A ls sie mich fragten , was ich wollte, sagte ich: »Die Welt.«
»Und was würdest du mit der Welt anfangen?«, hakte mein Vater nach. Es lag Schärfe in seinen Worten, aber ich verstand die Drohung nicht, bis Mutter meine Schulter drückte. Ihr Griff war zu fest, um beruhigend gemeint zu sein – vielleicht eine Warnung? Oder drohte sie mir auch?
Ich blickte von einem Gott zum nächsten, und niemand gab mir einen Fingerzeig, was ich falsch gemacht haben könnte. Sie hatten mir eine einfache Frage gestellt und ich hatte eine einfache Antwort gegeben. Jetzt saßen sie hier im kühlen Megaron, wo sich ihre Gesichter verzerrt in den Bronzesäulen spiegelten, die den Thronsaal umringten, und starrten mich an. Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir wollten, keine Ahnung, warum plötzlich alle so angespannt wirkten. Manche sahen schnell zu meinem Vater, und der blickte so finster drein, man hätte ihn mit einer seiner eigenen Statuen verwechseln können.
Ich dachte über seine Frage nach, und meine Mutter grub ihre Fingernägel mit jeder Sekunde, die ich schwieg, tiefer in meine Schulter.
»Ich würde sie mit Blumen füllen«, beschloss ich.
Die Worte waren heraus, ein Augenblick verging.
Dann lachte mein Vater. Lange. Laut. Es war die Art von Lärm, bei dem ich mich auf meinem Stuhl duckte. Die versammelten Götter fielen einen Sekundenbruchteil zu spät ein.
Ich wollte mich zu meiner Mutter umdrehen und sehen, ob ich richtig geantwortet hatte, aber sie hielt mich immer noch fest, auch wenn sie ihre Fingernägel nicht mehr ganz so heftig in mich bohrte.
Sie hatte mich den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen.
»Man sollte sich immer vor Fremden in Acht nehmen, mein Kind« , hatte sie gesagt. Aber diese Leute waren keine Fremden, jedenfalls nicht für meine Mutter. Sie waren ihre Schwestern und Brüder – wenn sie nicht blutsverwandt waren, hatten sie zusammen gekämpft. Es waren Götter, die sie schon ihr ganzes Leben kannte.
Ich wollte mehr wissen, aber Mutters Lieblingsspruch war: »Frag nicht, mein Kind.«
Wenigstens mit diesem blöden ›mein Kind‹ wäre es bald vorbei. Ich war acht Jahre alt – jedenfalls ungefähr. Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten, wenn man unsterblich ist, und es kam erschwerend hinzu, dass sich alle Götter bis zu diesem Moment im Krieg mit dem Herrscher über die Zeit befunden hatten, der diese nach Lust und Laune verschob.
Aber unabhängig von meinem Alter war meine Amphidromia, der Tag, an dem ein Kind seinen Namen bekommt. Und da ich eine Göttin war, sollte ich auch meine Domäne erhalten – das, wofür ich in der Welt verantwortlich sein würde.
»Sehr gut«, sagte mein Vater und erhob sich von seinem Thron. Die lachenden Fremden verstummten auf der Stelle. »So sei es.« Er schwieg einen Moment, und seine Mundwinkel zuckten, als er die besorgten Mienen der anderen Götter sah, vor allem die der anderen Ratsmitglieder an seiner Seite. Sie waren seine Berater, flüsterten miteinander und stießen sich in gespannter Erwartung seines Urteils an.
Dann lächelte Vater, obwohl die Anspannung nicht weichen wollte. »Du sollst die Göttin der Blumen sein.«
Mir fiel die Kinnlade runter und meine Mutter packte mich erneut wie ein Schraubstock. Sie kannte mich gut genug, um zu spüren, dass ich laut schreien wollte, so wütend und verwirrt war ich, weil ich um etwas so Großes gebeten und etwas so Kleines bekommen hatte. All meine Hoffnungen, all meine ehrgeizigen Ziele fielen in sich zusammen. Aber ich klappte den Mund wieder zu und verbarg die geballten Fäuste in den Falten meines Kleides. Es war es nicht wert, den König der Götter herauszufordern, nur weil ich wütend war.
