8. September 2022
Schottland, Aberdeenshire,
Schloss Balmoral
Elizabeth öffnete die Augen und blinzelte im Gegenlicht. Mehr und mehr nahm sie die Wände ihres Schlafzimmers wahr, dann dieses seltsame Kribbeln in den Beinen und einen unangenehmen Druckschmerz im Kopf. Sie fühlte sich schwach und ausgezehrt, furchtbar müde. Als wäre nur noch ein Rest von ihr anwesend.
»Mummy?«
Das war Annes Stimme.
»Sie ist wach … Mummy«, flüsterte nun auch Charles.
Ein Anflug von Freude vertrieb die Müdigkeit, als Elizabeth den Kopf drehte und in die Gesichter ihrer beiden Ältesten sah.
»Anne … Charles …«
Anne und Charles hielten ihre Hände. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchflutete Elizabeth. Sie war nicht allein.
»Wie schön, dass ihr da seid«, flüsterte sie. Ihr Mund war trocken. Sie hustete leise und streckte die Hand nach der Tasse auf dem Nachttisch aus.
»Warte, Mummy.« Anne griff nach dem Tee und reichte ihn ihrer Mutter.
Elizabeth richtete sich auf und schloss die Hände um das Porzellan. Langsam trank sie Schluck für Schluck.
»Besser?«, erkundigte sich Anne.
»Ja. Viel besser«, bekräftigte Elizabeth.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Seit Philips Tod verging die Zeit quälend langsam und dann wieder rasend schnell. In letzter Zeit hatte sie abends, bevor sie zu Bett gegangen war, häufig in ihren Tagebüchern geblättert, hatte alte Fotos und private Filme angeschaut und ihr Leben Revue passieren lassen. Sie hielt eigentlich nicht viel von Nostalgie, trotzdem hatte sie sich dieses Gefühls nicht entziehen können.
»Je weiter man zurückblickt, umso weiter kann man nach vorn sehen.«
Das hatte sie einst Winston Churchill sagen hören. Ein Satz, der sich für immer in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.
Erst vor kurzem hatten Forscher herausgefunden, dass Menschen körperliche Schmerzen weniger stark wahrnahmen, wenn sie sich in einem nostalgischen Zustand befanden. Nostalgische Gefühle konnten dazu beitragen, sich in kalten Räumen wärmer zu fühlen.
»Was zweifellos eine gute Sache ist, besonders im Winter.« Mit diesen Worten hatte sie den Artikel kommentiert, den sie in Angela Kellys Gesellschaft gelesen hatte.
Angela hatte ihr lachend Recht gegeben.
»Ich hatte noch nie etwas gegen Nostalgie. Im Gegenteil, ich schwärme regelrecht dafür«, hatte sie ihr anvertraut.
Nicht nur der neuesten Erkenntnisse wegen hatte Elizabeth sich nostalgische Gefühle erlaubt. Sondern auch, weil sie spürte, dass die Zeit knapp wurde.
Wenn ein Leben zu Ende ging, hielten Menschen zwangsläufig Rückschau – um sich zu vergewissern, ob sie ihr Leben für andere und für sich selbst gut genutzt hatten. Elizabeth bildete da keine Ausnahme.
Wie schon ihre Eltern hatte sie fleißig private Momente gefilmt, um den Spaß hinter der royalen Fassade festzuhalten. Bilder, die der Außenwelt bisher verborgen geblieben waren, die nur die Familie kannte.
Mit einer Decke über den Beinen hatte sie sich abends einen Film nach dem anderen angeschaut und war in die Zeit gereist, als sie ein kleines Mädchen war. Es war herrlich, sich selbst und Margaret dabei zuzusehen, wie sie reiten lernten, mit den Hunden spielten oder mit einem Buch in der Hand in der Sonne lagen und sich begeistert erzählten, was sie gelesen hatten. Margaret war gern mit ihrer Puppe im Arm über die Wiese gelaufen und hatte versucht, die Hunde zu dressieren. Sie spielten mit ihrem Vater und ihrer Mutter und kullerten lachend den Hügel hinunter.
Ihre Mutter hatte alle mit ihrem Lächeln angesteckt. Freude und Gottvertrauen waren Teil ihres Charakters gewesen. Auch ihr Vater hatte gern gelacht, doch im Grunde seiner Seele war er ein nachdenklicher, ernster Mann gewesen. Er hatte ihnen vorgelebt, was Führung und Standhaftigkeit in schwierigen Zeiten bedeutete. Und ihr Großvater, George V., Grandpa England, hatte unerschütterlich an seinem Glauben an die Zukunft und an die Monarchie festgehalten.
