I n der Bibliothek verbrachte Tage gehen nur schleppend voran. Mit dem Hochgefühl, eine Landmasse auseinandergerissen zu haben, stürze ich mich ein paar Stunden lang tatkräftig in die Recherche. Bald schon ist es verlockender, die Ziegelsteine des Kamins zu zählen – sechsundneunzig, wie ich am dritten Tag, den ich zwischen diesen Regalen verbringe, feststelle.
Hades redet nicht viel. Er sitzt einfach da und liest pflichtbewusst alles, was ich ihm gebe, fasst es für mich zusammen und gibt sonst nichts preis.
Ich bin nie allein dort. Wenn ich in der Bibliothek bin, ist er es auch.
Er muss diese Schriftrollen wirklich lieben.
Zugegebenermaßen könnte er nerviger sein. Ich könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass er ziemlich hilfreich ist. Er liest schneller als ich und seine Zusammenfassungen sind genau. Nachdem ich die ersten zwanzig nach Lügen überprüft und keine gefunden habe, beschließe ich, nur noch stichprobenartig zu kontrollieren.
Als Hades das bemerkt, lächelt er auf eine Art, die mir ausgesprochen vertraut vorkommt. Seine Augen glitzern amüsiert, und er presst die Lippen zu einer so dünnen Linie zusammen, als müsste er das Feixen unterdrücken. »Oh, ist das etwa ein Anflug von Vertrauen?«
»Sei still«, sage ich und raschele mit dem Papier, als müsste ich mich konzentrieren und nicht scharf nachdenken, um eine angemessen freche Antwort zu finden.
Seine Notizen werden an meine eigenen Schriftrollen geheftet, seine Schrift ist kühn und zügig. Ich ertappe mich mehr als einmal dabei, ihm beim Schreiben zuzusehen. Bisher war ich immer nur frustriert wegen seines Lesens – weil er zuerst nur gelesen hat, um mich zu ignorieren –, aber jetzt fühle ich mich von seiner Konzentration angezogen wie von der Schwerkraft.
Die Texte sind langweilig. Das ist die einzige akzeptable Entschuldigung dafür, dass ich mich so leicht ablenken lasse und es so viel wünschenswerter finde, Hades anzustarren. In diesem Augenblick lese ich eine unerträgliche Beschreibung von Trieren, auch Dreiruderer genannt – und habe noch keinen Hinweis gefunden, ob solche Boote aus einer Notwendigkeit heraus existieren oder ob die Sterblichen sie mögen und vielleicht gern welche in ihrem Jenseits hätten. Und, falls ja, würden sie sie dann bauen oder rudern wollen, oder würde es reichen, sie weit draußen auf einem Meer zu sehen? Warum machen sie das nicht deutlich in den Geschichten, die sie schreiben?
Hades ist auch nicht besonders interessant, aber interessanter als das.
Und seine Anwesenheit ist wie ein Juckreiz.
Vielleicht lenkt es mich nur ab, dass ich ständig darüber nachgrüble, warum Hades sich so sehr für die Recherche engagiert. Vielleicht hat es gar nichts damit zu tun, wie er an seiner Feder herumkaut, wenn er sich konzentriert.
Vielleicht raubt es mir auch einfach langsam den Verstand, stundenlang mit ihm in diesem kleinen Raum eingepfercht zu sein.
Ein paar Tage später fördert Hades das Tagebuch eines Menschen zutage. Es ist eine Schatztruhe voller Hoffnungen und Träume und Ängste, und wir sind so aufgeregt, dass es alles andere in den Hintergrund drängt. Selbst beim Abendessen lesen wir noch darin.
»Woher kriegst du die alle?«, frage ich und lege die Schriftrolle weg.
»Hermes bringt sie mir.«
Der Götterbote ist auch der Gott der Diebe, und ich habe keinen Zweifel, dass ein paar der Texte – vor allem das Tagebuch des Gelehrten, das wir studiert haben – gestohlen sind.
»Hasst dich Hermes?«
Hades lacht. »Kann sein. Aber was die Schriftrollen angeht … er weiß, dass ich gern lese.«
Was soll das bitte heißen? Lesen ist ja kein Hobby wie Musizieren oder Weben, man tut es eben. »Du hast Freude an diesen Dokumenten?«
Hades zuckt die Achseln. »Nun, ich lese lieber Gedichte, aber sie sind okay, definitiv interessant. Hast du keine Freude daran?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Du könntest das Lesen einfach mir überlassen. Ich kümmere mich um die Recherche, du redest mit den Menschen.«
Nein. Diese Erschöpfung halte ich kein zweites Mal aus, ich kann es nicht riskieren, die Menschen wiederherzustellen, um mit ihnen zu reden. Die Unterwelt zu teilen war unglaublich, ich hätte nie geglaubt, jemals so weit zu kommen – aber wenn es dort endet? Wenn ich das Nächste versuche und plötzlich nichts mehr funktioniert? Ich bin noch nicht bereit dafür, mein neu gefundenes Selbstbewusstsein wieder zu verlieren.
Also werfe ich Hades einen vernichtenden Blick zu, den ich ganz vielleicht sogar von ihm gelernt habe. »Nein, ich denke, das werde ich nicht tun.«
»Dein Vertrauen ist flatterhaft.«
»Verdien es dir und wir reden noch mal.«
Hades lacht und ausnahmsweise ist es ein wahres, echtes Lachen. Bei dem Geräusch läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken.
»Du verletzt mich«, sagt er, die Hand auf dem Herzen, als hätte ihn jemand erschossen.
»Gut.« Ich grinse.
Hades deutet auf mein Lächeln. »Das ist verunsichernd.«
Ich grinse noch breiter. »Haben sie dich ganz nach hier unten verbannt, weil du ein sarkastischer Phallus bist?«
»Interessant. War es das, was deine Mutter meinte, als sie deinen Verehrern von deiner so vollendeten Beherrschung der Sprache erzählte?«, fragt er.
Ich schnaube. »Oh, das ist garantiert eine Chiffre dafür, dass ich ein paar Gedichte auswendig kann und vor allem weiß, wann ich den Mund halten muss.«
»Den Mund halten? Wirklich?« Er tut überrascht.
Ich schnappe mir eine Traube vom Tisch und bewerfe ihn damit. »Arschloch«, sage ich entschlossen.
»Uh, daneben!« Er lacht, als die Traube auf dem Tisch abprallt. »Hoffen wir, dass deine Mutter nicht mit deinen Fähigkeiten im Traubenwerfen prahlt. Deine Verehrer werden umso erschütterter sein, wenn sie entdecken, dass du dich vom Markt genommen hast.«
»Ich fürchte, nur Dionysos wäre traurig darüber, weil ich ihn als Gott des Weines so gut ergänzt hätte«, sage ich mit einem ruhigen Lächeln, das nichts von meiner Panik verrät. Trauben werfen, Hades beleidigen, mit Styx plaudern – es geht mir viel zu gut in der Unterwelt.
Ich bin schon viel länger hier, als ich dachte – zu lange. Ich entspanne mich, obwohl ich eigentlich Angst kriegen sollte. Das Einzige, was meine Eltern so lange aufhalten kann, ist eine Flut von Angeboten für meine Hand – höchstwahrscheinlich die Art Angebot, die meinem Vater so schmeicheln, dass meine Mutter keinen Einfluss mehr auf ihn hat. Aber selbst wenn mich jeder Gott auf dem Olymp heiraten wollte, viel länger können sie nicht mehr um mich feilschen. Meine Eltern werden jetzt jeden Moment herausfinden, dass ich weg bin.
Und das wird alles kaputtmachen.