I ch sinke in den Schlaf, sobald ich mich ins Bett lege, falle wie ein Stein auf den Grund des Ozeans.
Ich träume von meiner Mutter.
Eigentlich ist es eine Erinnerung. Ich bin jung, vielleicht ein oder zwei Jahre nach meiner Amphidromia. Mutter verbindet mir den Arm, umwickelt ihn so fest mit Leinen, dass ich Angst habe, zu atmen, um sie nicht aus ihrer Konzentration zu reißen und wütend zu machen.
»Du musst vorsichtiger sein. So etwas habe ich wirklich noch nie gehört«, tadelt sie mich. »Du bist eine Göttin – wie ungeschickt muss man sein, um sich einen Knochen zu brechen?«
»Es war ein Unfall«, protestiere ich, aber fast treibt es mir die Tränen in die Augen – nicht nur weil es wehtut, sondern auch vor Empörung, trotz meiner Schmerzen getadelt zu werden, und aus Verwirrung, weil ich eindeutig etwas falsch gemacht habe, aber nicht weiß, was es ist. Ich tue so vieles, um Mutter glücklich zu machen. Wie kann ich versagt haben, ohne es überhaupt zu bemerken?
»Es musste ja so kommen bei dieser Herumrennerei. Du kannst so nicht weitermachen, Kore. Aus dir wird eine junge Frau, und du musst anfangen, dich wie eine zu benehmen. Keine Wettrennen mehr mit den Nymphen.«
Ich blinzele und versuche, es zu verstehen. Schließlich frage ich: »Aber warum?«
»Warum was?«
»Warum kann ich nicht mehr mit den Nymphen um die Wette rennen? Es macht Spaß.«
»Es sollte eigentlich klar sein, warum«, sagt sie, als sie den Verband verknotet, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ich entspanne mich ein wenig, aber dann verschwindet ihr Lächeln. Sie schiebt die Schultern zurück und sieht mir direkt in die Augen. »So etwas ist schön und gut, solange du ein Kind bist, aber das bist du nicht mehr. Über die Insel rennen, Rad schlagen im Gras – das ist jetzt nicht mehr angemessen. Sie werden dich für eine wilde Nymphe halten, nicht für eine achtbare Göttin. Schon jetzt redet man auf dem Olymp über deine Anmut. Willst du denn keine reife, elegante junge Dame sein? Willst du nicht, dass ich stolz auf dich bin?«
Ich weiß, was die richtige Antwort ist, und nicke schon, bevor sie überhaupt ausgeredet hat, aber in mir verwelkt etwas wie eine in den Schatten geworfene Blume.
»Braves Mädchen«, sagt sie, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und tätschelt mir liebevoll die Schulter. »Ich liebe dich so sehr, Kore.«
Und ich fühle es, dieses Leuchten ihrer Zustimmung. Aber als ich in jener Nacht zu Bett gehe, weine ich mein Kissen nass – und bin mir nicht sicher, woher die Tränen kommen.
Ich wache auf und das Leinen unter meiner Wange ist feucht. Dann blinzele ich den Schlaf weg und spüre dieselbe Verwirrung wie als Kind. Es war, als würden sich ständig die Regeln ändern. Ich konnte nie vorhersagen, was verboten war, bis ich deswegen Ärger bekam. Irgendwann hatte ich einfach nur das Gefühl, dass alles verkehrt war, was mir Freude machte.
Ich liebe meine Mutter. Sie hat mich immer beschützt.
Aber es muss einen Grund geben, warum ich so viel an sie denke – und warum mich jeder Gedanke mit solcher Furcht erfüllt. Was würde ich darum geben, mit Kyane über alles reden zu können. Obwohl ich weiß, was sie sagen wird: »Deine Mutter liebt dich, und das bedeutet, dass sie nur dein Bestes will.« Das sagt Kyane immer: »Sie liebt dich, sie liebt dich, sie liebt dich.«
Aber liebt man jemanden wirklich, wenn man alles an ihm ändern will?
