Kapitel
7

M it gefülltem Magen ist es leichter, zu denken, aber das reicht nicht, um das Chaos zu entwirren, in dem ich mich befinde. Die Hölle ist keine dauerhafte Lösung. Ich habe nur wenige Tage, bevor meine Eltern nach Sizilien zurückkehren und feststellen, dass ich weg bin. Vielleicht brauchen sie etwas länger, um herauszufinden, wo ich stecke, aber sie werden es herausfinden. Wenn ich zu dem Schluss gekommen bin, dass die Unterwelt das einzige Reich ist, in dem ich mich verbergen kann, werden sie das auch irgendwann. Und Hades hat vielleicht geschworen, es niemandem zu erzählen, aber das heißt nicht, dass er sie daran hindern wird, mich zurück an die Oberfläche zu schleifen, wenn sie zwangsläufig früher oder später hier auftauchen.

Ich hatte gehofft, alles würde klarer werden, wenn ich die Insel verließe, hatte gehofft, mir würde vielleicht eine Lösung einfallen, sobald ich diesen Palast beträte. Ich wollte mir darüber klar werden, wie ich das Leben bekomme, das ich mir wünsche. Oder wenigstens, wie dieses Leben aussehen soll.

Stattdessen stehe ich mit einem launischen König da, der schon beim Frühstück Streit sucht, und dem Versprechen, dass Windnymphen mir Künstlerbedarf vorbeibringen.

Am liebsten würde ich wieder ins Bett gehen und über die vielen Hinsichten nachgrübeln, in denen ich geliefert bin, nicht zuletzt, weil ich letzte Nacht kaum geschlafen habe und völlig fertig bin, aber ich habe keine Zeit zu verlieren.

Ich habe allerhöchstens eine Woche. Was gewissermaßen auch alles ist, was ich hier suche – ein bisschen zusätzliche Zeit. Aber hier ist sie nun, meine zusätzliche Zeit, und ich habe keine Ahnung, was ich mit ihr anfangen soll. Es gibt zwei Optionen: Ich nutze die Woche, um herauszubekommen, wie ich für immer frei sein kann – was unwahrscheinlich ist, da ich mir schon mein ganzes Leben erfolglos darüber den Kopf zerbreche. Oder ich genieße eine letzte Woche in Freiheit – echte Freiheit, ohne Mutter, die mein unkeusches Verhalten tadelt, ohne Nymphen, die mich verpetzen – bevor sie mich wieder an die Oberfläche, auf den Olymp und vor den Altar schleifen.

Eine Woche Freiheit. Ich könnte mir alles Mögliche ansehen, überallhin gehen. Nur geht das eben nicht, weil meine Eltern oder noch schlimmere Leute mich finden würden. Es sei denn, ich erkunde die Unterwelt. Bestimmt gibt es hier auch etwas zu sehen! Ich weiß zumindest, dass es Flüsse gibt – die Unterwelt ist berühmt für sie. Ein Fluss des Hasses, einer der Schmerzen, des Feuers, des Vergessens, der Schreie … Nicht wirklich das, was sich ein nettes junges Mädchen würde ansehen wollen, und doch sehne ich mich nach ihrem Anblick, sehne mich nach irgendetwas Neuem.

Darunter spüre ich eine ganz andere Sehnsucht. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, wonach es mich verlangt, denn mein ganzes Leben lang waren sie immer in meiner Nähe: Blumen.

Ich könnte lachen. Natürlich will ich Blumen. Aber dank Vater, der mein Leben mit ihnen verknüpft hat, ist es weniger ein Verlangen als ein Bedürfnis – wie Hunger.

Ich stehe auf und mache mich auf die Suche nach der Eingangstür des Palasts. An den Grundriss des Olymps kann ich mich von meiner Amphidromia nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass da ein großes Palastportal war und der hohe Torbogen zum Megaron mit seinem prasselnden Feuer und dem riesigen Thron, aber den Weg vom einen zum anderen weiß ich nicht mehr. Allerdings gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Orten, wo sich so ein Eingang befinden könnte.

Hades sagte, ich soll nicht nach draußen gehen, aber ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Er hat den Hof vielleicht nur aus dem Palast, nicht aus dem ganzen Reich weggeschickt, es könnte mich also jemand sehen und es meinen Eltern erzählen – aber lieber habe ich nur einen einzigen Tag, um dieses neue Land zu entdecken, als eine ganze Woche hinter verschlossenen Türen zu hocken.

Unterwegs präge ich mir den Grundriss des Palasts ein. Früher bin ich über meine Insel gelaufen und habe alles kartografiert, was ich sah. Ich wollte unbedingt Forscherin werden, neue Länder entdecken, neue Menschen kennenlernen, neue Blumen finden. Ich habe die Nymphen gezwungen, mit Stöcken gegen mich zu kämpfen, als wären es Schwerter, mir fremdsprachige Worte beizubringen, die sie von den Wind- und Meeresnymphen gehört hatten, die unsere Küste streiften, bevor sie so schnell wieder aufbrachen, wie sie gekommen waren.