Die Familie hatte Elizabeth gelehrt, was sie für ihre Aufgabe als Monarchin wissen musste, mehr noch, wie wichtig Dankbarkeit und Demut waren. Grandpa England hatte ihr von klein auf immer wieder erklärt, dass der Mensch aufgrund seiner Erfahrungen wachsen konnte, ja wachsen musste.
»Denk stets daran, nicht abgehoben zu sein, Lilibet. Das Volk muss dich als eine der seinen erkennen.«
Weitere Filme hatten sie in die Zeit ihrer jungen Liebe zu Philip entführt, ihr die ersten Schritte von Charles und Anne, Andrew und Edward gezeigt.
»Wärst du so lieb, das Kreuz in die linke Schublade der Kommode zu legen?« Elizabeth deutete auf den Nachttisch. »Pfarrer Greenshields hat es mir letztes Wochenende geschenkt. Ist es nicht wunderbar? Es wurde aus recycelten Kirchenbänken von Hand gefertigt. Ein Unikat.« Elizabeth wurde bei dem Gedanken an das Gespräch mit dem Pfarrer warm ums Herz.
»Ich mache das«, beeilte Charles sich zu sagen und erhob sich.
Anne nickte ihm dankbar zu und sagte: »Das Kreuz ist schön, Mummy. Schlicht und doch besonders.«
Seit Elizabeth denken konnte, war der Glaube ihr treuer Wegbegleiter, der sie stets durch stürmische Zeiten geführt hatte. So seltsam es klang, ihr Glaube bestärkte sie in der Hoffnung auf ein Gleichgewicht im Inneren, wenn die Dinge von außen betrachtet chaotisch wirkten.
Ihr Glaube und ihr engstes Umfeld bereicherten ihr Leben seit je auf unvergleichliche Weise. Im Lauf der Jahrzehnte hatte sie das Privileg gehabt, einige beeindruckende Menschen kennenzulernen. Besonders einer war ihr im Gedächtnis geblieben. Nelson Mandela. Der Freiheitskämpfer und spätere erste schwarze Präsident Südafrikas war zweifellos eine der bemerkenswertesten Personen, die die Welt je hervorgebracht hatte. Viele waren fasziniert, dass er siebenundzwanzig Jahre Gefangenschaft ohne eine Spur der Verbitterung hinter sich gelassen hatte.
Seine Geschichte bewegte Elizabeth bis heute, auch wegen der Briefe, die sie einander geschrieben hatten.
Wenn Nelson sie angelächelt und Lizzie genannt hatte, hatte sich das richtig angefühlt. Mandela war der einzige ausländische Staatschef, der sie ohne Titel, nur mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. Als Zeichen seiner Zuneigung hatte er ihr bei ihrer Südafrikareise 1995 den Namen Motlalepula, »die Regen Bringende«, verliehen, da ihr Besuch mit sintflutartigen Regenfällen zusammengefallen war.
Elizabeth hatte immer wieder besondere Menschen geehrt, ihnen Medaillen verliehen, andere zum Ritter geschlagen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, eines Tages selbst ausgezeichnet zu werden. Im August hatte ihr Privatsekretär eine Mail von Gyles Brandreth, einem Freund Philips, erhalten. Brandreth, der für die Zeitschrift Oldie schrieb und Vorsitzender des Oldie of the Year Award war, wollte wissen, ob sie sich vorstellen könnte, den Award, der bereits der Queen Mum und Philip verliehen worden war, diesmal selbst anzunehmen.
Der Award fokussierte Lebenswerke und Erfolge von Menschen, die fortgeschrittenen Alters, aber sozusagen noch fit wie ein Turnschuh waren. So hatte Gyles es salopp ausgedrückt. Als Elizabeth davon erfuhr, konnte sie sich ein amüsiertes Lachen nicht verkneifen. Ihr Privatsekretär hatte nach Rücksprache mit ihr folgende Antwort an Gyles verfasst:
Ihre Majestät glaubt daran, dass man so alt ist, wie man sich fühlt. Daher glaubt die Königin nicht, dass sie die relevanten Kriterien erfüllt, und sie hofft, dass sich ein würdigerer Kandidat oder eine würdigere Kandidatin findet. Diese Nachricht erreicht Sie mit den herzlichsten Grüßen Ihrer Majestät.
