S tyx kommt rüber und wir verbringen den Abend unten am See in der Höhle. Es war ihre Idee, hier runterzugehen, aber ich kann die Angst nicht abschütteln. Ich habe den See viel zu lange benutzt, um meinen Eltern nachzuspionieren, und hier zu sitzen, macht mich unruhig.
»Das fühlt sich so merkwürdig an«, sagt sie. »Mein Fluss ist nicht gerade froh darüber, mit den anderen vermischt zu werden. Der Phlegethon ist so verschmutzt.« Sie zieht die Nase kraus.
»Wahrscheinlich brennt er deshalb.«
»Kann sein«, stimmt sie zu. »Hades meinte, du hättest den See der Fünf Flüsse nicht zum Besten genutzt?«
»Und das wäre?«
»Du hast Zugang zu einem ganzen Planeten voller Unterhaltung und du hast deine Eltern belauscht? Komm schon, Persephone .« Sie grinst. Von der Namensänderung war sie ziemlich begeistert. »In Athen findet gerade ein Fest für Dionysos statt. Und das heißt Theater.«
Styx fährt mit der Hand durch das Wasser und Schauspieler werden im See sichtbar.
Wir sitzen auf ein paar Decken und sehen uns die Vorstellung an. Das Stück ist ein bisschen merkwürdig – es fängt mit einem Netz über einem Haus an –, und ich blicke oft zu den Menschen im Publikum. Sie sehen so gebannt zu und freuen sich, und die wenigen, auf die das nicht zutrifft, scheinen ihre Unzufriedenheit zu genießen. Sie tuscheln mit ihren Nachbarn und setzen sich etwas aufrechter hin, erfüllt von der Überlegenheit, die ihre Verachtung ihnen verleiht. Theater – im Jenseits sollte es definitiv ein Theater geben.
Am Ende der Vorstellung drehe ich mich zu Styx um. »Hades hat gefragt, ob ich ihn heirate.«
»Wie bitte?«, stößt sie hervor. »Und du wartest einfach bis zum Ende des Stückes, um mir das zu sagen?«
»Er hat gesagt, wenn ich hierbleiben will und mir Sorgen mache, dass meine Eltern mich davon abhalten wollen, könnten wir heiraten. Dann könnten sie mich nicht zurück an die Oberfläche holen.«
»Oh, das ist so aufregend«, quietscht sie. »Wann geht es los?«
»Gar nicht«, sage ich. »Ich habe Nein gesagt.«
»Warum?«, fragt sie. »Du magst ihn. Er mag dich. Was willst du mehr?«
»Liebe?«, schlage ich vor. »Und ich ›mag‹ ihn nicht.«
Sie sieht mich nur an und ich schnaube spöttisch. »Ich habe keine Ahnung, was du mir unterstellen willst, aber es ist ganz sicher nicht wahr.«
»Ja, klar.«
»Außerdem«, sage ich etwas lauter, »würde ich gern heiraten wollen , bevor es passiert.«
»Ja, aber das klingt weniger nach einer Heirat als nach einem Trick, und du liebst Tricks.«
»Aber nicht so sehr, um deswegen gleich zu heiraten.«
Sie zuckt die Achseln und steht auf. »Egal, ich glaub trotzdem, wir sollten uns alle betrinken. Komm.«
Sie marschiert nach oben, und wir durchsuchen die leeren Räume des kalten Palasts, bis wir Hades an der Töpferscheibe finden, so auf seine Arbeit konzentriert, dass er gar nicht hört, wie wir eintreten.
»Ich hab daraus einen neuen Bodentyp gemacht.« Ich deute mit dem Kinn auf den Ton.
Er fährt zusammen, dann grinst er verlegen. »Wie war das Theater?«
»Du machst ihr einen Heiratsantrag, ohne vorher mit mir zu sprechen?«, fragt Styx.
Hades drückt vorsichtig eine letzte Linie in den Ton und sieht sie nicht einmal an. »Ich tue so einiges, ohne vorher mit dir zu sprechen.«
»Und wie vieles davon gelingt dir?«
»Das meiste.« Hades zuckt die Achseln.
»Ich kann verstehen, warum du ihn nicht heiraten willst«, sagt sie.