»Und dein Name sei … Kore.«
Meine Augen weiteten sich, als ich die Bedeutungen dieses Namens im Kopf durchging: reine, schöne Jungfer, kleines Mädchen . Offensichtlich war das alles, was er je in mir sehen würde.
»Göttin der Blumen und der Schönheit …« Aphrodite ließ einen fast unhörbaren Laut des Unmuts hören, bevor Vater fortfuhr: »… in der Natur.«
Als das zeremonielle Feuer angezündet wurde, kämpfte ich gegen die Tränen.
Das war wie eine Strafe.
Und ich hatte keine Ahnung, was ich falsch gemacht hatte.
Ich denke in diesem Moment an meine Amphidromia und versuche still zu halten, während Mutter grob meine Haare bändigt. Meine Gedanken kehren oft zu der Zeremonie zurück. Es hatte viel auf dem Spiel gestanden – und ich hatte Jahre Zeit gehabt, um es ganz zu verstehen. Aber inzwischen verweilen meine Gedanken dort, wohin sie sich früher kaum verirrt haben: bei den vielen Gesichtern im Schatten.
Mutter hatte mir damals gewisse Dinge über sie erzählt – um mich zu schützen, aber auch, damit ich dumm blieb. Seit sie mir mehr erzählt hat, ist die Erinnerung mit Angst gefärbt.
So viele Leute, und alle sehen mich an. Zwei der drei Reiche sind versammelt, ich bin von Göttern des Olymp und des Meeres umringt. Des Hades natürlich nicht. Vorher war ich nie so vielen Leuten begegnet, und danach auch nicht mehr. Jetzt werde ich in wenigen Tagen mit einem von ihnen verheiratet werden – und meine Erinnerung reicht nicht einmal aus, um mir vorzustellen, wer am Altar auf mich warten könnte.
Alle, die ich kenne, sagen, es sei normal, vor seiner Hochzeit nervös zu sein, aber niemand hat mir gesagt, ob es auch normal ist, Angst zu haben, so wahnsinnige Angst, dass man nicht mal mehr richtig atmen kann, wenn man daran denkt.
»Bitte halt still, Kore«, sagt Mutter seufzend und entwirrt meine verknoteten Haare.
Da hängt noch mein Kopf an meinen Haaren, Mutter. Wenn du weiter so daran reißt, geht er ab.
»Und schlag dir den sarkastischen Kommentar, den du gerade denkst, aus dem Kopf.«
Ihre müden Worte sind das Echo einer Lektion, die sie mir schon ein Dutzend Mal vorgebetet hat: »Männer können nicht gut mit Sarkasmus umgehen, Kore. Sie verstehen ihn als eine Herausforderung ihrer Autorität.«
Ich frage mich, ob ich ihre Lektionen jemals verinnerlichen werde oder ob sie auf ewig wie Öl auf Wasser in ihrer Stimme durch meinen Kopf hallen und alles verurteilen, was ich tue. Wenn es mir wenigstens dabei helfen würde, mit alldem aufzuhören, worüber sie sich ärgert. Mit alldem, was mich offensichtlich zu einer wenig begehrenswerten Person macht.
Ich habe es versucht. O Moiren, ich habe es so sehr versucht.
»Demeter, willst du ihr die Haare wirklich so fest hochstecken? Die Mode ist jetzt viel lockerer«, sagt Kyane, die in der Tür steht. Mit meiner Mutter und mir in meinem kleinen Zimmer ist sonst nirgendwo Platz. Sie ist die Nymphe, der normalerweise die wichtige und beschwerliche Aufgabe anvertraut wird, meine Haare zu kämmen, und so wie sie an ihren eigenen, fest hochgesteckten Locken zupft, tobt sie innerlich, weil Mutter sich an einem so wichtigen Tag einfach einmischt.
