Kapitel
10

H ades ist am nächsten Morgen nicht beim Frühstück. Einen Moment lang genieße ich es, allein zu sein und ein Mahl einzunehmen, bei dem ich mir nicht öfter etwas verbeißen muss, als es wirklich zu sagen. Aber dann fällt mir wieder ein, dass die Nymphen mich jetzt beobachten, und irgendwie kann ich den Blick nicht von den Türen abwenden und versuche, Staub in der Luft zu entdecken, Licht, das sich merkwürdig bricht – irgendetwas, das auf die Anwesenheit einer Beobachterin hinweist.

Endlich gebe ich auf. »Kannst du dich wenigstens zu mir an den Tisch setzen?«, frage ich. »Das wäre weniger merkwürdig, als wenn du die ganze Zeit neben mir schwebst.«

Sturm kommt schimmernd mit einem Achselzucken zum Vorschein, und obwohl sie körperlos ist, schafft sie es, sich schwer auf einen Stuhl plumpsen zu lassen. Sie sagt nichts, beobachtet mich aber, und ihr Stirnrunzeln wird stärker.

»Was ist?«, frage ich.

»Hmmm?«

»Du siehst mich ständig an.«

»Ich versuch nur, schlau aus dir zu werden. Du scheinst mir ziemlich direkt zu sein. Keine Ahnung, warum Hades von dir so verwirrt ist.«

»Verwirrt« scheint mir etwas schwach für die Bosheit, die ich an ihm wahrnehme. Aber ich bezweifle, dass Sturm mir erklären wird, was sie meint, also ignoriere ich ihre Blicke und konzentriere mich darauf, klebrige Honigspiralen auf meinen Joghurt zu gießen.

»Ich sollte dir wohl sagen, dass ich vorhabe rauszugehen, sobald ich hier fertig bin«, sage ich.

Sturm zuckt wieder nur mit den Achseln. »Hades hat nur gesagt, wir sollen ihm berichten, was du tust, nicht dich daran hindern.«

»Und hat er auch gesagt, dass du mir das sagen sollst?«

Sie blinzelt. »Nein, aber das alles «, sie wedelt mit den Händen in meine Richtung, »ist mir viel zu egal, um mir groß Gedanken darüber zu machen.«

Nach dem Frühstück verschwindet Sturm wieder in einem Dunst, wobei ich sicher bin, dass sie noch in der Nähe ist, und ich mache mich auf den Weg zum Haupteingang. Und in diesem Moment höre ich das Geschrei.

»Ich gehe erst, wenn du mir sagst, wo sie ist!« Es ist eine hohe Stimme mit einer gewissen Härte darin, wie Kieselsteine in einem Flussbett. Ich glaube nicht, dass es eine Nymphe ist.

»Ich sage das nicht noch einmal«, sagte Hades. Er schreit nicht, aber die Wände beben wieder, und ich stelle mir vor, dass seine dunkle Aura stärker ist als je zuvor.

»Du lügst mich an. Ausgerechnet mich ! Du –«

»Sei vorsichtig, wie du mit deinem König redest.«

»Ich bin nicht einfach deine Untertanin, Hades. Ich bin deine Geheimnisbewahrerin. Los, versuch noch mal, mich anzulügen.«

»Gerade du solltest wissen, dass ich nicht lüge, wenn ich sage, niemanden entführt zu haben.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagt die Fremde beharrlich.

»Und du hältst wirklich so wenig von mir, dass du mir zutraust, ich würde eine Frau entführen?«

»Vielleicht sind die anderen Könige endlich zu dir durchgedrungen. Vielleicht sollte ich die anderen Mitglieder des Hofes versammeln und sehen, was die glauben.«

Nein . Es dürfen nicht noch mehr Leute erfahren, wo ich bin.

Ich eile hinaus, und die Frau, mit der Hades streitet, dreht sich bei der Bewegung zu mir um. Sie sieht nicht viel älter aus als ich – hat große runde Augen und lange schwarze Haare, die ihr feucht an der leichenblassen Haut kleben.

Sofort rennt sie auf mich zu und packt meine Schultern mit ihren klammen Fingern. Sie betrachtet mein Gesicht, und ihre Besorgnis erinnert mich so sehr an Kyane, dass ich einen Kloß im Hals habe.

»Geht es dir gut? Hat er dir wehgetan?«, fragt sie eindringlich.

»Bei den Flüssen der Hölle, du solltest mich besser kennen«, schnaubt Hades.