Ich nicke mit gespielter Traurigkeit. »Er macht mir nie genug Komplimente. Warum sollte ich ihn heiraten?«
»Ich hatte den Eindruck, deine Zurückweisung hatte weniger mit mir zu tun als mit deinen allgemeinen Ansichten über die Ehe.« Er trocknet sich die Hände an einem Handtuch ab.
»Na ja, schon. Ehe ist eklig.«
Hades zeigt auf mich. »Oh, mit diesem Argument kannst du deine Eltern ganz bestimmt überzeugen.«
Mein Lächeln wankt, und da er selbst aufhört zu lächeln, weiß ich, dass er es bemerkt hat.
»Nun, ob erfolgreich oder nicht, heute wurde ein Heiratsantrag gemacht, und darauf müssen wir anstoßen«, sagt Styx, die mein plötzliches Stimmungstief bei all ihrer Fröhlichkeit nicht bemerkt.
Hades zuckt die Achseln. »Meinetwegen. Ich denke, du weißt, wo der Weinkeller ist.«
Styx bekommt große Augen. »Entschuldige mal, du hast einen ganzen Keller für Wein, und ich höre jetzt zum ersten Mal davon?«
Hades schüttelt betrübt den Kopf. »Stimmt ja. Ich hatte ihn aus gutem Grund vor dir versteckt.«
»Du hast Geheimnisse vor deiner Geheimnisbewahrerin.« Sie zieht eine Schnute. »Das ist so gemein.«
»Genauso gemein, wie den Antrag eines Mannes abzulehnen, der dich nur glücklich machen will?« Er blickt sehnsüchtig in die Ferne und legt sich die Hand aufs Herz.
»Zeig mir erst, wo der Wein steht«, sage ich. »Heulen kannst du später.«
Den Rest des Abends trinken und feiern wir und lachen, bis ich Seitenstechen kriege. Irgendwann zeigt Hades uns sein Musikzimmer und bringt mir betrunken ein Ständchen, um mich zu überreden, ihn doch zu heiraten – was wahrscheinlich mehr Erfolgschancen hätte, wenn er gut darin wäre. Anscheinend liegt sein Talent so wenig in der Musik wie beim Sticken. Er hört erst auf, als Styx um verfaultes Obst zum Werfen bittet.
Am nächsten Morgen hämmert es in meinem Kopf wie nichts, was ich je zuvor gefühlt habe, und ich bin mir nicht sicher, ob es genug Wasser auf der Welt gibt, um meinen Durst zu löschen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich zu viel getrunken habe – aber nicht so viel.
Die Nymphen haben sich an diesem Morgen selbst übertroffen – neben den üblichen Früchten und dem Brot stehen buttriges Gebäck, lockere Eierspeisen, mit Honig glasiertes Fleisch und cremige Käsesorten, gesprenkelt mit Rosmarin und ganzen Knoblauchzehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier sitzen kann, ohne mich übergeben zu müssen. Einerseits will ich meinen Teller beladen und andererseits alles ins Feuer werfen.
Hades stöhnt und blickt in seinen Tee, als wäre es der See der Fünf Flüsse.
»Ich habe seit meiner ersten Zeit in diesem Reich nicht mehr so viel getrunken«, sagt er.
»Viel gefeiert, als du jünger warst?«, ziehe ich ihn auf, obwohl es befriedigender wäre, wenn wir nicht praktisch gleichaltrig wären und sich nicht alles drehen würde.
Er antwortet nicht, was ich auf die Wirkung des Alkohols schieben könnte, würde er nicht gleichzeitig meinem Blick ausweichen.
Jetzt bin ich interessiert.
»Was ist? Hat es was mit dem zu tun, was du wegen der Menschen versucht hast, als du hierherkamst? Du hast mal was erwähnt.«
»O Moiren, Persephone, reicht es nicht, dass ich einen Kater habe? Ausgerechnet darüber willst du mit mir sprechen? Vergiss es.« Er hebt die Tasse an die Lippen.
Ich zucke die Achseln und nehme den Wasserkrug. »Dann eben nicht.«
»Warum machst du das immer?«, fragt er und sieht mich mit kluger Neugier an.
