18. April 2021

England, Schloss Windsor

Draußen dämmerte es. In wenigen Augenblicken wäre die Sonne untergegangen.

Elizabeth richtete den Blick noch einmal auf die Tagebücher vor sich auf dem Tisch. Jedes Buch erzählte von einem wichtigen Teil ihres Lebens.

Langsam zog sie eine der Schreibtischschubladen auf und nahm die Notizen heraus, die sie sich zum G7-Gipfel in Cornwall gemacht hatte.

Nach Philips Tod und noch vor seiner Beerdigung war erneut das Gerede losgegangen, man könne ihr mit fünfundneunzig nicht mehr so viel aufbürden. Manche der Mitarbeiter des Premierministers glaubten gar, man könne Elizabeth unmöglich in die große Veranstaltung rund um den Gipfel miteinbeziehen.

»Ein Grußwort oder eine halbe Stunde Tee mit einem Regierungschef … falls er einen Zwischenstopp in Windsor einlegt, wäre schön, Ma'am.«

Dass man ihr diesen Vorschlag tatsächlich unterbreitet hatte, ließ Elizabeth erneut den Kopf schütteln. Sicher, es war gut gemeint, ging jedoch völlig an dem vorbei, was sie selbst vorhatte.

Ihre Antwort war entsprechend eindeutig gewesen.

»Tee bekommen die Regierungschefs an jeder Ecke serviert. In meinem Fall geht es eher um einen Austausch. Aus diesem Grund habe ich vor, einen Empfang für die Regierungschefs zu geben.«

Sie hatte den Biosphärenpark des Eden Project in der Nähe von St. Austell dafür ausgewählt und dies auch unmissverständlich geäußert. Die großen, fragenden Augen, die ihr entgegenschauten, hatten sie beinahe amüsiert. Sie hatte sich in ihrem Leben schon einiges anhören müssen. Wortmeldungen zu ihrer Person gab es täglich.

Der frühere Außenminister Douglas Hurt hatte einmal verlautbart, Elizabeth habe innerhalb der konstitutionellen Monarchie wunderbar funktioniert, allerdings habe sie Gefühle aus sich heraustrainiert. Weder hatte Hurt gewusst, wie sie mit Empfindungen umging, noch wie erfindungsreich sie unter gewissen Umständen sein konnte.

Hurt war nicht dabei gewesen, als ihr Wagen 1986 in Neuseeland mit Eiern beworfen wurde und Elizabeth, nachdem eins auf ihrem pinkfarbenen Mantel gelandet war und sie den ersten Schock überwunden hatte, scherzte: »Ich mag meine Eier lieber zum Frühstück.«

Er hatte unter den Tisch fallen lassen, wie oft sie in ihrer Regentschaft fragwürdigen Gästen zugelächelt hatte, weil das nun mal ihre Aufgabe war.

So dem rumänischen Diktator Nicolae Ceauşescu, dem »schrecklichen kleinen Mann«, und auch anderen. Bevor sie Ceauşescu 1978 mit seiner Frau zu einem offiziellen Staatsbesuch empfangen hatte, war sie von Frankreichs Präsident Giscard d'Estaing hinter vorgehaltener Hand vor dem Diktator gewarnt worden. Ceauşescus Sicherheitsleute hatten in Paris auf der Suche nach Wanzen Löcher in die Wände geschlagen. Sie hatten ganze Zimmer verwüstet, sodass Lampen und Vasen und sogar Badarmaturen sich in Nichts aufgelöst hatten. Es war, als sei eine Diebesbande durch das Hotel gezogen.

Die englische Regierung bedauerte die Einladung bereits, bevor der Besuch überhaupt stattfand, doch Elizabeth hatte gewusst, dass sie es hinter sich bringen musste.

Als die Ceauşescus am Buckingham-Palast eintrafen, war sie gerade mit den Hunden im Park unterwegs gewesen. Sie hatten den Wagen kommen hören, und eingedenk ihrer Devise, so wenig Zeit wie möglich mit den Ceauşescus zu verbringen, war sie, ohne lange nachzudenken, mit den Corgis hinter einen Strauch gesprungen und hatte dort ausgeharrt – in Sicherheit.

Befremdlich erschien ihr damals, dass die Anzüge des Diktators einzeln in Plastik verpackt waren. Offenbar aus Angst, er könnte vergiftet werden. Man hatte ihr mitgeteilt, er öffne jeden Tag einen Plastiksack und hole einen frischen Anzug heraus. Und das war noch nicht alles. Aus Sorge, Angestellte könnten sie belauschen, hatte Ceauşescu darauf bestanden, selbst kurze Unterhaltungen im Garten zu führen.