»Nein, nein, es geht mir gut«, stottere ich, und Panik steigt in mir auf. »Bitte sag niemandem, dass ich hier bin.«

Die Frau sieht mich stirnrunzelnd an.

Dann wendet sie sich Hades zu, der die Hände ausbreitet, als hätte er keine Ahnung, wie er das erklären soll.

»Kore«, sagt sie nach einem Augenblick, »wir zwei machen jetzt einen kleinen Spaziergang.« Sie zeigt anklagend auf Hades. »Und mit dir rede ich später noch.«

Hades nickt, blickt zwischen uns hin und her, als wäre er unsicher, ob er besorgt sein muss, was ich ihr erzählen könnte, oder erfreut, weil ich ihn vor ihrem Zorn gerettet habe. »Sturm«, ruft er schließlich. »Bleib bitte hier. Lass sie allein reden.«

»Du lässt sie von Aurai verfolgen?« Die Frau blickt ihn mit offenem Mund an. »Wir reden definitiv später. Komm, Kore.«

Ich muss mich ziemlich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Sie ist nicht viel größer als ich, aber spindeldürr. Die langen Haare und Beine lassen sie noch aufgeschossener wirken, und ich muss fast rennen, damit sie mich nicht abhängt.

»Ich bin Styx. Der Fluss«, sagt sie, was erklärt, warum sie aussieht, als hätte man sie aus einem Sumpf gezogen. »Du hast Blumen für mich gemacht. Deshalb wusste ich, dass du hier bist. Du bist Kore, nicht wahr? Daher die Blumen?«

Ich nicke mutlos. Wird sie … War’s das? Werde ich jetzt jeden Moment nach Hause geschickt?

»Hades hat die Sitzung des Hofes vertagt, und das hat er noch nie getan, also dachte ich, es wäre, weil … weil …« Sie scheint verwirrt zu sein, blinzelt und schüttelt den Kopf.

»Weil niemand sehen sollte, dass er mich gefangen hält?«

»Ja. Aber das ist nicht der Fall? Du willst hier sein?« Ich sehe, wie viel Mühe sie sich gibt, zu umschreiben, was sie angenommen hatte.

Irgendwie ist es schön zu wissen, dass diese Frau gegen ihren eigenen König für mich rebelliert hätte, wenn Hades mich wirklich entführt hätte.

»Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, ich wusste nicht, wohin ich sonst soll. Meine Eltern wollen, dass ich heirate, und ich … ich will das nicht.«

»Wen heiraten?«

»Das weiß ich noch nicht«, sage ich. »Es ist nur … es ist eben nicht das, was ich will. Ich möchte die Welt sehen und Leute kennenlernen und lernen und … Ach, es ist nicht wichtig.«

»Natürlich ist es das.«

Ich schüttele den Kopf. »In diesem Fall ist nur wichtig, was ich nicht will – und das ist Heim und Herd. Ich will nicht in einem Haus eingesperrt sein und dann … Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt jemals Kinder haben will, aber sicher nicht jetzt. Und abgesehen von meinem Vater habe ich vor Hades noch nicht einmal einen Mann kennengelernt. Ich meine, es waren welche auf meiner Amphidromia, aber ich kann mich kaum an sie erinnern, und Mutter erwartet, dass ich … und … Vater will mich einfach kontrollieren … ich …«

Die Worte sprudeln schneller aus mir heraus, als ich ihnen Sinn geben kann. Es ist so schwer, dieses tiefe Gefühl in mir in Worte zu fassen, das mir die Luft nimmt, wenn ich an meine Zukunft denke.

Und ich weiß nicht warum, aber Styx soll nicht denken, dass Hades mich entführt hat. Er mag ein nerviger, unausstehlicher Arsch sein, aber er ist keins von diesen Monstern, die zu fürchten ich erzogen wurde. Er hat mich nicht hierherverschleppt, hat mich nicht erpresst, hat mir nichts getan. Aufgezwungene Webstühle und spionierende Nymphen machen das hier nicht zu einer der Geschichten, die Mutter erzählen würde. Er verdient vielleicht, dass ich ihm aus Trotz überall Blumen hinpflanze und ihn offen beleidige, aber nicht, dass seine Untertanen glauben, er hätte jemanden entführt.