»Was?«
»Eine sehr gezielte Frage stellen und dann einfach abwinken, wenn ich nicht antworten will?«
»Ich vertraue dir«, sage ich, als wäre das klar. »Wenn du nicht darüber reden willst, ist das deine Entscheidung – ich glaube dir, dass du einen guten Grund hast.«
Er denkt nach und sagt vorsichtig: »Ich hab einfach das Gefühl, dass man dir wirklich oft verboten hat, Fragen zu stellen.«
»Ich mache vieles, was meine Mutter nicht gut findet.« Aber meine Kehle wird eng und die Worte sind schwierig. Vielleicht hat er recht. Vielleicht widersetze ich mich den Lehren meiner Mutter nicht so sehr, wie ich denke.
»Du kannst mich alles fragen, Persephone.« Er sieht mich so intensiv an, dass ich mich in seinem Blick gefangen fühle. »Nur antworte ich vielleicht nicht immer.«
Ich nicke.
»Der Krieg«, sagt er einfach. »Der Krieg ist wahrscheinlich die Antwort auf alle Fragen, die du über mich hast. Wegen ihm hat nichts, was ich wegen der Menschen unternehmen wollte, funktioniert – ich konnte mich ihren schrecklichen Erinnerungen nicht nähern. Deshalb habe ich es eine Zeit lang mit Alkohol versucht. Ich wollte alles vergessen, was passiert ist, alles, was ich durchgemacht habe, alles, was ich selbst getan habe … nicht, dass es geklappt hätte. Nur die Albträume sind davon schlimmer geworden.«
Ich will etwas sagen, aber er wappnet sich und redet weiter. »Bestimmt hast du die Gerüchte gehört. Vor der letzten Schlacht – oder dem angeblichen ›Aufstand‹, wie Zeus ihn nannte – war ich anscheinend als ›Zeus’ größter Fehler‹ bekannt. Was kaum eine Überraschung ist, schließlich bin ich nicht wirklich fürs Schlachtfeld gemacht. Zuerst flüsterte man ›Wie konnte er ein Reich an ein Kind geben?‹, dann hieß es: ›Wie konnte er ein Reich an einen Jungen geben, der kein Blut sehen kann und ein Schwert hält, als hätte er Angst davor?‹ Die anderen konnten es in ihrer Jugend kaum erwarten, sich in die Schlacht zu stürzen. Aber ich fürchtete mich davor, als hätte ich geahnt, welche Narben der Krieg mir schließlich zufügen würde.« Er lacht ein wenig kleinlaut. »Mein ganzes Leben wurde ich für den Krieg ausgebildet und am Ende hat er mich trotzdem gebrochen.«
»Hades –«
»Jedenfalls habe ich andere Möglichkeiten gefunden, um mich von meinen Gedanken abzulenken«, fährt er fort. »Ein ganzes Dutzend andere Möglichkeiten, wie sich herausstellt. Die Erinnerungen sind nicht so ein Kampf, wenn ich mich in einem Projekt verliere. Also ist der Krieg wohl auch der Grund, weshalb ich gern etwas zu tun habe.«
Es ist ein sehr tiefgehendes Gespräch für diese Uhrzeit und einen so schlimmen Kater.
»Es tut mir leid«, sage ich.
»Was?« Er verzieht das Gesicht, holt den Blick aus der Entfernung zurück und sieht mich an.
»Dass du das durchmachen musstest.«
Hades schnaubt. »Das hat noch keiner zu mir gesagt. Zeus tut so, als hätten wir uns alle edel und mutig in den Kampf gegen die Titanen gestürzt.«
»Hast du das nicht?« Was war das denn sonst?