Es war ausgesprochen skurril gewesen.

Elizabeth hätte Douglas Hurt eine Menge über permanente Selbstkontrolle erzählen können. Es war schwierig, wichtige Aufgaben zu erfüllen, wenn man vor Emotionen verging.

Auch das Treffen mit Martin McGuinness stand Elizabeth noch lebendig vor Augen. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war McGuinness Stabschef der IRA, die mit einem bürgerkriegsähnlichen Aufstand die Abspaltung Nordirlands von Großbritannien hatte durchsetzen wollen. Und obwohl Elizabeth wusste, dass er für die Ermordung Dickie Mountbattens mitverantwortlich war, hatte sie dem Mann mit den schmalen Lippen, der von den britischen Medien als »Staatsfeind Nummer eins« bezeichnet wurde, die Hand gereicht, um den nordirischen Friedensprozess zu unterstützen. Für etwas Größeres lohnte es sich ihrer Ansicht nach immer, die inneren Befindlichkeiten zurückzustellen.

Während einer Reise in den Iran in den sechziger Jahren war Elizabeth' Selbstkontrolle geradezu übermächtig geworden. Sie hatte mit Farah Diba ein Blindenheim besucht, und als sie den Raum mit den Kindern betraten, ging die Kaiserin, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, auf die Knie, um einem der Mädchen liebevoll über die Wange zu streicheln.

Elizabeth war so überrascht von der schlichten Geste gewesen, dass sie zu keiner Reaktion fähig war. Diskretion und Zurückhaltung übertrugen sich bei ihr seit je auf die Körpersprache. Rückblickend wusste sie, dass sie es Farah Diba hätte gleichtun müssen, doch sie hatte den Kindern lediglich zugehört und ein paar Worte an sie gerichtet.

Inzwischen war sie weit älter und gefühlsbetonter. Doch Beurteilungen war sie nach wie vor ausgesetzt. Nun maßte man sich an, abschätzen zu können, was sie noch leisten konnte und was nicht.

Doch Elizabeth war entschlossen weiterzumachen, und zwar mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Auf ihre Unerschrockenheit hatte sie sich stets verlassen können und würde es weiterhin tun.

Wie zum Beispiel 1998, als König Abdullah von Saudi-Arabien sie auf Balmoral besuchte und sie sich kurzentschlossen hinters Steuer ihres Land Rovers setzte und mit ihm als Beifahrer eine Runde drehte. Im Rückspiegel hatte sie gesehen, wie unwohl der König sich fühlte, und schon kurz darauf hatte er sie über seinen Dolmetscher gebeten, langsamer zu fahren. Das Bild saudischer Frauen vor Augen, denen das Autofahren untersagt war, war Elizabeth kommentarlos im selben Tempo weitergefahren.

Es gab vieles, worüber sie nicht sprechen durfte, doch sie fand andere Wege, sich »Gehör« zu verschaffen.

Wortmeldungen, etwa über ihren Mut, motivierten sie am meisten, den Weg des Dienstes an den Menschen in gewohnter Weise weiterzugehen. Mit ihr wäre zu rechnen, solange ihre Gesundheit es zuließ, das hatte sie inzwischen hoffentlich klargestellt.

Einige Stunden Privatleben mit der Familie, den Pferden und den Hunden waren entspannend, doch die Arbeit war der Anker, der ihr Leben stabilisierte. Und so würde es bleiben, vorausgesetzt, sie erkrankte nicht oder erlitte einen Schlaganfall.

Elizabeth notierte rasch einige Anweisungen an ihre Mitarbeiter, dann legte sie den Stift beiseite.

Vermutlich würde es auch beim G7-Gipfel in Cornwall wieder mal an ihr liegen, dafür zu sorgen, dass die Fotos, die gemacht wurden, nicht allzu steif wirkten. Wenn alle in Reih und Glied nebeneinandersaßen, lockerte Elizabeth die Stimmung gern durch einen Scherz auf.

»Vergessen Sie nicht, es sollte auf den Fotos zumindest so aussehen, als hätten wir ein bisschen Spaß.«

Wenn sie etwas in der Art sagte, entlockte sie den Politikerinnen und Politikern häufig ein spontanes Lächeln. Nähe entstehen zu lassen, war ihre Art, einen Beitrag zu leisten. Kleinigkeiten zeigten oft große Wirkung.

