel. Ihre Schwester Beatrice würde, wenn alles glattlief, im September niederkommen.
»Du kennst Eugenie. Sie wird ihrer Rolle als Übermutter jede Sekunde gerecht. Was mich nicht einen Augenblick verwundert«, berichtete Sarah.
Sie tauschten sich über Elizabeth' Enkelinnen und deren Männer aus und sprachen über Sarahs Pläne für die nächste Zeit, und bald kam die Rede auf Harry und Meghan. Sarah war wie alle in der Familie bestürzt, dass die beiden sich fast nur über die Medien meldeten, anstatt mit ihnen zu sprechen, gleichzeitig war sie erleichtert, dass Eugenie noch in Verbindung zu ihnen stand.
Nach dem Telefonat fand Elizabeth sich, wie von unsichtbaren Händen geführt, an ihrem Schreibtisch wieder. Erneut schlug sie eins ihrer Tagebücher auf und überflog einige Einträge über Margaret und Peter Townsend und über Margarets spätere Hochzeit.
Sie blätterte zum Jahr 1972.
Warmer Empfang in Paris durch Präsident Pompidou und seine Frau Claude. Später Wallis und David getroffen. Erschüttert über seinen Zustand … und auch über ihren.
»Meine Güte … eine Reise, die es in sich hatte«, murmelte Elizabeth.
Sie las den Eintrag über ihren Besuch in Paris. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihren Onkel lebend gesehen hatte.