Meine Haare dürfen um der Götter willen nicht unordentlich aussehen – das Universum könnte untergehen. Oder wenigstens könnte ich Schande über unser Haus bringen.
Ich knirsche mit den Zähnen, als Mutters Finger an einer weiteren Klette hängen bleiben.
»Locker?«, spottet Mutter wie erwartet. »Was würde das über sie sagen? Nein, eine traditionelle Frisur ist das Beste. Sie wird schön und dennoch jungfräulich aussehen, genau wie es sich gehört.«
»Woher sollten die feinen Bewerber auch wissen, dass das Mädchen, dessen Namen buchstäblich Keuschheit bedeutet und das immer nur allein auf einer Insel gelebt hat, noch Jungfrau ist, wenn ich nicht wie eine aussehe.«
»Fang jetzt bitte nicht damit an, Kore.« Mutter seufzt wieder. Ich habe mich so an das Geräusch gewöhnt, dass sich mein Name ohne ganz merkwürdig anhört.
Trotzdem schneidet es mir ins Herz, sie an einem solchen Tag seufzen zu hören. Sie ist enttäuscht von mir, obwohl ich in die wichtigste Sache eingewilligt habe, um die sie mich je gebeten hat.
Sie steckt die letzte Nadel fest. »Na also, du bist genauso schön, wie die Gerüchte behaupten.« Sie hält einen Spiegel hoch, und ich betrachte ihr Werk: mein dickes, widerspenstiges Haar ist eng an meiner Kopfhaut festgesteckt, ein paar krisselige schwarze Strähnen versuchen schon, sich zu befreien. Ich achte nicht auf die Haare und versuche, mich so zu sehen, wie es ein Fremder tun würde, mein künftiger Ehemann zum Beispiel – glatte olivfarbene Haut und eine lange, gerade Nase, volle Augenbrauen und ausgeprägte Wangenknochen. Augen, die ein winziges bisschen zu groß und zu dunkel sind und immer fragend und naiv gucken, genau die Augen, die man bei einer Person erwartet, die den Namen »kleines Mädchen« bekommen hat.
Sie hat recht. Ich bin schön. Natürlich bin ich das. Wir sind Göttinnen. Wir sind alle schön.
Aber was mir wirklich auffällt, ist nicht meine Schönheit, sondern wie besiegt ich aussehe. Als hätte ich mich meinem Schicksal ergeben.
Mit anderen Worten, ich sehe perfekt aus.
»Wir finden im Handumdrehen einen Mann für dich«, zwitschert Mutter glücklich und legt den Spiegel hin. Er scheppert ein wenig zu laut, und als Mutter ihn loslässt, sehe ich, dass ihre Hand zittert. Ich sehe nicht gern Anzeichen für ihre Angst, ich könnte keinen guten Mann abkriegen. Vor allem, weil ich viel mehr Angst davor habe, überhaupt einen Mann abzukriegen.
Ich zupfe an dem lächerlichen Kleid, das Mutter mir aufgezwungen hat: eine Monstrosität aus lila Seide, die so fällt und gerafft wird, dass sie den angebotenen Körper vorzeigt und gleichzeitig ausreichend verbirgt, um den Anstand zu wahren. Es ist weniger ein Kleid als eine Geschenkverpackung. Außerdem ist es mit der Schleppe zu lang, um praktisch zu sein. Wenn man überlegt, wie flach ich darin atmen muss, drängt sich der Verdacht auf, dass es vor allem dem Zweck dient, mich am Weglaufen zu hindern.