»Götter, was für ein Chaos«, sagt sie und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sind so feucht, sie bleiben einfach kleben. »Du bist also hierhergeflohen, weil Zeus dich zwingt, jemanden zu heiraten? Und Hades … beschützt dich?«

Ich nicke. »Er will nicht, aber ich habe ihn mit Xenia verpflichtet.«

»Schlau«, sagt sie. »Aber du kannst ihm vertrauen.«

»Vor zwei Minuten hast du ihn noch angeschrien. Du glaubst eindeutig, dass er zu Schrecklichem fähig ist.«

»Ich bin die Göttin des Hasses.« Sie zuckt die Achseln. »Manchmal geht es einfach mit mir durch. Xenia zwingt ihn nur, dir ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, und nicht, deine Gegenwart geheim zu halten. Das tut er aus freiem Willen.«

»Und die Nymphen, die mir folgen?«

»Hades kann ziemlich paranoid sein. Aus gutem Grund – du solltest mal hören, was die anderen Götter bei meinen Wassern schwören.«

Auf dem Weg sehe ich, dass der Asphodelos sich ausgebreitet hat. Der säurehaltige Geruch der Unterwelt wird vom frischen Duft der vielen Blüten ersetzt, sodass ich die Nähe ihres Flusses erst bemerke, als ich die Styxblüten wie Schaum auf einer Welle an seinem Ufer sehe.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragt sie.

»Zwei Tage.«

»Moiren, das habe ich befürchtet.« Sie seufzt. »Das ist nicht lang. Wenn ich es schon herausgefunden habe, dann werden andere Götter das auch bald. Ich bin die Eidbewahrerin – deshalb schwören Leute bei meinen Wassern. Aber die anderen werden es nicht geheim halten. Sie sind Hades ergeben, aber wenn sie glauben, es könnte ihnen Zeus’ Gunst verschaffen …«

»Ich weiß«, sage ich leise. Hades und Poseidon mögen Herrscher ihrer eigenen Welten sein, aber Zeus ist der König der Götter. Er behauptet zwar, sie seien alle gleich, aber das ist eine Lüge, und alle tun nur so, als würden sie es glauben, weil niemand einen weiteren Krieg ertragen könnte. Mein Vater hat die größte Macht. »Ich versuche, mir zu überlegen, was danach kommt. Ich brauche nur etwas Zeit.«

Sie nickt. »In Ordnung, ich werde nachdenken. Aber auch wenn du nicht mehr Zeit bekommst … mach das Beste draus.«

Ich nicke. »Das tue ich. Oder ich versuche es wenigstens. Und apropos, weißt du, wo die Menschen sind? Die Toten, meine ich.«

Sie sieht mich anerkennend an. »Schon, aber aus denen wirst du nicht viel herausbekommen.«

»Wie meinst du das?«

»Ihre Seelen verfallen, sobald sie dieses Reich betreten. Die meisten sind an diesem Punkt kaum mehr als Erinnerungen. Folge einfach meinem Fluss in diese Richtung, bis er auf den Lethestrom trifft, auf dessen anderer Seite wirst du sie finden. Bleib dicht an meinem Ufer, wenn du keine anderen Götter treffen willst; sie hassen es so sehr, in der Nähe meines Wassers zu sein. Viel Spaß – wir reden bald.«

Sie geht einen Schritt auf den Fluss zu, aber ihr Blick bleibt an den Blumen hängen, und sie pflückt eine.

»Sie sind wirklich schön«, sagt sie und dreht sie zwischen den Fingern. »Wahrscheinlich sollte ich sie eigentlich hassen – Rosa ist nicht so meine Farbe. Aber die Blütenblätter kräuseln sich irgendwie. Sie sind wie mein Zuhause.« Sie lächelt. »Danke.«

Sie steckt mir die Blüte hinters Ohr. »Da«, sagt sie. »Das ist, als wäre ich bei dir und würde auf dich aufpassen.«

Und dann löst sie sich auf.

Meine Kehle ist trocken und ich atme zitternd ein. Ich bin in Sicherheit. Ich werde nicht zu meinen Eltern zurückgeschleift. Die Blütenblätter kitzeln mich an der Wange, und obwohl ich weiß, dass Styx mich nicht beschützen kann, fühlt es sich so an – wenigstens gibt sie mir Freundschaft und Gemeinschaft, und das habe ich so sehr vermisst, dass es wehtut. Mein ganzes Leben auf der Insel habe ich mich so darauf konzentriert, was mir fehlte, dass ich nie an das gedacht habe, was ich besaß: Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe.

Bevor meine Angst sich in Trauer verwandelt und Tränen fallen, mache ich mich am Fluss entlang auf den Weg. Ich renne zwar nicht, gehe aber so schnell, dass ich meine Gefühle hinter mir lassen kann.