Vielleicht kann ich diese Woche so leben, als wäre dieser Traum möglich, auch wenn die Unterwelt nur ein winziger Teil dessen ist, was ich sehen will.

Irgendwann komme ich zu einem Portal, das der Haupteingang sein muss. Es ist drei Stockwerke hoch und hat an beiden Flügeln große goldene Ringe als Griffe. Ich muss mich mit dem ganzen Körper dagegen lehnen, um es aufzustemmen. Und dahinter finde ich noch mehr Dunkelheit.

Ich trete hinaus, ein bitterer, scharfer Geruch brennt in meiner Nase, der Boden knirscht laut unter meinen Füßen. Es gibt keine Sonne, nichts, woher Licht kommen könnte – aber trotzdem sehe ich braun verbranntes und wie Garn gesponnenes Gras, das sich über Kilometer erstreckt. Ich bücke mich danach und es zerbröselt zwischen meinen Fingern zu Staub.

Interessant.

Ödes Land, nichts als tristes Gras unter dem tintenschwarzen Himmel. Nein – das stimmt nicht. Da ist einer dieser berüchtigten Flüsse am Horizont, so dunkel, dass ich zuerst dachte, er wäre ein Teil des Himmels, aber jetzt sehe ich die zu schnelle Strömung, die Strudel und Wirbel sind so laut, dass ich ihren Zorn bis hierher hören kann. Die Styx, begreife ich: der Fluss des Hasses.

Ich bin fast dort, als ich ein unangenehmes Kreischen wahrnehme, das in meinen Ohren klirrt und bei dem mein Körper erzittert. Ich hebe rasch den Kopf, und diesmal taste ich nicht nur nach der Sichel, ich halte sie schon in der Hand, bevor ich überhaupt an sie denke.

Was meine Mutter nicht weiß: Es ist kein Versehen, dass die Sichel auch als Waffe dienen kann. Ich habe sie so geschaffen.

Da sie die Göttin des Ackerbaus ist, sollte man meinen, dass sie es inzwischen kapiert hätte, aber ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass sie je auf den Gedanken gekommen ist, ich könnte irgendeine Form von Gewalt anwenden. Was ganz offensichtlich nicht stimmt. Mutter mag mich in eine lammfromme kleine Form pressen, aber ich bin immer noch die Tochter von Zeus. Ich habe genauso Blitze in meinem Blut wie Erde.

Und irgendwann hatte ich es satt, Geschichten von den Anhängern meines Bruders Ares zu hören, die unschuldige Menschen verletzen und den Anforderungen des Krieges die Schuld dafür geben. Ich wollte den Menschen, die einfach nur versuchen, etwas anzubauen, eine Waffe zur Verteidigung geben.

Aber obwohl ich höchstpersönlich das Werkzeug so scharf gemacht hatte, bin ich immer noch erschrocken, eine Klinge in meiner Hand zu sehen. Und es erschreckt mich mehr als die geflügelte Kreatur, die über mich hinwegsegelt und weiterkreischt. Einer der Dämonen der Hölle. Eine Furie vielleicht. Sie scheint keine Bedrohung zu sein, aber als die Person, die der giftigen Belladonna schöne Blütenblätter geschenkt hat, bin ich klug genug, Äußerlichkeiten zu misstrauen.

Die Kreatur verschwindet am Horizont und langsam lasse ich die Waffe sinken. Mein Arm zittert.

Ich drehe mich um, denn Hades hatte ärgerlicherweise recht. Hier draußen kann ich nicht bleiben. Es ist zu gefährlich. Und dann sehe ich den Palast zum ersten Mal von außen – und weiche zurück. Dieser Teil des Reichs ist kein bisschen wie der Olymp. Er ragt in Türmen und Spitzen auf, schwarz wie Obsidian, der vor dem Himmel glänzt, die unregelmäßig gedrehten Türmchen enden in scharfen Zacken. Und da sind Klingen, eine nach der anderen zu einem grotesken Gewebe übereinandergeschichtet. Alte Klingen, um genau zu sein – Titanklingen.

Es sind mehr als die bei einem gescheiterten Aufstand erbeuteten Waffen – es sind Trophäen eines Krieges, von dem ich nichts weiß. Eines Krieges, der angeblich beendet war, bevor Hades alt genug war, um zu kämpfen …

Was habe ich getan?

Eindringlicher als meine Verwirrung ist meine Angst. Steht jede Klinge für ein Leben? Und ich bin hier gefangen mit dem Mann, der sich so präsentiert. Ich habe Zuflucht in einem Reich gesucht, das ich – warum noch gleich? – für sicher hielt? Aufgrund von Geschichten? Und hier ist der Beweis, dass ich nicht sicher bin, kein bisschen.