Auf der Treppe nach unten stolpere ich fast, als ich Mutter in die Küche folge. Kyane bleibt zurück, um aufzuräumen, aber sie muss gekocht haben, bevor sie hochgekommen ist, denn die Küche ist voller Dampf – besorgniserregend in einem Haus, das nur aus Holz und miteinander verwachsenen Bäumen besteht –, und der Duft nach Brot ist erdrückend in dem kleinen Raum. Normalerweise bin ich zu ungeduldig, um zu warten, bis das Brot abkühlt, und verbrenne mir die Finger, wenn ich Stücke davon abreiße, aber das Kleid schnürt mir den Magen so fest zusammen, dass mir schon allein beim Gedanken an Essen schlecht wird. Unwillkürlich versuche ich, die Bänder zu lockern, die es zusammenhalten.
Mutter schlägt mir auf die Finger und zieht stattdessen die Schleife gerade. »Für deinen Mann solltest du immer so gut aussehen wie möglich.«
Woher willst du das wissen? Du bist nicht verheiratet , will ich schreien.
»Wird er auch für mich immer so gut aussehen wie möglich?«, frage ich stattdessen.
Mutter schrickt zusammen und sieht sich um, als könnte hinter der nächsten Ecke ein Olympier lauern, als hätte sie nicht die letzten zehn Jahre damit zugebracht, komplizierte Schutzzauber zu beschwören, um ungeladene Gäste von unserer Insel fernzuhalten. »Sag nicht solche Dinge, Kore!«, schimpft sie. »Niemand wird glauben, dass eine Frau, die von der körperlichen Attraktivität eines Mannes spricht, noch Jungfrau ist. Sollen die Leute dich für eine Hure halten?«
»Mal sehen …« Ich tue so, als würde ich ernsthaft darüber nachdenken, ganz in der Rolle naives kleines Mädchen , in die ich zur Selbsterhaltung schlüpfe. »Wenn sie das täten, würde mich keiner heiraten wollen. Diese Freiheit könnte mir schon gefallen.«
Mutter sieht mich betrübt an und nimmt meine Hände. »Das ist keine Freiheit«, sagt sie sanft. »Männer sehen einen solchen Ruf als Aufforderung.«
»Aber ich verstehe das nicht«, sage ich, blinzle dämlich, obwohl ich es ganz genau verstehe. »Ich dachte, du lässt mich auf dieser Insel wohnen, um mich von Männern fernzuhalten. Und jetzt soll ich einen heiraten? Ist Sex denn okay, wenn es mit dem Ehemann ist?«
»Ja, aber nur dann.«
»Aber du warst nicht verheiratet, als du mich bekommen hast.« Ich lege die Stirn in Falten, damit ihr meine Verwirrung auf keinen Fall entgeht. Wie wurde ich noch gleich empfangen, Mutter?
»Das war, bevor die Göttin der Ehe auf dem Olymp Königin wurde. Flüsse der Hölle, vielleicht mag ich Hera nicht, aber sie hat sich Macht verschafft. Sie hat dafür gesorgt, dass die Ehe Bedeutung bekommt, und konnte sogar ihren eigenen Mann binden.«
Götter, nicht schon wieder Hera als Vorbild. Wie kann meine Stiefmutter die strahlende Hoffnung der Ehe sein? Mein Vater hat sie zur Heirat gezwungen und es geht ihnen beiden schlecht.
»Wohl kaum«, sage ich schnaubend, ohne nachzudenken.
»Ehe ist Schutz , Kore. Durch einen Ring am Finger bist du an einen Mann gebunden, und das ist alles, was die Götter respektieren.«
»Das Eigentum eines anderen Mannes?«, spotte ich. Jetzt, wo ich einmal angefangen habe, kann ich mich nicht mehr bremsen.