Elizabeth schob ihre Notizen beiseite. Charles, Camilla, William und Kate würden sie nach Cornwall begleiten. Eine gemeinsame Anreise im Zug war von ihrem Büro organisiert worden. Beim Gipfel bekäme Charles die Gelegenheit, über seine Initiative gegen den Klimawandel zu informieren, was ihm sehr am Herzen lag.

Sie selbst würde am Abend mit dem Zug nach Windsor zurückfahren, um am nächsten Tag eine kleine Geburtstagsparade zu ihren Ehren abzunehmen. Und am Sonntag stand eine Privataudienz mit Joe Biden und seiner Frau Jill an.

Als im Januar das Kapitol in Washington gestürmt wurde, hatte Elizabeth vor dem Fernseher die verstörenden Bilder verfolgt.

Auch wenn man allgemein annahm, die Monarchie in Großbritannien sei über Derartiges erhaben, kam es doch darauf an, immer wieder deutlich zu machen, wie wichtig Kontinuität, Verlässlichkeit und Zusammenhalt waren.

Auch die Regierung wusste das und nutzte die Monarchie, um die Einheit zu stärken. Gordon Brown, James Camerons Vorgänger, hatte ein reformiertes Oberhaus in Form eines Senats gefordert, der für alle Regionen Großbritanniens sprechen sollte. Ihm schwebte ein Kabinett der Nationen vor, um der Vereinigung der vier Länder – England, Wales, Schottland und Nordirland – mehr Bedeutung zu verleihen. In einem Telefonat hatte er Elizabeth versichert, wie wichtig die Union of the Crowns gerade in diesen Zeiten war. Ihre Rolle in Schottland unterstrich dies.

Die Monarchie war das wichtigste anglo-schottische Bindeglied. Die Union of the Crowns war zustande gekommen, weil Königin Elizabeth I. 1603 kinderlos starb. Die englische Krone ging an ihren Cousin James VI., König von Schottland. Wenige Jahre später, 1606, gab der König eine frühe Version der Nationalflagge des Vereinigten Königsreichs, des Union Jack, in Auftrag, mit dem Wunsch, das Georgskreuz und das Andreaskreuz darauf zu vereinen.

Doch wenn Schottland auf republikanischem Kurs blieb, wäre der Ausgang ungewiss. Wenn es zum Schlimmsten käme, müsste man nicht nur die Staatsgewalt trennen, sondern auch den Zusammenschluss der zwei Kronen brechen. Während ihrer Regentschaft würde es vermutlich nicht zu einer Abspaltung kommen, doch nach ihrem Ableben könnte das anders aussehen.

Sie musste mit Charles ausloten, was dann zu tun wäre.

Die Stärke der Monarchie lag nicht in der Macht, die die Krone früher einmal innegehabt hatte. Entscheidend war die Stärke, die man im Miteinander entwickelte. Elizabeth wurde nie müde, auf die Wichtigkeit der kleinen Schritte hinzuweisen. In ihrer Weihnachtsansprache 2016 hatte sie das deutlich gemacht.

»Nicht alle von uns können große Dinge tun. Aber wir können kleine Dinge mit großer Liebe tun.«

Die Worte stammten nicht von ihr, sondern von Mutter Teresa; doch Elizabeth liebte sie, denn sie sagten so viel aus.

Niemand konnte allein Kriege beenden oder Ungerechtigkeit vergessen machen, doch die Wirkung vieler kleiner guter Taten konnte größer und mächtiger sein, als man gemeinhin annahm. Kleine Schritte waren machbar, sie überforderten die Menschen nicht und gaben ihnen das Gefühl, nicht untätig sein zu müssen, sondern das Leben aus eigener Kraft zu gestalten.

Auch Michelle Obama war sich der Wirkung kleiner Schritte bewusst und bemühte sich darum, anderen davon zu erzählen, was jeder tun konnte. Was für einen Aufschrei hatte es gegeben, als Mrs Obama, gegen das Protokoll, beim Staatsbesuch den Arm um sie gelegt hatte. Es hatte ausgesehen, als seien sie Freundinnen, die sich privat zu einer Plauderei trafen. Elizabeth hatte die mediale Ausschlachtung dieses Fauxpas amüsiert verfolgt.

Sie hatte schon immer großes Interesse an den Präsidenten und ihren Partnerinnen gezeigt. Ausgenommen Donald Trump. Er war der Einzige, der beim Abschreiten der Ehrengarde vorangestapft war und ihr den Rücken zugekehrt hatte. Sie war förmlich hinter ihm verschwunden, und als er seinen Fehler endlich bemerkt hatte, war er abrupt stehen geblieben, so dass sie fast auf ihn aufgelaufen wäre und einen großen Bogen um ihn hatte machen müssen. Sie hatte Ruhe bewahrt und ihm zugelächelt, als sie wieder auf gleicher Höhe waren. Das Feld der Diplomatie bespielte sie gekonnt. Ausgleichen, das war ihre Aufgabe.