Das schlechte Gewissen übernimmt. Wie kann ich nur an der Liebe meiner Mutter herummäkeln, nachdem ich sie mit Hermes gesehen habe? Sie widersetzt sich meinem Vater, um mir wenigstens ein bisschen Schutz zu verschaffen. Ich sollte dankbar für alles sein, was sie für mich getan hat – immerhin hat sie ihr halbes Leben auf einer Insel verbracht, nur um mich vor den Olympiern zu verstecken, all die Opfer, die sie gebracht hat …
Ich schlage die Decke zur Seite und streiche mir das verschwitzte Haar aus dem Gesicht.
Das ist alles Hades’ Schuld. Wahrscheinlich hat er mir all das nur gezeigt, um genau diesen emotionalen Zusammenbruch zu provozieren. Was habe ich schon erfahren? Eigentlich wusste ich sowieso Bescheid. Er hat nur ein paar Details hinzugefügt.
Es gibt Dringenderes, das meine Aufmerksamkeit erfordert.
Hades ist in der Bibliothek und liest meine Notizen so aufmerksam, dass er mich gar nicht bemerkt, als ich eintrete.
»Was machst du da?«, frage ich.
Er fährt richtiggehend zurück, und seine Aura flackert über seine Haut, bevor sie wieder verschwindet. Einen Moment lang bin ich wie versteinert. Entweder kann er besser schauspielern, als ich ihm zugetraut habe, oder seine Reaktion war echt und entwaffnender als alles, was er bisher getan hat.
»Tut mir leid«, sagt er. Es scheint weniger eine richtige Entschuldigung als ein Reflex zu sein, was mich bei einem Mann, der eine Krone trägt, überrascht. Dann setzt er wieder dieses dreiste Lächeln auf und lehnt sich mit dem ganzen Selbstvertrauen eines Mannes, der ein Königreich besitzt, im Schreibtischstuhl zurück. Und ja, er besitzt wirklich ein Königreich, aber es gefällt mir trotzdem nicht. »Wie ich gestern schon sagte, werde ich nicht versuchen, dich aufzuhalten.«
»Das könntest du sowieso nicht.«
»Ja, ja, das hast du deutlich genug gesagt. Und die Menschen sind mir vielleicht egal, aber meine Bibliotheken keineswegs. Dieses Zimmer ist wirklich ein Saustall, aber das ist noch nichts im Vergleich mit diesen Notizen.«
»Verzeihung?«
»Dir ist verziehen – du musst einfach noch viel lernen.«
»Ich –«
»Keine Zeit? Ja, du hast auch deutlich gemacht, dass du es eilig hast. Deshalb habe ich beschlossen, dir zu helfen.«
»Ich brauche deine verdammte Hilfe nicht«, schimpfe ich, als ich es endlich schaffe, auch mal was zu sagen.
»Doch, Kore, die brauchst du.« Er sieht … enttäuscht aus, was ich wirklich zuallerletzt erwartet hätte.
»Du besitzt dieses Reich schon seit Jahren, hast nichts getan, und jetzt willst du helfen?«
»Wie gesagt: Das Reich ist mir egal; meine Schriftrollen sind mir wichtig. Also werde ich Notizen für dich machen und dafür sorgen, dass es hier aufgeräumt ist, da du selbst offensichtlich unfähig bist, Ordnung zu halten.«
»Warum sollte ich dir vertrauen?«
»Mir ist egal, ob du mir vertraust. Du kannst mir gern die ganze Zeit über die Schulter gucken. Aber sieh dir das an, Kore.« Er zeigt mit dem Finger auf eine Schriftrolle. »Die ist eingerissen und hier ist Tinte drauf. Zum Glück hast du Xenia widerrufen, denn damit hättest du sicher dagegen verstoßen.«
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn anstarre. Ich ringe um eine Antwort auf diesen Irrsinn – was ist das schon wieder für eine Taktik? »Ich glaube nicht, dass Xenia im Hinblick auf leicht zerlesene Pergamente erschaffen wurde.«
»Also, wenn das außer Acht gelassen wird, hat das ganze Konzept für mich enorm verloren. Sag mir einfach, was ich tun soll, und ich tue es. Aber hör auf, meine Bücher zu malträtieren.«
Ich denke darüber nach. Höchstwahrscheinlich will er einfach herausfinden, was ich mache. Aber es ist mir ziemlich egal. Ich halte meine Pläne nicht geheim. Ich halte sie ihm bei jeder Gelegenheit unter die Nase und sage, dass er mich nicht aufhalten kann.