»Ja«, schimpft sie und klingt genauso giftig wie ich. »Bei den Moiren, Kore, ich habe das System nicht erfunden, also hör auf, mir die Schuld dafür zu geben. Wenn ich eine Ehe arrangieren muss, um für deine Sicherheit zu sorgen, dann tue ich das.«
»Ich bin hier in Sicherheit. Warum kann ich nicht auf Sizilien bleiben?«
»Ach, jetzt willst du plötzlich hierbleiben? Lustig, Kore, nachdem du mich zehn Jahre lang angefleht hast, in andere Länder reisen zu dürfen.« Sie schüttelt den Kopf, aber als sie fortfährt, ist die Wut verschwunden. »Du bist hier in Sicherheit, weil wir Glück hatten. Die Schutzzauber werden nicht ewig wirken, besonders jetzt, wo du erwachsen bist. Glaubst du wirklich, ich würde dich nicht für immer an meiner Seite haben wollen, wenn ich die Macht hätte, dich zu schützen?«
»Nein, das glaube ich ehrlich gesagt nicht.«
Aber das stimmt nicht. Ich will sie nur verletzen.
Es funktioniert. Ich sehe ihr Stirnrunzeln, als meine Worte ankommen, die ausgestreckte Hand, die jetzt zögert. Ich habe nicht einmal ein schlechtes Gewissen, als ihr Tränen in die Augen treten. Ich will, dass sie weint. Ich will, dass sie einen Bruchteil des Schmerzes empfindet, den der Gedanke an eine Ehe mir bereitet. Ich will, dass sie begreift, wie wenig ich das hier will.
Ihr Schmerz verwandelt sich innerhalb von Sekunden in Wut. Gut. Soll sie mich doch anbrüllen, dann kann ich zurückschreien. »Dein ganzes Leben lang habe ich alles getan, um dich zu schützen. Ich saß auf dieser Insel fest, habe die anderen Göttinnen um Zauber und Schutz angebettelt, war kaum auf dem Olymp und auch sonst nirgends – nur damit du in Sicherheit bist.«
»Ich hab dich nie darum gebeten!«
»Und ich habe es trotzdem getan! Jede andere wäre dankbar, Kore. Alle Götter denken, sie hätten ein Recht darauf, sich zu nehmen, was sie wollen, und du bist genauso. Das Einzige, was sie respektieren, sind andere Götter. Siehst du nicht, dass Heirat die einzige Möglichkeit ist, dich zu schützen? Ich muss dir sicher nichts über das Schicksal anderer Mädchen erzählen, die geglaubt haben, es allein zu schaffen.«
Ist mir egal , will ich schreien, aber ich zögere und reiße mich zusammen. Es ist sinnlos, zu streiten, und schlimmer noch, es könnte alles zunichtemachen. Die ganze Zeit habe ich so getan, als wäre dieses Arrangement okay für mich, damit sie unachtsam wird und ich eine Gelegenheit zur Flucht bekomme, und jetzt breche ich im letzten Moment einen Streit vom Zaun, den ich nicht gewinnen kann, und riskiere, dass sie ihre Wachsamkeit erhöht.
Ich weiß, meine Mutter wird es niemals verstehen, denn es läuft auf Folgendes hinaus: Sicherheit genügt mir nicht. Ich will lieber sterben, lieber eine von diesen tragischen Geschichten sein, die Mütter zur Warnung erzählen, als mein unsterbliches Leben in Trübsal zu verbringen wie ein langer, gedehnter Seufzer in einem Choral.
Für meine Mutter waren meine Sicherheit – und mein Ruf – nämlich immer die oberste Priorität und das wird sich niemals ändern.
»Ich weiß, dass du Angst hast«, sagt sie, und ihre Wut verraucht, als sie die Gelegenheit für eine Predigt sieht. »Ich weiß, wenn es nach dir ginge, würdest du die Welt erkunden, Blumen pflanzen, und das wahrscheinlich barfuß und auch sonst völlig unpassend gekleidet. Aber das geht nicht. Die Welt ist zu gefährlich.«
»Du darfst das«, sage ich ruhig, und meine Stimme klingt niedergeschlagen.