Hades denkt über die Frage nach. »Die Titanen waren abscheuliche Kreaturen – natürlich nicht alle, nicht die, die auf unserer Seite gekämpft haben. Aber was sie getan haben … Kronos, der alle tötete, die nicht seiner Meinung waren, und ihre Kinder verschlang, falls sie sich rächen wollten, sobald sie heranwuchsen? Und das ist nur die Spitze des Eisbergs ihrer furchtbaren Taten. Vielleicht war es wirklich edel und mutig, gegen sie zu kämpfen. Sicher hast du inzwischen verstanden, dass ich mich nicht wirklich mit Untoten ins Schlachtgetümmel gestürzt habe.«
»Eine Illusion.«
»Genau. Man braucht nur ein bisschen Rauch und Höllenfeuer, und schon glauben die Leute, dass du den Mut hast, zu töten. Wobei ich auch wirklich getötet habe … daher die Albträume. Bei einer ausreichend großen Armee von Untoten jedenfalls lassen sogar die Titanen ihre Schwerter fallen. Am Ende haben dann doch alle geglaubt, dass ich der Macht, die Zeus mir übergeben hat, würdig sei, obwohl es eine Lüge war.«
»Es war schlau. Und mutig.« Und schwierig – wie viel Macht muss er besitzen, eine so große Illusion zu erschaffen. Für eine Wiese brauche ich manchmal mehrere Tage.
»Es war dumm und riskant, und ich hatte Glück, dass ich nicht dabei draufgegangen bin. Damals war ich einfach verzweifelt. Ich bin mir nicht sicher, ob man eine edle Entscheidung treffen kann, wenn man keine andere Option hat. Die anderen waren alle so voller Kriegs- und Rachelust, sie leben das immer noch durch die Sterblichen aus. Ich nicht – ich habe gekämpft, weil ich keine Wahl hatte.«
»Kronos hat dich gefressen«, betone ich, um etwas Leichtigkeit ins Gespräch zu bringen.
»Das hat er.« Hades lächelt schwach.
»Hast du … ich meine, weiß Styx davon?«
»Nein«, sagt er ruhig. »Sie weiß, dass ich im Kampftraining eher schlecht war, aber sogar sie glaubt, ich hätte mit roher Gewalt gewonnen. Ich glaube, sie argwöhnt, dass ich mich nie ganz davon erholt habe – die Bediensteten haben schließlich geschworen, meine Geheimnisse zu bewahren. Darunter die schlaflosen Nächte und ein paar Wochen lang die leeren Weinflaschen.«
»Dann … hast du noch nie mit jemandem darüber geredet?«, frage ich. Ich fühle mich natürlich geehrt, mache mir aber auch Sorgen. Wenn ich die Erste bin, der er es je erzählt hat, muss ich angemessen reagieren, damit er sich unterstützt fühlt. Flüsse der Hölle, und wenn ich schon etwas falsch gemacht habe?
»Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen«, sagt er. »Es gibt einen Grund dafür, dass ich mich lieber ablenke.«
Ich nicke. Das kann ich machen. Und es ist ein so gewaltiges Geständnis – ich will ihn nicht gleich am Anfang zu sehr bedrängen. »Gut, mir hat nämlich jemand wirklich oft gesagt, wie sehr ich ihn ablenke«, sage ich.
Hades lächelt, aber er blickt in die Ferne, und ich frage mich, was er sieht. Nichts Gutes, wenn die tiefen Falten auf seiner Stirn als Hinweis gelten.
»Wenn du nicht über den Krieg reden willst, könnten wir vielleicht darüber reden, was für eine furchtbare Singstimme du hast? Meine Ohren werden sich vielleicht nie davon erholen.«
Es liegt wieder ein Funkeln in seinen Augen, als er erwidert: »Das ist wohl kaum meine Schuld. Deine Begleitung auf der Leier war haarsträubend. Wenn ich mich recht erinnere, hat selbst deine Mutter es nicht geschafft, Lügen über dein musikalisches Talent zu verbreiten, und bei allem anderen hat sie es perfekt hingekriegt.«
»Meine Mutter da reinzuziehen ist unter der Gürtellinie.«
»Du lehnst meinen Heiratsantrag ab und willst dann diskutieren, was unter der Gürtellinie ist …« Er schüttelt den Kopf, dann verzieht er das Gesicht. Wenn er auch nur halb so krasse Kopfschmerzen hat wie ich, werden sie von ruckartigen Bewegungen sicher nicht besser. »Ich hätte nie gedacht, dass du so grausam sein kannst.«
»Musst du ständig von deinem Antrag anfangen?«
»Tut mir leid. Es muss schwer für dich sein, so viel von meinem gebrochenen Herzen zu hören.«
»Wenn du so weitermachst, wird es nicht das einzige Körperteil bleiben, das gebrochen ist«, murmele ich, und Hades brüllt vor Lachen.