Ganz anders Ronald Reagan, der die Liebe zu Pferden mit ihr geteilt hatte. Ihm und seiner Frau Nancy hatte sie näher als vielen anderen gestanden. Philip und sie hatten die Reagans sogar privat in Amerika besucht und waren mit ihnen ausgeritten.

Nach dem Treffen mit dem aktuellen US-Präsidenten Joe Biden warteten weitere offizielle Termine auf sie, unter anderem in Edinburgh. Danach kam die Sommerpause auf Balmoral, und dann begann bereits das Herbstprogramm mit der Eröffnung des schottischen und walisischen Parlaments und mit Veranstaltungen im ganzen Land.

Elizabeth streckte die Beine aus und dachte einen Moment an nichts. Dann rief sie sich noch einmal das letzte Treffen zwischen William und Harry ins Gedächtnis. Sie sorgte sich um die beiden, auch um Charles. Er litt mehr unter dem Zerwürfnis seiner Söhne, als er sich anmerken ließ.

Candy und Muick bellten, als es leise klopfte. Elizabeth wandte den Blick zur Tür.

Der Kopf ihres Butlers, Paul Whybrew, erschien im Türrahmen. »Eure Majestät. Der Prince of Wales möchte Sie sprechen … am Telefon.«

Elizabeth hörte die Stimme ihres Sohnes. »Mummy. Wie geht es dir heute? Konntest du in der Nacht schlafen?«

Während des Telefonats warf sie Sandy, die mit Lissy um ihre Aufmerksamkeit buhlte, mahnende Blicke zu.

»Dein Geburtstag dieses Jahr …«, sagte Charles schließlich, »… ist gleich in zweifacher Hinsicht schwierig. Aber ein Zusammentreffen im kleinsten Kreis wäre möglich. Was meinst du dazu?«

»Natürlich werden wir feiern«, stimmte Elizabeth zu.

Bei jedem Kontakt mit Charles spürte sie seine Erleichterung, sein Privatleben nach Jahren der Konfrontation und der Ungewissheit geregelt zu haben. Diese Zufriedenheit würde ihm dereinst als König dienlich sein.

Um von ihrem Geburtstag am einundzwanzigsten – ihrem ersten ohne Philip – wegzukommen, lenkte Elizabeth das Gespräch auf David, den Earl of Snowdon, und Lady Sarah Chatto. Seit William und Harry eigene Familien gegründet hatten, hatte Charles engeren Kontakt zu Margarets Kindern.

»Die Frage, wie viele Mitglieder der Familie die Monarchie in Zukunft unterstützen sollen, wird langsam drängend, Mummy«, fuhr Charles fort. »Du kennst die kritischen Stimmen, wenn an deinem Geburtstag auf dem Balkon die ganze Familie zu sehen ist.«

»Ehrlich gesagt, habe ich noch immer das Gefühl, dass die Menschen sich freuen, wenn sie uns alle zusammen sehen.« Solange sie lebte, würde niemand diese Frage ernsthaft erörtern, doch Charles würde sich nach ihrem Tod damit auseinandersetzen müssen.

»Und bedenke, dass es vielleicht auch zum Problem werden könnte, wenn du dich von der Idee der Verkleinerung zu sehr vereinnahmen lässt. Den Menschen bedeutet es etwas, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken. Durch Schirmherrschaften bringen wir Themen an die Öffentlichkeit. Denk nur an deinen Vater. Fast bis zu seinem letzten Tag hatte er über achthundert Schirmherrschaften inne.«

»Ich weiß, Mummy, aber die Zeiten ändern sich. Dass William und Kate sich auf ausgewählte Wohltätigkeitsorganisationen konzentrieren, um genügend Zeit für die Kinder zu haben, verdeutlicht das.«

»Darin stimme ich dir zu. Ich möchte nur, dass du alles berücksichtigst. Mitunter ist das, was einem gut und richtig erschien, dann doch das Falsche … Niemand wüsste das besser als ich.«

Nach dem Telefonat legte sie die Notizen zurück in die Schublade.

Eins der Tagebücher hatte sie noch nicht durchgeblättert. Sie langte danach und schlug es an einer beliebigen Stelle auf:

Annus Horribiles … Was für ein schreckliches Jahr.