»Kore. Ich sage das jetzt ein einziges Mal und du musst mir zuhören.« Sie tritt auf mich zu und streichelt meine Wange. »Ich liebe dich, mein Schatz, aber du hast keine Macht. Es gibt Götter mit unbeschreiblichen Kräften da draußen, und dir hat Zeus nur Blumen gegeben. Wie gedenkst du, dich mit Blütenblättern zu schützen? Dein Leben ist nicht mit meinem vergleichbar. Ich gehöre zu den ersten Göttern, bin die Göttin des heiligen Gesetzes, der Natur, der Ernte – alles bedeutende Domänen. Und trotzdem reicht es nicht, um dich zu schützen, weil Zeus die Bereiche mit der größten Macht den Männern gegeben hat. Bei den Moiren, als der Krieg vorbei war, hat er ihnen ganze Reiche übergeben, und einer von ihnen war erst zehn Jahre alt.«
»Nur der Fairness halber, die Unterwelt hättest du sowieso nicht gewollt.« Zu kalt, zu dunkel, zu voll mit Schrecken.
»Darum geht es nicht«, sagt sie. »Du kannst nur auf einem Weg mehr Macht bekommen und dir einen Platz in der Welt schaffen: indem du dich mit einem mächtigen Mann in der Ehe verbindest. Damit die anderen etwas – oder eher jemanden – zu fürchten haben. Verstehst du das?«
Ich schlucke, und meine Hände zittern, aber ich schaffe es, dass meine Miene neutral bleibt. Ich will schreien, dass sie sich irrt, aber ich weiß eigentlich gar nicht, ob das stimmt, und ich fürchte, ich könnte losheulen, wenn ich jetzt etwas sage.
»Ja, ich verstehe«, flüstere ich.
»Du kannst nicht für immer ein Mädchen auf einer Insel bleiben.« Wenigstens darin sind wir einer Meinung. »Ich weiß, dass du Angst hast, aber ich bin die Göttin alles Wachsenden. Es gibt keinen Platz auf der Erde, wo ich dich nicht finden würde.« Das weiß ich auch. »Du wirst uns nicht für immer verlassen.«
Ich unterdrücke den Schmerz, packe ihn dorthin, wo all meine Angst und Wut in einem unglaublich schweren Nichts zusammenfließt.
»Du bist jetzt eine Frau.« Was für eine beliebige Bezeichnung. Ich kann mich nicht erinnern, an meinem Geburtstag eine größere Verwandlung durchgemacht zu haben, aber anscheinend sieht die ganze Welt eine. »Du bist zu alt für diese Wutanfälle. Versprich mir, dass du dich zusammenreißt, wenn dein Vater kommt.«
Klar, was sonst. Ihre Enttäuschung saugt die letzte Wut aus mir heraus.
Ich blicke zu Boden. Das genügt schon, um mich zu verletzen. Ich starre die orangefarbenen Fliesen an, die ich vielleicht nie wiedersehe, das Zuhause, das ich – so oder so – verlasse. »Ja, Mutter.«
»Du bist schön, Kore. Und du bist wunderbar, so geschickt in den Handarbeiten, normalerweise so gehorsam und sanft, es ist so leicht, dich zu lieben«, sagt sie bestimmt. »Weiter so, und jeder Mann wäre froh, dich zu bekommen.«
Die sollten verdammt noch mal überglücklich sein.
»Siehst du dich nur unter Olympiern um?«, bringe ich heraus.
»Natürlich. Ich werde einen guten Mann für dich finden. Mit einem Olympier würdest du noch zu diesem Hof gehören. Und ich glaube kaum, dass wir unter Poseidons Herrschaft jemanden finden, den du heiraten willst.«
Ja, klar, weil Zeus’ Herrschaft so viel besser ist.