Ich könnte mich reinlegen in dieses Geräusch. Wirklich.
Kein Wunder, dass man es so selten hört. Will ich an die Schrecken denken, denen er ins Auge gesehen hat und über die er nicht einmal reden kann? Es reicht, dass ich mich auf die Suche nach dem Tartaros machen und jeden einzelnen Titanen in der Grube aufspüren will. Nur um sicherzugehen, dass sie so leiden, wie sie es verdienen.
Und ich frage mich auch, wie es sein muss, mitten im Krieg geboren und aufgezogen zu werden, um darin zu kämpfen. Von Kindheit an Agoge und Kampftraining, und in der Jugend wird er gezwungen, in die Schlacht zu ziehen? Warum? Weil er als Mann geboren wurde? Weil Kronos ihn auserwählt hat?
Ein Künstler, der zum Töten erzogen wurde. Ich will jedem Einzelnen wehtun, der an dieser Entscheidung beteiligt war. Und ich glaub, das würde ich auch, wenn ich könnte.
Vielleicht bin ich zu rachsüchtig.
Und dann sehe ich ihn lachen und es ist mir egal. Auf jeden Fall würde ich’s tun.
Nach dem Frühstück gehe ich direkt zu den Sterblichen.
Ich bahne mir einen Weg durch die Seelen, die ich schon geheilt habe. Sie stehen auf einer Asphodeloswiese herum, und ich spüre die Langeweile derer, die mir am nächsten sind. Es muss sich bald etwas verändern. Wenn ich – oder eher wenn Hades – nur herausfinden könnte wie. Ich konzentriere mich mehr darauf, was sie brauchen, während er nachliest, wie man es möglich machen kann.
Damaris, eine der ersten Seelen, die ich repariert habe, kommt zu mir.
»Persephone, Liebes, warum siehst du so furchtbar aus?«
Ihre Direktheit bringt mich zum Lachen. »Es ist nicht sehr nett, das zu sagen. Und – Persephone?«
»Styx war letzte Nacht noch ziemlich laut. Ich glaube, sie war betrunken.«
»So viel zur Geheimnisbewahrerin.«
»O nein, ist es ein Geheimnis?«
»Nein, aber sie hat es nur euch erzählt, oder?«
»Nun, ich bin mir nicht sicher, aber sie ist gleich danach an ihrem Ufer eingeschlafen, also glaube ich nicht, dass sie andere Götter getroffen hat.«
»Gut.« Ich nicke.
»Ich nehme an, du warst auch dabei?« Sie deutet auf mich, als würde alles vom zerknitterten Kleid bis zum ungekämmten Haar sagen, dass ich mich gestern Abend betrunken habe. Was, wie ich zugeben muss, korrekt ist. Wobei ich immer noch die zu Kleidern umfunktionierten Laken trage, die wirklich sehr leicht knittern, ich finde also nicht, dass ich oder mein Kater die ganze Schuld dafür bekommen sollten.
Ich nicke, aber bevor ich etwas sagen kann, läuft Larissa auf uns zu und ruft meinen Namen. Inzwischen haben wir uns so oft unterhalten, ich denke gar nicht mehr an jene erste Begegnung mit ihr. Stattdessen denke ich an die Dutzenden Geschichten, die sie mir erzählt hat – nur gute. Wobei ich die meisten schlechten natürlich schon kannte, nachdem ich ihre Erinnerungen gesehen hatte. Aber es hat funktioniert: Ich habe ihre Seele geheilt, und es hat ihr geholfen, zu den anderen Teilen ihres Ichs zurückzufinden.
»Persephone«, sagt sie. »Stimmt es, dass Hades dir einen Antrag gemacht hat?«
»Was?«, kreischt Damaris aufgeregt.
Ich ziehe eine Grimasse. Ich bin echt zu verkatert für so was.
»Wem hat Styx das noch erzählt?«, grummele ich.