Der Boden unter meinen Füßen heißt mich pochend willkommen und meine Ängste verblassen. Zu Hause fühlt die Natur sich tröstlich an. Hier ist es, als würde sie mich feiern, als wäre sie wahnsinnig froh, dass ich endlich hier bin. Es gibt andere Naturgottheiten auf dem Olymp und im Meer, aber eindeutig keine in der Unterwelt. Ich konzentriere mich auf das, was ich fühle, und Blüten sprießen bei jedem meiner Schritte.

Ich muss nicht lange gehen, bevor ich einen anderen Fluss sehe, der mit der Styx zusammenfließt, seine Wasser wabern wie Nebel. Als ich näher komme, scheint es irgendwie falsch, zu denken, dass es überhaupt Wasser ist. Die Lethe . Der Fluss des Vergessens.

Er hat magnetische Kräfte, lockt mich mit leisem Flüstern und einem sanften Ziehen.

Ich trete zurück. Dieser Fluss ist noch gefährlicher als die dunklen Wasser der Styx.

Ich suche den Horizont nach einem Zeichen ab, wie weit diese Flüsse wohl fließen, aber ich sehe kein Ende. Die Lethe ist nicht breit, eher ein Bach, wo sie meinen Weg kreuzt. Ich weiß nicht, wie mächtig sie ist. Ein Tropfen könnte genügen, um mir meine Erinnerungen zu rauben.

Bevor ich noch lange darüber nachdenken kann, nehme ich Anlauf und springe auf die andere Seite.

Leichtsinnig. So unglaublich leichtsinnig.

Aber ich würde es wieder tun, wenn ich so dort hinkomme, wo ich will.

Auf der anderen Seite wächst der Asphodelos dicht und über ihm hängt ein dunstiger grauer Nebel.

Plötzlich haut es mich von den Füßen. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf – und dann mehr als nur Bilder: Gerüche und Geräusche und Gefühle. Es ist, als wäre ich wirklich dort, schlage mit der Faust auf den Tisch, rede lauter als die anderen, die verstummen. Dann wird wieder geschrien, und ich habe plötzlich den Eindruck eines Stimmengewirrs, als hätte jemand anders mir das alles ins Gehirn gepflanzt.

Ich springe auf, die Sichel in der Hand.

Da ist ein Mensch.

Offensichtlich ein Toter, so dunstig und substanzlos wie Sturm, nur schlimmer. Die Lebensquelle dieses Menschen füllt sich nicht langsam wieder wie die ihre, sondern verblasst. Und alles, was von seinem Leben übrig bleibt, ist ein Rest von Lärm. Ein Politiker vielleicht oder ein Anwalt. Viel Zeit, die an einem lauten und chaotischen Ort verbracht wurde.

Er taumelt ziellos vorwärts, bevor er sich langsam aufrichtet und finster den Mund verzieht.

Er muss durch mich hindurchgegangen sein. Deshalb waren seine Erinnerungen so stark.

Wenn ich mich konzentriere, kann ich mich wieder auf sie einstimmen. Ich sehe Reihen von Menschen, die langsam deutlicher werden.

Es liegt an mir. Meine göttliche Gegenwart gibt diesem Menschen mehr Leben, als er vorher hatte – zumindest in diesem Reich.

Ich laufe vor ihm weg, bevor er zu viel Anziehung auf meine Macht ausüben kann, aber obwohl ich mich immer weiter von ihm entferne, habe ich noch Gänsehaut. Ich habe so etwas noch nie erlebt – die Erinnerung eines Menschen, ein ganzes Leben am eigenen Leib zu fühlen. Aber ich wollte die Welt sehen, und was kann besser sein, als sie durch jemanden zu sehen, der in ihr gelebt hat?

Und dann begreife ich es – das ist gar kein Nebel vor mir. Es sind die Menschen, die sich wie eine Herde Vieh versammelt haben und ziellos umherlaufen. Grau und dunstig reichen sie, so weit ich blicken kann. Fast habe ich das Gefühl, als könnte ich selbst verschwinden, wenn ich ihnen zu nahe komme.

Aber mehr noch will ich unbedingt zu ihnen, will mich unter sie mischen und von ihrem Leben erfahren.

Ich wappne mich kurz, dann trete ich in die Menge.

Salzige Gischt auf meinen Lippen, sturmgepeitschtes Wasser läuft mir über die Hände, ein Seil gräbt sich rau in meine Haut, aber da ist immer der Horizont, immer das Versprechen neuer Möglichkeiten.