»Was ist mit dem Hof des Hades?«
Mutter lacht schrill. »Sei nicht albern, Kore. Ich weiß, du denkst, ich überlasse dich einem Schicksal, das schlimmer ist als der Tod, aber ins Reich des Todes werde ich dich dann doch nicht schicken.«
»Na dann«, sage ich. Ich will dieses Gespräch nicht weiterführen und verfluche mich schon, überhaupt damit angefangen zu haben. »Kann ich jetzt zu meinen Freundinnen? Bevor Vater kommt?«
»Oh?«, sagt sie ein wenig misstrauisch. »Ich will eigentlich nicht, dass dein Kleid Matschflecken bekommt.«
»O bitte, Vater hat mich persönlich zur Göttin der Blumen gemacht. Er wird sich kaum über ein bisschen Matsch wundern, oder?«
»Ich bin die Göttin der Ernte, und hast du mich jemals mit Stroh im Haar gesehen?«
Ja, habe ich. Einmal. Nach zwei Flaschen Wein an einem »Mütter«-Abend mit Selene und Leto. Mutter liebt es, andere Göttinnen einzuladen, damit sie mir Horrorgeschichten über die Männer erzählen, vor denen sie mich schützt. Sie umringten mich, tischten mir das Schlimmste auf, was ich je gehört habe, und gaben mir dann Tipps, damit mir so etwas niemals passiert. »Zieh bloß kein Kleid an, wenn du auf Reisen gehst« , von Aphrodite. »Verkleide dich als Mann, wenn’s geht, und reise immer nur in einer Gruppe.« Oder Athene, die mir den Kopf tätschelte und mir erklärte, wohin ich schlagen muss, damit ein Mann mich loslässt, falls, die Götter mögen uns schützen, es jemals einer auf die Insel schaffen sollte, um mich zu rauben. Hestia ist nicht viel älter als ich, aber sie ritt ständig darauf herum, dass es am sichersten sei, zu Hause zu bleiben – wobei ich mir zugegebenermaßen schon gedacht hatte, dass sie als Göttin des Herdfeuers so etwas sagen würde. Falls ich jemals hilflos und allein irgendwo stranden sollte, gab sie mir den Rat, direkt zum nächsten Haus oder Palast zu gehen und Xenia zu erbitten, ein Band der Gastfreundschaft, das sie selbst erdacht hatte und das dazu führte, dass mir niemand dort ohne Konsequenzen etwas tun könnte. Besser gesagt, sie konnten mir schon etwas tun, aber es würde Folgen haben. Vor Xenia konnten Männer machen, was sie wollten – zumindest mit denen, die dumm genug waren, nicht auf ihre Avancen vorbereitet zu sein.
»In ein paar Tagen bin ich fort«, bettele ich meine Mutter an. »Wer weiß, wann ich meine Freundinnen wiedersehe.«
»Du weißt, es gefällt mir nicht, dass du Zeit mit diesen Mädchen verbringst«, sagt sie und beißt sich auf die Lippe. »Aber na gut, ich kann wohl kaum Nein sagen bei … bei allem anderen.«
Damit ist höchstwahrscheinlich gemeint, dass sie nicht auch noch die moralische rote Linie überschreiten will, mir zu verbieten, mit meinen Freundinnen zu reden, wo sie mich schon dazu zwingt, einen Mann zu heiraten, den ich nie gesehen habe.
»Kyane!«, ruft Mutter, und die Nymphe erscheint unten an der Treppe. »Geh mit Kore zum Fluss, aber wenn die Mädchen von Dingen anfangen, die einen schlechten Einfluss auf sie haben, sorg bitte dafür, dass sie das sein lassen.«
O Mutter, sie haben mich längst verdorben. Und das ist auch gut so, sonst würde ich heiraten und in meiner Hochzeitsnacht nicht wissen, welches Teil wohin kommt.
»Sei bald zurück«, ruft sie, als ich schon halb aus der Tür bin. »Dein Vater kommt in einer Stunde.«
Eine Stunde. Ich kann buchstäblich hören, wie der Sand durchs Stundenglas rieselt – und die letzten Momente des einzigen Lebens abzählt, das ich je gekannt habe.