Wenige Tage später erfuhr Elizabeth, wer den Award an ihrer Stelle erhalten hatte. Es war kein Geringerer als Paddington der Bär, die berühmte Kinderbuchfigur Englands, die seit 1958 Kinderherzen höherschlagen ließ. Dass Paddington an ihrer statt geehrt worden war, hatte die ganze Familie amüsiert, besonders Camilla, die von Büchern nie genug bekam.
»Weißt du noch … das Platin-Jubiläum?«, sagte Elizabeth, in Gedanken versunken, zu Anne.
»Wer könnte diesen Tag je vergessen?«, mischte Charles sich ein. Er war kurz hinausgegangen und brachte frischen Tee und Kekse.
»Das ganze Land war im Ausnahmezustand«, bekräftigte Anne.
»Dein Jubiläum war ein Meilenstein, ein Privileg, das noch niemandem vor dir zuteilgeworden ist.« Charles setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und sah Elizabeth an. »Ich werde es nicht so weit bringen … Keine Chance.« Er lächelte und nahm wieder ihre Hand.
»Mach dir nichts draus. Man muss nicht jede Chance ergreifen.« Es tat gut, auf Charles' lockeren Ton einzugehen. Ihre Verbindung war mit den Jahren immer inniger geworden.
Einen Tag vor dem Jubiläum ihrer siebzigjährigen Regentschaft am 6. Februar hatte Elizabeth sich mit einer Grußbotschaft an das englische Volk gewandt und versichert, dass es eine besondere Freude für sie sei, das Versprechen, ihr Leben in den Dienst des Volkes zu stellen, zu erneuern. Sie hatte betont, dass sie die Loyalität und Zuneigung der Menschen dankbar und demütig entgegennehme und dass sie gesegnet war, Philip an ihrer Seite gehabt zu haben, stets gewillt, der Rolle des Gemahls selbstlos gerecht zu werden.
Abschließend hatte sie hinzugefügt, dass es ihr Wunsch sei, Camilla, wenn die Zeit käme, als Königsgemahlin zu akzeptieren.
»Camilla ist mir über die Jahre ans Herz gewachsen. Mit ihr bist du endlich zur Ruhe gekommen und kannst dich entfalten.«
Charles nickte gerührt. »Danke, dass du das noch einmal sagst, Mummy.« Er sah nach dem Tee, vermutlich auch, um sich seine Gefühle nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Ich denke, der Tee hat jetzt die richtige Temperatur.«
Elizabeth nahm die Porzellantasse entgegen, trank einige Schlucke, dann reichte sie Charles die Tasse.
»Seltsam, dass niemand den letzten Moment seines Lebens kennt, nicht wahr?«, sagte Elizabeth plötzlich.
»Ich denke, das ist auch gar nicht so wichtig.« Anne sah ihre Mutter an. »Entscheidend ist, zu erkennen, wie kostbar jeder Moment auf Erden ist.«
»Du hast recht, Liebes. Es kommt einzig und allein auf den Moment an …«
Elizabeth' Augen wanderten durchs Zimmer. Aus einer Ecke waren die Hunde zu hören, sie grunzten, während sie vor sich hin dösten. Vor dem geöffneten Fenster erklang Vogelgezwitscher.
Niemand hatte die Macht, die Zeit anzuhalten, auch sie nicht. Sie hatte das Leben angenommen, wie es war – mit allen schönen Momenten, mit den Herausforderungen und den tränenreichen Zeiten. Um auszukosten, was jeden einzelnen Tag geschah, deshalb war man auf der Welt. Das Leben selbst war das Geheimnis, nach dem so viele Menschen suchten.
Elizabeth sog den Duft ihres geliebten Zuhauses ein: den Geruch nach Holz und Ölfarbe, nach ihren Hunden und den Blumen im Raum, nach Annes dezentem Parfüm und Charles' Aftershave. Sie spürte Philip, der nicht mehr bei ihr und doch nie fort war.
»Mummy, wir lieben dich«, flüsterte Charles. Er drückte ihre Hand.
»Ich weiß … und ich liebe euch …«
Elizabeth tat einen Atemzug und seufzte, schloss die Augen und ließ die Welt und die Menschen, die ihr mehr bedeuteten, als sie jemals in Worte fassen konnte, hinter sich.