Natürlich besteht die Möglichkeit, dass er die Wahrheit sagt, helfen will und wirklich einfach nur seine Schriftrollen liebt. Es ist extrem unwahrscheinlich, aber ich wende den Blick ab, als sich ein warmes Gefühl in meinem Bauch ausbreitet. Ich habe nicht die Zeit zu erforschen, warum ich den Gedanken so ansprechend finde, dass dieser Mann, Gott eines richtigen Reichs, sich so um seine Bibliothek sorgt. Ich habe größere Probleme. So große Probleme, dass das warme Gefühl in Übelkeit umschlägt. Wenigstens kann ich ihn jetzt gefahrlos wieder ansehen.
»Nun, ich werde die Bücher heute sowieso nicht benutzen«, sage ich. »Wir haben keine Zeit. Es muss endlich etwas passieren.«
Als ich mich abwende, merke ich, dass ich wir gesagt habe, und hoffe wirklich sehr, dass Hades es überhört hat.
»Was?« Hades rennt mir hinterher, als wäre das nicht sein Reich. Ein Lächeln zuckt auf meinen Lippen.
»Natürlich nicht gleich alles«, sage ich. »Aber ich muss erst mal die Opfer von ihren Unterdrückern trennen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob man die ganze Menschheit so leicht in Opfer oder Unterdrücker einteilen kann«, kommentiert er trocken.
»Natürlich kann man das nicht.«
Ich öffne die Eingangstür des Palasts, aber bevor ich hindurchgehen kann, drückt Hades sie wieder zu und lehnt sich mit verschränkten Armen dagegen. Er ist mir so nah, dass ich mich bewusst darauf konzentrieren muss, nicht zurückzuweichen. Ich frage mich, ob er weiß, wie einschüchternd das ist, dann ohrfeige ich mich beinahe, weil er das natürlich weiß.
Tja, ich werde mich nicht von ihm kaltstellen lassen.
»Merkst du überhaupt, wie unverfroren es ist, einfach in das Reich eines anderen Gottes zu marschieren und etwas zu verändern, ohne ihn wenigstens zu konsultieren?« Er hebt die Augenbraue, und sein Lächeln ist so gönnerhaft, dass mir erst mal keine Antwort einfällt, während ich mich darauf konzentriere, es ihm nicht aus dem Gesicht zu boxen.
Herablassender Schwachkopf.
»Ja, weiß ich. Nächste Frage?«
Seine zweite Augenbraue gesellt sich zur ersten, beide zieht er fast bis zum Haaransatz hoch. Er lacht unsicher, und einen Moment lang genieße ich die Tatsache, dass es anscheinend die einzige Art Lachen ist, die ich von ihm höre. Ich habe mich für vieles gehalten. Hübsch. Brav. Sittsam. Aber verunsichernd gefällt mir vielleicht am besten.
»Du warst nie eine Freundin von Höflichkeit, aber das ist selbst für dich übertrieben taktlos«, sagt er.
»Aha, obwohl ich also schon die ganze Zeit echt laut verkünde, dass ich das alles tun werde, lässt es den dir deiner Ansicht nach geschuldeten Respekt vermissen, wenn ich es dann wirklich tue, ohne mit dir zu reden. Ist das korrekt?«, frage ich. Die Atmosphäre hat sich unmerklich verändert. Sie fühlt sich … angespannt an. Ich will ihn schubsen, will, dass er sich aufregt, will gewinnen. Es knistert fast, so nah ist er, all diese Spannung, die sich auf mich richtet. Als würde ich mit Feuer spielen.