»Oh, nur mir«, sagt Larissa. »Ach, und Cora, erinnerst du dich an sie? Die Prinzessin von Theben?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Komm schon«, sagt Damaris. »So kannst du sowieso nicht arbeiten. Das Jenseits kann einen Tag warten. Setzen wir uns einen Moment hin und du erzählst uns alles.«
Es ist furchtbar laut bei den Seelen. Sich etwas von ihnen zu entfernen klingt gut.
Damaris nimmt Larissas Hand. »Ich bin übrigens Damaris. Bäuerin aus Mykene und seit zehn Jahren tot. Du?«
Larissa sieht sie überrascht an und lacht. »So stellen wir uns also jetzt vor? Larissa, Händlerin aus Argos, seit dreißig Jahren tot. Ich glaube, es war die Pest, wenn wir das auch sagen.«
»Lungenentzündung.«
»Ah, wie ausgefallen.« Larissa dreht sich zu mir um. »Jedenfalls ist Styx umgekippt, und Cora – Ah, da ist sie ja! Cora!«
Eine Frau mit roten Locken, die so hoch auf ihrem Kopf aufgetürmt sind, dass es sie leicht aus dem Gleichgewicht bringen könnte, dreht sich bei ihrem Namen um und eilt zu uns.
»Cora und ich sind hingelaufen, um nachzusehen, ob es ihr gut geht, und da hat sie das über Hades gesagt«, endet Larissa. »Stimmt es also?«
»Ja, stimmt es?«, wiederholt Cora eindringlich die Frage.
»Äh.« Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll. »Wir haben darüber gesprochen. Es war kein Antrag.«
»Gut.« Damaris nickt. »Nimm niemals den ersten Antrag an.«
Cora nickt. »Wobei Hades sicher hinreißend ist.«
Die anderen sehen sie an.
»Der König der Hölle?«, fragt Larissa. »Ich glaube, ›hinreißend‹ ist nicht das Wort, das ich benutzen würde.«
Cora errötet, so gut ein Geist eben erröten kann. Die Seelen sind jetzt vielleicht heil, aber immer noch etwas durchscheinend. »Nun, ich wollte eigentlich sagen, dass ich nicht verstehe, was an einer Ehe so erstrebenswert sein soll. Egal wie hinreißend Hades ist.«
Ich nicke. »Genau das denke ich auch.«
»Ist er hinreißend?«, fragt Larissa, als wäre ihr der Gedanke eben erst gekommen.
»Äh.« Ich werde mein Zögern auf den Kater schieben. »Nein, es ist nicht das Wort, das ich wählen würde. Aber er ist … nicht schrecklich. Er hilft mir mit allem.«
»Nun, ich für meinen Teil freue mich auf das Paradies, das du erschaffst. Und wenn er uns hilft, dorthin zu gelangen, kann er nicht ganz schlecht sein«, sagt Damaris. »Aber du brauchst jetzt erst einmal Wasser und etwas zu essen.«
Mein Magen ist immer noch aufgewühlt. Ich habe beim Frühstück an einem Stück Brot geknabbert und es ist mir nicht gut bekommen. »Nein, nichts zu essen.«
Die Frauen grinsen schief. »Komm, suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen.«
Offensichtlich ist das Ufer der Styx ein ruhiges Plätzchen und nach einer Weile kommt Styx persönlich heraufgekrochen und setzt sich zu uns. Sie lacht über ihren erbärmlichen Zustand und macht so viele Witze über sich, dass die sterblichen Frauen sich bald entspannen. Wir plaudern den größten Teil des Tages über dies und das, und ich kann mir zwar nicht leisten, einen ganzen Tag so zu verschwenden, habe aber auch das Gefühl, die Menschen und ihre Wünsche und Bedürfnisse langsam besser zu verstehen.
Mehr als je zuvor fühle ich, dass ich dieses Reich besser machen kann. Und gleichzeitig scheint mir etwas zu entgleiten. Wie viel Zeit habe ich noch? Ein paar Tage? Stunden? Halb erwarte ich, jeden Moment von Vaters Blitz niedergestreckt zu werden.
Die ganze Zeit wusste ich, dass ich nicht in der Unterwelt bleiben kann, aber ich habe immer mehr das Gefühl, etwas Kostbares zu verlieren, wenn ich all das hier hinter mir lasse – vielleicht sogar einen Teil meiner selbst.