Weiche Haut an jedem Zentimeter meiner Haut, mein Kopf dreht sich, so viel Sehnsucht nach mehr Nähe, Verlangen nach mehr Nähe.

Hunger nagt in meinem Bauch, ich bin zu schwach, um aufzustehen, Insekten stechen mich.

Blut an meinen Händen, Macht durchströmt mich, ich lächle zufrieden, meine Muskeln gehorchen mir, niemand hält mich auf, und ich fälle Menschen wie Bäume.

Blut an meinen Händen, die sich auf meinen plötzlich leeren Bauch legen, mein ganzer Körper ist in zwei Hälften zerrissen, und ich bin verzweifelt, ich sterbe, aber ich will unbedingt wissen, ob mein Baby überlebt.

Blut an meinen Händen, aber Fäuste schlagen weiter auf mich ein. Ich verschlucke mich an meinen eigenen Zähnen. Alles ist rot.

Es ist zu viel.

Ich wanke vorwärts, bin schon fast am Rand der Menschenmenge, schon fast draußen. Ich muss weg von ihnen und ihrem Schmerz, ihren Gefühlen und allem, was sie sind. Menschen, komprimiert zu einem einzigen Moment, einer Erinnerung, einem Gefühl. Es ist zu viel. Und da ist so viel Blut.

Schreckliche Angst . Mir bleibt das Herz stehen. Meine Gedanken stocken. Blut und Schmerz und Erschöpfung blitzen auf, aber alles ist überlagert von so viel Angst. Ich falle im Matsch auf die Knie.

Es ist nicht meine Angst, es ist nicht meine. Ich wiederhole es immer wieder, als könnte es mich in all diesem Wahnsinn bei Verstand halten.

Aber es ist jemandes.

Der Gedanke reißt mich aus der Angst heraus, und ich sehe eine Frau vor mir, die stolpert und sich manisch umsieht, obwohl sonst niemand dort ist. Dort ist nichts , nicht einmal Asphodelos. Wie weit bin ich gelaufen, als ich versuchte, den Seelen der Sterblichen zu entkommen?

Sie entzieht mir Kraft, und es kostet mich die größte Anstrengung, nicht wieder in ihre Erinnerungen zu stürzen.

»Alles ist gut«, presse ich erstickt hervor. Meine Stimme ist heiser, aber sie blinzelt und sieht mich an.

Jede Sekunde in meiner Nähe wird sie mehr sie selbst.

»Was?« Sie schüttelt den Kopf, als könnte sie die Verwirrung abschütteln. Instinktiv greife ich nach ihrer Hand und sie fährt zusammen.

»Du kannst mich berühren?«, fragt sie. »Ich … ich kann das fühlen.« Sie starrt den Arm an, der unter meiner Berührung langsam Form annimmt. »Wer bist du?«

»Das ist nicht wichtig«, sage ich. »Aber ich werde dir nichts tun.«

»Wo bin ich«, fragt sie und starrt in die Leere um uns herum – schwarze Erde, die auf schwarzen Himmel trifft.

Kann sie das ertragen? Ich glaube schon – nichts kann schlimmer sein als ihre Angst.

»In der Unterwelt«, sage ich einfach.

Auf ihrem Gesicht zeigt sich Erkenntnis, und sie nickt, als würde das alles Sinn ergeben. »Natürlich. Ich erinnere mich wieder.«

»Wie heißt du?«

»Larissa.«

»Warum hast du dich so gefürchtet, Larissa?«

Sie sieht auf und hat schreckliche Angst. Natürlich. Was für entsetzliche Dinge sie auch erlebt hat, es war so schlimm, dass sie nach dem Tod dazu geworden ist.

»Du musst mich nicht fragen«, sagt sie. »Du kannst tun, was du vorher getan hast … meine Erinnerungen sehen.«

»Willst du denn, dass ich es weiß?«, frage ich. In ihren Verstand einzudringen kommt mir übergriffig vor, auch wenn ich ihren Erinnerungen kaum entgehen kann. Mein Kopf hämmert, so anstrengend ist es, sie von mir fernzuhalten, aber nachdem ich sie jetzt absichtlich berührt habe, scheint sie sich wieder in ein denkendes Wesen zu verwandeln.

Sie stutzt bei der Frage. Nach einem Moment nickt sie und ich lasse meine Deckung sinken.

Ihre Erinnerungen ersticken mich. Ich nehme sie nicht wie eine Zuschauerin wahr, sondern fühle sie, verstehe sie.