»Ja, ich finde, es ist das Mindeste, dass du mich über die von dir geplanten Veränderungen in meinem Reich informierst.« Oh, sein Tonfall hat einen Grad der Herablassung erreicht, der die seines Lächelns weit übertrifft. Ein ganz neues Level.
»Dann lass mich das mal klarstellen, Hades. Ich respektiere dich nicht. In keinster Weise. Also werde ich mich nicht damit aufhalten, dir auch nur dieses Mindestmaß an Respekt zu erweisen. Gehst du mir jetzt bitte aus dem Weg?«
Er lacht leise, als hätte er Spaß daran. »Hast du das wirklich zu Ende gedacht? Wie willst du Tausende komplexe Menschen in meinem Reich in nur zwei Kategorien aufteilen? Menschen existieren kaum in einer binären Ordnung.«
Ich schwöre, wenn er mich noch einmal so kleinredet, werfe ich ihn in den Tartarus, die tiefste, dunkelste Grube in der Hölle.
»Als strukturierenden und vor allem nachweisbaren Faktor werde ich Angst nutzen und die, die sie auslösen, von denen trennen, die sie empfinden. Es ist eine vorübergehende Lösung, um die Seelen, die auf einen Zustand reiner Angst reduziert sind, sicher unterzubringen, während ich eine dauerhaftere Regelung suche.«
Hades blinzelt und etwas huscht über sein Gesicht. Er scheint sich auf seine Manieren zu besinnen und sich zu erinnern, dass er mir nicht mehr auf die Nerven gehen soll. Er will, dass wir höflich miteinander umgehen. Wirklich eine lachhafte Idee, wie wir gerade bewiesen haben, aber wenn er um Gnade winseln möchte, damit wir einen halbwegs annehmbaren Umgang finden, sage ich garantiert nicht Nein.
»Noch Fragen?« Ich lächle zuckersüß und versuche, seine ärgerliche Selbstzufriedenheit wieder hervorzulocken. Es ist viel leichter, damit umzugehen, als mit was auch immer er versucht hat, als er mir vorhin seine Hilfe anbot.
»Warum? Warum willst du das tun?«
»Weil diese Menschen leiden und mir das im Gegensatz zu dir nicht egal ist.«
»Kore«, sagt er. Diesmal ist seine Stimme sanft und die Freundlichkeit ist schlimmer als die Herablassung.
»Hör auf, mich so zu nennen«, schimpfe ich. Eigentlich geht es gar nicht darum, das weiß ich, aber das kommt jedenfalls aus meinem Mund.
»Warum?« Er runzelt die Stirn. »Du heißt so.«
»Nur theoretisch«, sage ich. »Jetzt geh mir aus dem Weg.«
»Würdest du bitte einen Moment warten?«
»Habe ich nicht schon genug Momente gewartet?«
Er atmet ein. »Hör zu, ich wollte nicht, dass die Sache so aus dem Ruder läuft. Ich habe nur ein paar Fragen – ich will wirklich helfen.«
»Ich kann sie später beantworten.«
»Du brauchst Stunden, um zu den Menschen zu kommen, wenn du durch diese Tür gehst. Es gibt einen schnelleren Weg«, sagt er.
Das lässt mich innehalten. Ich bin argwöhnisch, aber seine Miene verrät nichts, und das Versprechen, Zeit zu sparen, ist zu verlockend, um es einfach abzutun.
»Zwei Minuten«, sagt Hades. »Dann bringe ich dich zu einem anderen Ausgang.«
»Wie kann es Türen geben, die die Entfernung verringern?«
Hades zuckt die Achseln und ein Lächeln huscht über seine Lippen. »Es ist mein Reich. Die Gesetze der Physik beugen sich meinem Willen.«
»Okay. Zwei Minuten«, willige ich widerstrebend ein.