Erschrocken stolpere ich rückwärts – und überall, wo ich hintrete, sprießen Blumen aus dem Boden, wie es oft geschieht, wenn ich mich fürchte. Die Leine, die mich mit dieser Welt verbindet, zieht an mir, und die Blumen verbreiten sich wie Wellen über dem halb toten Gras. Ich kann fühlen, wie die Verbindung wächst, sich verfestigt und sogar stärker wird als auf der Erde, als würde der Boden hier um Leben betteln, als hätte die Abwesenheit von Lebendigem ihn gelähmt und eine einzige Blume würde genügen, dass er atemlos nach mehr schreit.

Ich habe keine Ahnung, wie ich das Hades erklären soll – sein Land hat nach Leben verlangt und nimmt es sich einfach. Aber wie soll er es anders verstehen, als dass ich dieser Welt, die allein ihm gehört, meinen Stempel aufdrücke? Ich weiß, was es heißt, die Macht eines Königs infrage zu stellen. Er wird es als Kampfansage sehen. Aber trotz allem, trotz der so furchteinflößenden Klingen vor mir, gefällt mir der Gedanke, dass er etwas so Harmloses als Angriff begreifen wird.

Ich denke an heute Morgen, seinen Spott und seine spitzen Bemerkungen. Habe ich vor so jemandem wirklich Angst? Und, wichtiger noch, bin ich wirklich so kleinlich?

Ja. Offensichtlich schon.

Hades behauptet vielleicht, es sei unter seiner Würde, andere Götter verärgern zu wollen, aber für mich gilt das nicht.

Ich drehe mich zu der weiten Leere um und der Fluss in der Ferne scheint mich zu sich zu locken. Nun, wenn ich schon mal dabei bin, kann ich es genauso gut richtig machen.

Aus der Nähe fließt das Wasser langsamer in sanften Wellen, und ich bin gebannt von den Mustern, die es formt. Ich hätte nie gedacht, dass diese Dunkelheit schön sein könnte, aber ich ertappe mich dabei, es übertragen zu wollen, pechschwarze und gekräuselte Blütenblätter erschaffen zu wollen. Ich will eine Blume, die der Oberfläche des Flusses gleicht und die eher nach unten wächst als nach oben, näher zum Wasser. Ihre Wurzeln würden tief reichen und alles, was sie braucht, aus dem Fluss selbst holen, um in diesem Land ohne Sonne zu überleben.

Mein Ärger wird beschwichtigt durch den Frieden des schöpferischen Akts. Durch den Trost, an einem Ort wie diesem Inspiration zu finden, wo ich eine Klinge an meinem Oberschenkel trage und Tausende mehr den Palast hinter mir umhüllen. Ich betrachte den Fluss und denke, dass es hier vielleicht ein Leben für mich gibt. Aber wenigstens wird es überhaupt Leben geben, etwas Lebendiges in diesem Land der Toten.

Ich greife in die Erde und bin kurz davor, meine Blume ins Dasein zu rufen, als ich es überdenke. Warum mehr Dunkelheit erschaffen, wenn es auch Farbe geben kann? Sähe das ganze Schwarz nicht dunkler aus neben etwas Hellem?

Ich denke an flaumige rosarote Blütenblätter, von der Art, die Hades hassen würde, leicht geknittert wie Seidenpapier. Fast eine Päonie, aber nicht ganz. Große, runde Blüten, die sich wunderschön vor dem dunklen Wasser abheben.

Ich spüre, wie mir Wurzeln aus den Fingerspitzen fließen, und als ich mit der Blume fertig bin, flüstere ich ihren Namen wie eine Liebkosung. Styx . Wie der Fluss selbst. Wahrscheinlich heißt sie dann Hass, aber ist nicht auch Hass eine Leidenschaft? Ein Versprechen? Götter haben bei diesem Fluss geschworen, solange ich denken kann.

Und da ist auch der Hass, mit dem Hades mir begegnen wird, weil ich eine Freude aus diesem Land ziehe. Ich hoffe, er ärgert sich schwarz und versteht, wie lächerlich er sich verhält – wütend zu sein auf ein Mädchen, das eine Zuflucht sucht? Oder auf etwas so Simples wie Blumen in seinem Reich?

Vielleicht hat er recht, wütend zu sein.

Solange meine Finger im Boden stecken, fühle ich jede Blume auf dieser neuen Wiese. Ich schließe die Augen und befehle ihnen, zu blühen, sich auszusäen und sich zu verbreiten. Ich werde sein Reich mit tausend Blüten bedecken.

Ich sorge dafür, dass Hades seine Domäne nicht mehr ansehen kann, ohne auch meine zu sehen.