Ich atme das Leben dieser Frau ein und fühle ihr Leid. Ich sehe jede Sekunde ihres schrecklichen Lebens, und als ihre Erinnerungen mich wieder verlassen, empfinde ich immer noch ihre Angst. Da ist etwas hier und jetzt, vor dem sie sich fürchtet.

Ich löse mich aus ihren Erinnerungen und lege eine zitternde Hand an meine Wange, aber meine Augen sind trocken. So kann ich sie hier nicht allein lassen. Wenn ich das tue, wird sie wieder auf reine Angst reduziert werden.

»Ich kann dir dabei helfen zu vergessen«, sage ich, denn mehr kann ich ihr nicht anbieten. Ich kann sie zum Wasser der Lethe bringen.

»Aber das …« Sie ringt um Worte und ich begreife es nicht. Warum nur will sie sich erinnern? Ich kann ihre Erinnerungen noch fühlen. Was nützt es, eine Göttin zu sein, wenn man nichts gegen das tun kann, was die Menschen einander antun?

Andererseits hat mein eigener Vater seine Frau gezwungen, ihn zu heiraten, nachdem er ihr Gewalt angetan hat – angeblich, um ihren Ruf zu schützen. Ich denke an all die anderen Leute, denen er wehgetan hat: die Mädchen, die laufen, so schnell sie können; der an einen Fels gekettete Prometheus, dem immer wieder die Eingeweide rausgerissen werden.

Was nützt es, eine Göttin zu sein, wenn nur die Bösen all dem Schmerz in dieser Welt entgehen?

»Ich will nicht vergessen«, sagt sie. »Meine Erinnerungen sind nicht das Problem, sondern dass die hier sind. Die Menschen, die mir wehgetan haben, haben länger gelebt und anderen Menschen wehgetan, und jetzt sind sie hier, für alle Ewigkeit auf derselben Wiese wie ich.«

Ich betrachte den Asphodelos, und mir wird bewusst, wie schrecklich das ist. Für immer hier zu sein, für alle Zeiten schreckliche Angst zu haben, während deine Seele zerfällt und du immer wieder dem begegnest, den du fürchtest.

Dabei könnte man das so leicht beheben. Es wäre einfach, in diesem großen, leeren Land einen weiteren Raum zu schaffen, wo die grausamsten Menschen hinkommen, um die anderen vor ihnen zu bewahren. Ihre Seelen vergehen ohnehin – man könnte einen angenehmen Ort erschaffen, wo sie in Ruhe verblassen können, ohne sinnlos zu leiden.

Es sei denn, Hades ist es egal.

»Ich muss gehen«, sage ich, eine Kälte in der Stimme, die ich nicht von mir kenne.

»Nein! Bitte bleib«, sagt sie. »Zum ersten Mal fühle ich mich wie ich selbst, seit … ich weiß nicht einmal mehr, seit wann.«

Ich halte inne. Natürlich. Es geht hier nicht um mich und nicht um Hades. Noch nicht. Aber bei den Moiren, das wird es.

In diesem Moment kann ich nur eins tun.

Ich reiche ihr die Hand und sie nimmt sie. Ich schließe die Augen und denke an meine Blumen. Dann stelle ich mir vor, wie sie zu sich selbst zurückeilt: ihre Gedanken, ihre Persönlichkeit, alles, was sie war. Ich denke, dass all das bleibt, dass sie wieder frei ist.

Es funktioniert. Keine Ahnung, woher ich es weiß, aber ich weiß es. Wie eine Blume, die Wurzeln schlägt.

Als ich die Augen öffne, merke ich, dass es sogar besser funktioniert hat, als ich dachte. Sie steht kompakt und in Farbe vor mir, ihre schwarzen Haare verschmelzen mit dem Himmel, und ihre Haut ist nur grau, weil Sonnenlicht fehlt.

»Na also«, sage ich. »Jetzt ist es besser. Bald komme ich zurück und wir können länger reden.« Ich glaube, ich habe den Grund gefunden, weshalb ich hier bin, einen Sinn für meine zusätzliche Zeit. »Aber vorher muss ich einem Gott ein paar mehr Gründe geben, paranoid zu sein.«

Einen Moment lang sieht sie verwirrt aus. Dann blickt sie misstrauisch zu den anderen Seelen.

»Ich kümmere mich darum«, verspreche ich und runzele die Stirn.

Zu viele Geschichten beginnen mit Göttern, die etwas versprechen, das sie nicht halten können.