Hades deutet auf eine Tür. Es gibt hier so viele nutzlose Zimmer. Es ist eins der Duplikate vom Olymp, das anscheinend nur dazu da ist, Raum auszufüllen: ein paar Stühle, ein paar Wandteppiche, ein paar Löcher in der Wand für Schriftrollen. In einem Halter schwelt Räucherwerk und ich würge bei dem süßlichen Duft.
Hades zieht die Nase kraus, und ich habe ein bisschen das Gefühl, dass er bereut, ausgerechnet dieses Zimmer gewählt zu haben, aber entweder ist es ihm peinlich vorzuschlagen, den Ort zu wechseln, oder er will meinen Zorn nicht riskieren.
»Hör zu«, sagt er und senkt den Kopf. »Ich war vorhin nicht ganz ehrlich.«
»Ich bin schockiert.«
»Die Menschen sind mir nicht egal – zumindest waren sie es nicht. Als ich hier ankam, habe ich versucht, etwas für sie zu tun, aber ihre Seelen sind so schnell verfallen, dass keiner meiner Versuche funktioniert hat. Stattdessen habe ich meine Kräfte dazu genutzt, diesen Ort für die Götter meines Hofs zu verbessern. Aber wenn du eine Möglichkeit siehst, will ich helfen. Und außerdem, wie du ständig wiederholst, hast du nicht unbedingt die Zeit, das allein zu tun. Im Höchstfall ein paar Tage. Du wirst all die Macht und Hilfe brauchen, die du kriegen kannst.«
Ich denke an das, was Styx gesagt hat, dass Hades ein oder zwei Dinge über dieses Reich wissen muss, und ich hasse es, dass sie recht hat. Natürlich hat sie recht. Er herrscht über diese Welt, egal wie wenig er es verdient. Ein paar Seiten lesen wird mir kaum seine Kompetenz verschaffen. Und was wäre überhaupt das Schlimmste, was er tun könnte? Mir nicht die Wahrheit darüber zu sagen, was er herausgefunden hat? Seine Recherche gegenzuchecken ginge immer noch schneller, als alles selbst zu machen.
»Gut. Hilf mir, wenn du willst. Können wir jetzt gehen?«
»Nein. Du hast mir noch nicht gesagt, warum du das tust.«
»Bei Styx.« Komisch, das zu sagen, wo ich sie jetzt kenne. »Ist das das neue ›Warum bist du hier‹? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich leidenden Menschen helfen will, bevor du mir glaubst?«
»Ich glaube dir ja – aber genau wie bei ›Warum bist du hier?‹ denke ich, dass mehr dahintersteckt. Als du hier angekommen bist, hast du mich ja auch nicht um Hilfe gebeten, der Ehe zu entfliehen – du hast mir angeboten, Zeus zu ärgern.«
»Ja, weil ich dachte, das würde dich überzeugen, mir zu helfen. Aber ich bin nicht hier, um Zeus zu ärgern.«
»Nein? Nicht mal ein kleines bisschen?«
Ich erstarre.
»Du magst nicht aus exakt diesem Grund gekommen sein, aber ich habe dich gesehen – dein wahres Ich, das sich hinter dieser lächerlichen Fassade versteckt –, und erzähl mir nicht, du würdest dich nicht darüber freuen, wie fuchsteufelswild er sein wird, seine Pläne durchkreuzt zu sehen.«
Das Schlimmste ist nicht einmal, dass er recht hat, sondern, wie er es sagt, so vertrauensvoll, fast mit Bewunderung.
Trotz tausend Lügen hat er mich gesehen. Und das gefällt mir nicht.
»Macht«, sage ich, und es ist zum Teil eine Beichte, zum Teil will ich sehen, wie er darauf reagiert. »Ich tue es, weil ich Macht will.«
Er zuckt nicht einmal mit der Wimper. »Meine?«
»Natürlich nicht. Was soll ich denn damit? Glaubst du, ich will mich in diesem Haus verkriechen und den Rest der Welt ignorieren wie du? Nein, die anderen Götter des Olymp kontrollieren alles unter der Sonne – sogar die dämliche Sonne selbst –, aber was ist ihnen wichtig?«
Hades schnaubt. »Sex?«
»Ja, okay, das auch«, stimme ich zu seiner Überraschung zu. »Wer mit wem schläft, ist für sie das Maß aller Dinge. Und sie interessieren sich auch dafür, welche Götter zusammenkommen oder für welche Nymphen alle schwärmen – aber eigentlich ist das langweilig geworden. Im Moment sind sie besessen von den Menschen. Es ist, als würden sie Menschen benutzen, um ihr Vermächtnis voranzubringen. Danae, Areia, Alkmene – diese Sterblichen, denen sie hinterherjagen; ihre Nachkommen sind Helden, sie gründen Städte. Die Götter sind absolut vernarrt in sie. Die Menschen sind ihr Weg zur Macht, und sie wollen wissen, wen sie verführen oder begünstigen, zum Helden oder König machen können, wen sie benutzen sollen, um Städte zu zerstören oder neue in ihrem Namen zu gründen. Menschen bedeuten ihnen alles.«
»Und manchmal brauchen sie nur ein sterbliches Spielzeug, um ihre unsterblichen Leben interessanter zu machen«, sagt Hades und verzieht angewidert den Mund. »Das ist nicht falsch, aber was genau hat das mit meinem Reich zu tun?«
»Darauf komme ich noch. Die Menschen verehren die Götter und eifern ihnen nach, kopieren ihre schlimmsten Verhaltensweisen, denn wenn ihre Vorbilder es tun, warum sie dann nicht auch? Und am Ende schaden sie sich gegenseitig schlimmer, als die Götter es tun. Aber wenn wir ihnen zeigen, dass ihre Taten ewige Konsequenzen nach sich ziehen, ändern sie sich vielleicht. Wenn die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, hören sie vielleicht damit auf, sich ganz so schlimm wehzutun. Und wenn die Menschen zu große Angst vor der ewigen Strafe im Jenseits haben, um weiter zu töten, zu vergewaltigen und anderen Schmerz zuzufügen, warum sollten sie dann Götter verehren, die all das ständig tun? Vielleicht hören sie auf, sich für Götter zu interessieren, die so rücksichtslos mit ihrem Leben spielen.«
»Die Götter müssten sich ändern, wenn sie noch verehrt werden wollen«, dämmert es Hades. »Und das werden sie, da sie Götter sind.«
Ich nicke. »Genau. Was ist ein Gott ohne Anhänger? Ich tue das, um den Menschen zu helfen, aber den Göttern ihre Macht zu nehmen? Den Olymp und das Reich des Meeres zu zwingen, besser zu werden? Sagen wir, es ist eine zusätzliche kleine Motivation, um es hinzukriegen.«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gut genug erklärt habe, und halte die Luft an, während ich auf seine Reaktion warte. Ich bin mir auch nicht sicher, warum die mir so wichtig ist, aber so ist es eben.
Er runzelt die Stirn, als er nachdenkt, und ich kann fast jeden Gedanken landen sehen. Nach einer Sekunde sieht er mich auf eine Art an, dass ich mich winde. Er sieht schon wieder mich. Ohne Verstellung, ohne falsche Zurückhaltung und ohne Angst vor Konsequenzen. Vielleicht tut deshalb jede Millisekunde ohne eine Antwort von ihm weh.
»Es ist brillant. Es ist genial«, sagt er. Sein Blick ist beinahe ehrfürchtig. Und als er lächelt, ertappe ich mich dabei, wie ich das auch tue.
»Dann bist du dabei?«
»Das bin ich.« Er steht auf und bietet mir die Hand. »Lass uns das Reich teilen.«